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Alt 26.08.2006, 18:01   #1
cheri noire
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 29


Standard Ein Schauermärchen

1. Kapitel - Das Mäusekind

Das Mäusekind

Während des Winters konnte sie ihren Plan nicht in die Tat umsetzen. Sie würde wohl oder übel bis Allerheiligen warten müssen. Danach, so wusste sie, würde es nämlich mit großer Wahrscheinlichkeit keinen Frost mehr geben. Ihr schmutziges Kleid aus grobem Wollstoff kratzte auf ihrer Haut, das Stroh kitzelte sie an den Füßen und stach ihr unangenehm in den Rücken. Sehnsüchtig starrte Rotkäppchen in den verschneiten Wald. Mit dem düsteren Eiswasser entschwanden auch ihre Gedanken und folgten dem Fluss, der sich zwischen kahlen Bäumen durch den dunklen Schiefer fraß. Angesichts der ständigen Gefahr in ihrer elterlichen Holzhütte erschien ihr die raue Natur jedoch wie der Inbegriff der Freiheit. Immer, wenn sie auch nur für einen Moment den durchdringenden Blicken ihrer Mutter entfliehen konnte, saß sie an dem kleinen Fenster auf dem Dachboden und versuchte sich das Dorf hinter den Berghängen vorzustellen. Dass um sie herum staubiges Holz vor sich hin gammelte und dann und wann eine Ratte vorbei huschte, störte sie wenig. Die kleinen Nager waren ihr wohlbekannt und sie teilte sich mit ihnen diese Zufluchtsstätte. Ihre Mutter hingegen hasste sie und wann immer sie eine sah, erschlug sie das arme Tier und warf es dem an Körper und Seele geschundenen Hofhund zum Fraß vor.

Ein kleiner Seufzer entrang sich ihr, doch ehe sie sich wieder nach unten machen konnte, verlangte ein heftiges Fiepen ihre Aufmerksamkeit. Mit gespitzten Ohren verfolgte sie das Geräusch und entdeckte in einer morschen Nische ein kleines Rattennest. Die winzigen, rosa Geschöpfe sahen ganz jämmerlich aus und ihr Herz verkrampfte sich, denn sofort musste sie an das Tier denken, das ihrer Mutter erst gestern zum Opfer fiel. Es hatte noch gezuckt, als der Hund es aus traurigen Augen ansah. Gerade als sie einen letzten mitleidigen Blick auf den umsonst geborenen Nachwuchs warf, hörte sie ihre Mutter von unten nach ihr rufen. Ihr Ton klang aufgeregt, fast schrill. Düstere Vorahnungen ergriffen sie. Lotte, die kleinste der vier Geschwister lag seit zweieinhalb Tagen im Fieber und der "Arzt" hatte es wegen des anhaltenden Schneefalls noch nicht geschafft zu ihrer Hütte zu gelangen. Im letzten Winter hatte ihr Vater nicht soviel zu tun gehabt wie sonst. Die Nächte in denen sie sein schweres Stöhnen und das unterdrückte Wimmern ihrer Mutter wahrgenommen hatte, waren entsprechend oft vorgekommen.

Unten angekommen sah sie ihre zwei jüngeren Geschwister die einfache Holzwiege anstarren, in der schon Rotkäppchen selbst als winziges Bündel gelegen hatte, so wie ein Brüderchen vor und eines mit ihr. Beide waren über Lottes Alter nicht hinaus gekommen. Ihre Mutter indessen kniete mit verzerrtem Gesicht auf dem eben gefegten Boden. In ihren Armen hielt sie ein kleines Etwas, das gar nicht nach ihrer Schwester aussah. Es war ganz schlaff und begann bläulich zu werden. In der Hütte waren es zu dieser Jahreszeit selten mehr als fünfzehn Grad. Da sie die Älteste war und ihre Geschwister in der Regel bei ihr Trost suchten, ergriff sie Maries Arm und fuhr sie an, den vierjährigen Hans nach oben zu bringen, derweil sie selbst zur Mutter schritt, ganz langsam zunächst, denn diesen Moment erlebte sie nicht zum ersten Mal. Ihre grausige Furcht vor dem leblosen Geschwisterchen überwindend, berührte sie die Schultern ihrer bereits gealterten Mutter (dabei war sie gerade mal 38 geworden im letzten Sommer). Mit weit aufgerissenem Mund starrte sie diese aus fast wahnsinnigen Augen an. Sie wusste, dass ihr nun selbst die schreckliche Pflicht oblag, den toten Säugling nach draußen zu bringen und, da der Boden gefroren war... - aber so weit wollte sie nicht denken..

Vor drei Jahren hatte dies ihre Tante übernommen, die wegen der Geburt noch im Haus gewesen war und ihren Zwillingsbruder hatte ihr Vater nach draußen gebracht. Eine andere Bezeichnung dafür gab es nicht. Draußen - das war der gefährliche Fluss und der noch gefährlichere Wald, der Ort, an dem man starb oder hingebracht wurde, wenn man eines der vielen erbarmungswürdigen Geschöpfe war (so hatte sich einmal der einzige Pfarrer ausgedrückt, den Rotkäppchen je gesehen hatte), die das Laufalter nicht erreichten. Während sie, das leblose Bündel in den Armen, den kleinen Hang hinter der Hütte erklomm, gefror ihr das Herz und machte Platz für einen Hass, der sie noch lange begleiten sollte, denn sie war alt genug gewesen zu begreifen, was ihre Mutter meinte, als sie vor zwei Jahren ihren Vater angefleht hatte, sie in Ruhe zu lassen - drei Kinder wären genug. Sie begriff auch, dass all die Schmerzen und Mühen der letzten Geburt umsonst gewesen waren, denn so kläglich das Schicksal ihrer Familie auch war, die kleine Lotte hatte, besonders seit sie Rotkäppchen ihr erstes Lächeln geschenkte hatte, ein wenig Freude in ihr aller Leben gebracht. Bei diesen Gedanken traten ihr die Tränen in die Augen, doch sie wischte sie schnell fort, denn ein falscher Tritt auf dem vereisten Pfad und sie würde den Hang zu ihrer Rechten hinab stürzen.

Mit durchnässtem Schuhwerk und klammen Kleidchen erreichte sie die Hütte, bevor ihr Vater wieder da war. Aus Angst ihre traurige Last nicht weit genug fort zu schaffen, war sie bis tief in den Wald vorgedrungen und für einen kurzen Moment hatte sie sich gewünscht, der Wolf, der ihr bereits ein ganzes Stück gefolgt war, möge auch sie mitnehmen. Solche Gedanken kamen Rotkäppchen in letzter Zeit öfters.

Weicher Mondesschein, der silbrig glänzend sich an Eiskristallen bricht.
Märchen und Sagen flüstern ihre Versprechen.
Hör genau hin - der Wind, der durch die Wälder rauscht,
hat Zauber in sich.

2. Kapitel

Selbstvergessen, wie es nur kleine Kinder können, erfreute sich Hans an der schlammigen Erde, die sich zwischen seinen Händen immer wieder zu größeren Brocken formte und auseinander fiel. Quittiert wurde dieses Wunder der Natur jedes Mal von einem glücklichen Jauchzen. Rotkäppchen war in Gedanken wie immer weit weg. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass der plötzliche Frühlingseinbruch anhalten möge. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis, während sie der Mutter beim Holz machen half. Es war bereits April und nichts schien sich verändert zu haben, zumindest nicht äußerlich. Der Drang ihrem trostlosen Käfig zu entfliehen war während der letzten Wintermonate dermaßen erstarkt, dass es in ihrem Kopf keinen Platz mehr für andere Dinge gab. Es fiel ihr sogar schwer den Schein alltäglicher Gleichgültigkeit zu wahren. Sie merkte auch nicht, wie ihre Mutter immer wieder aus den Augenwinkeln zu ihr hinüber schaute. Der in die Ferne gerichtete Blick ihrer Tochter entging ihr keineswegs. Wie von einer unbestimmten Sehnsucht schien sie seit dem letzten Winter befallen zu sein. Manchmal dachte sie, es wäre die Erinnerung an Lotte. Dieser Tag war für sie zwar mit dicken, selbstgewebten Waden durchzogen, aber sie wusste, wer die traurige Pflicht für sie übernommen hatte. Für ein Mädchen ihres Alters war es nicht ungewöhnlich, dennoch erfüllte es die Mutter mit Respekt vor dem eigenen Kind. Und auch mit Liebe.

Erste Frühlingszwiebeln, ein paar Kartoffeln und eine Hand voll zerstoßener Kräuter deckten den Tisch zum Mittag. Lustlos stocherte die Älteste darin herum, bis ihre Mutter sie gemahnte, die Speisen, die ihnen der Allmächtige Vater schenkte, nicht zu verschwenden. Sie hat Recht, dachte Rotkäppchen, ich werde jeden Vorrat an Kräften brauchen, wenn ich fliehen will.

- Kommentare äußerst erwünscht -
cheri noire ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.08.2006, 18:32   #2
Appelschnut
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 279


Hallo cheri,
da ist dir mal wieder etwas sehr Schönes gelungen! Du beschreibst sehr schön, so dass man sich genau in die Situationen hereinfühlen kann. Dabei entwickeln sich lobenswerterweise keine Längen! Ich habe kürzlich ein Buch gelesen, in dem es um das Leben einer Frau im mittelalterlichen England geht. Du schreibst im gleichen Stil wie dieses Buch ist...
Auch das Bild "Rotkäppchen und der Wolf im Wald" ist natürlich sehr eingänglich und erinnert mich an die Märchengeschichten aus der Kindheit.

Kopfzerbrechen bereitet mir die Überschrift "Ein Schauermächen". Du meinst doch sicherlich "Schauermärchen", oder nicht?
Dann habe ich noch ein paar kleine Fehler zu korrigieren:

Zitat:
Sie wusste, dass ihr nun selbst die schreckliche Pflicht oblag, den toten Säugling nach draußen zu bringen und, da der Boden gefroren war, aber so weit wollte sie nicht denken.
Dieser Satz macht so keinen Sinn! Du hast, glaube ich, irgendeinen Nebensatz vergessen...


Zitat:
der Ort, an dem man starb
Das Komma fehlt...


Zitat:
Während sie, das leblose Bündel in den Armen, den kleinen Hang hinter der Hütte erklomm
Das ist eine Apposition und da steht Komma...

Zitat:
Der Drang, ihrem trostlosen Käfig zu entfliehen, war während der letzten Wintermonate dermaßen erstarkt,
Komma bei Infinitiven mit zu können gesetzt werden, müssen nur in Sonderfällen da sein. Ich persönlich setze immer Kommas bei solchen Infinitiven, weil es den Satz übersichtlicher gliedert und ich so nicht den Sonderfall kennen muss...


Ich hoffe, ich dir ein bisschen geholfen. Bin schon gespannt wie es weiter geht.
Die allerbesten Grüße

P.S.:
Zitat:
Weicher Mondesschein, der silbrig glänzend sich an Eiskristallen bricht.
Märchen und Sagen flüstern ihre Versprechen.
Hör genau hin - der Wind, der durch die Wälder rauscht,
hat Zauber in sich.
Meine Lieblingsphrase. Schöne Idee, als Abschluss des ersten Kapitels so etwas zu schreiben...
Appelschnut ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.08.2006, 10:21   #3
cheri noire
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 29


Standard Danke!

Hab die Kommas jetzt gesetzt (aber bei dem Satz mit dem Infinitiv, finde ich, zerstückelt es den Satz nur ; ) - und ja - natürlich soll es SchauermäRchen heißen!

Was den "vergessenen" Nebensatz angeht - ich hab jetzt punkte und einen gedankenstrich benutzt, denn in dem Satz fehlt tatsächlich etwas - aber ich dachte mir, ich lasse es unausgesprochen.

Ich meine, überleg doch mal, es ist Winter, der Boden ist gefroren - ergo kann der kleine Leichnam nicht beerdigt werden - deswegeni muss sie ihn auch ein ganzes stück weit weg von der Hütte schaffen - damit er keine Raubtiere anzieht - an was sie nicht denken will, ist, dass ihre kleine Schwester höchstwahrscheinlich das Frühstück irgendeines Wolfes oder Wildschweins wird - der Fantasie sind da keine Grenzen gesezt...

Weißt wie?

Und danke für die Korrekturen!
cheri noire ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 27.08.2006, 15:24   #4
Appelschnut
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 279


Aha, jetzt verstehe ich, wie du es meinst! Und so ist es auch ganz logisch, das ganze an dieser Stelle so zu schreiben!
Appelschnut ist offline   Mit Zitat antworten
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