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Alt 23.09.2014, 20:46   #1
männlich Thodd
 
Dabei seit: 09/2013
Ort: Landkreis Cuxhaven, Halbtags in Mittelerde
Alter: 26
Beiträge: 61


Standard Die Autorenrunde - Bisherige Zusammenfassung

Die Autorenrunde

Kapitel 1

Gary blickte aus dem Fenster.
Der erste Schneefall dieses Jahr hatte das gesamte Land bereits mit einer weißen Pracht überzogen. In der Ferne konnte er die Kinder sehen, wie sie sich gegenseitig mit dem Schlitten zogen oder wie sie auf dem See mit ihren Schlittschuhen ihre Kreise zogen.
Er liebte den Winter. Es war die Zeit, in der man gemütlich vor dem Kamin saß, mit einem Scotch und einer alten Holzpfeife, während man leiser Musik lauschte- vorzugsweise Wiener Klassik- und ein Buch las oder an seinem letzten Manuskript feilte. Er liebte den Winter auch, weil er zu der Jahreszeit am besten schreiben konnte. Sein neuester Roman war fast fertig, er würde später mit den anderen an den letzten Zeilen arbeiten. Die anderen..

Seine Freunde kamen jeden Winter. Immer Donnerstags trafen sie sich in der Lobby von Garys altem Landhaus, 2 Meilen westlich von Boston. Sie saßen dann an einem runden Tisch direkt neben dem Kamin und erzählten von ihren letzten Geschichten. Das war es, was seine Freunde so besonders machte: Sie alle waren Schriftsteller.

Ein letzter langer Blick aus dem von Schneeflocken getrübtem Fenster, dann drehte Gary sich um.

John und Percy saßen in ihren Sesseln, die Pfeifen bereits gestopft, den angenippten Scotch in der Hand.

"Ihr kommt wie immer lautlos.", sprach Gary mit gespielter Überraschung in seiner Stimme. "Oder du warst mal wieder taub, alter Freund!", konterte John und sie lachten.
"Irgendwelche Musikwünsche, die Herren?"
"Die fünfte Symphonie wäre schön."
Gary wusste es bereits vorher, Percy wollte jeden Donnerstag Beethoven hören.
"Es hilft meiner Inspiration, dem raschen auf und ab und dem Wechsel zwischen Piano und Fortissimo zu lauschen", pflegte Percy zu sagen, womit er Recht hatte. Auch Gary fand, dass wahre Kreativität nur mithilfe von Klassik erreicht werden konnte.

Gordon kam zur Tür herein.
"Guten Abend, meine Freunde! Ich habe eine Flasche Jim Beam mitgebracht." Wie jedes Mal, dachte sich Gary, bedankte sich aber freundlich.
Sie waren schon komische Freunde, kamen, ohne dass man sie hörte, und gingen noch leiser. Jede Woche brachte Gordon die gleiche Flasche Whisky mit, und jede Woche wollte Percy das gleiche Lied hören. John konterte auch immer auf die gleiche Weise. Die drei unterhielten sich eine Weile, und Gary ließ den Blick durch die Lobby schweifen.
Er liebte dieses Haus. Seit er aus Portland hergezogen war, flog der Stift wie von selbst übers Papier, noch nie hatte er eine solche Kreativität bei sich gesehen. Er ließ den Blick über den Kamin schweifen, in dem knisternd das Fichtenholz verbrannte, was er im letzten Sommer selber geschlagen hatte. Wie lieblich war doch das Geräusch der knackenden Hitze und wie lieblich war doch der Duft der verbrennenden Scheite. In diesem leuchtenden Viereck, von rotbraunen Backsteinen umrahmt, glaube er, Himmel und Hölle zugleich zu erkennen. Über dem Kamin hing ein riesiger ausgestopfter Hirschkopf. Gary selbst war kein Jäger, der Kopf hing schon über dem Kamin, als er eingezogen war. Manchmal überkam ihn das Gefühl, der Hirschkopf war schon da, bevor überhaupt das Haus gebaut wurde. In diesen Momenten schienen die leeren tiefschwarzen Augen ihn zu verfolgen und jeden seiner Schritte zu beobachten. Umso lieber war ihm die Gesellschaft von Percy, Gordon und John.

In diesem Moment wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Die Tür flog auf, herein kam Lester.
"Entschuldigt die Verspätung, meine Frau hat später gekocht, und ich musste mit dem Rad fahren, weil meine älteste mit dem Combi in die Stadt gefahren ist." Wie jedes Mal.

"Nun komm schon, setz dich hin und stopf deine Pfeife, wir wollen endlich anfangen!", raunte Percy ungeduldig.
"Schon gut, schon gut, ich komm ja schon." , antwortete Lester. Sie setzten sich auf ihre Plätze und zündeten ihre Pfeifen an, als John begann, zu sprechen.

"Nun Gary, du wolltest uns doch an deinem letzten Kapitel teilhaben lassen. Wie sieht es aus? Komm schon, lies es vor!"

Auszug aus "Klassik und Moderne" von Gary Winster

Jeffrey stürmte ins Zimmer.

Ein schwaches Licht ging von einer fast vollständig heruntergebrannten Kerze aus, die auf dem Kaminsims stand. Über diesem alten Kamin, welchen er auf zweihundert Jahre schätzte, hing ein Portrait von Joseph Haydn, welcher mit seinen zeitlosen Augen starr auf den Tisch in der Mitte des Raumes zu blicken schien.

(Essen um sechs, eine tote Frau, und Haydn schaut zu)
schoss es ihm durch den Kopf. Der Gedanke schien ihm so absurd, dass er beinahe laut losgelacht hätte.
(Reiß dich zusammen, es gibt nichts zu lachen!)

Er ließ den Blick weiter schweifen und bemerkte, dass das einzige Fenster im Raum, ein altes, viereckiges Fenster mit einem Rahmen, der das Fenster in vier Quadrate aufteilte, ein Stück weit geöffnet war. Ein kalter Herbstwind ließ den Vorhang ein Stück zur Seite wehen und es schien kaltes Mondlicht ins Zimmer. Er folgte dem Lichtstrahl, der auf den Boden fiel, und plötzlich bemerkte er etwas, was man im Kerzenschein nicht sehen konnte. Ihm stockte der Atem. Zwischen dem alten Schaukelstuhl und dem viereckigen Tisch war ein weißer, schlanker Arm zu sehen.

Langsam ging Jeffrey um den Tisch herum, bis er den gesamten Körper erkennen konnte. Vor ihm lag die tote Miss Benson, die Brust durchstoßen von dem alten Zeremonienschwert, welches von seinem eigentlichen Platz auf dem Kaminsims entwendet worden war. Ihre Augen waren geöffnet, in ihnen war pures Entsetzen zu erkennen.

"Scheiße, zu spät." fluchte er.
Er überlegte. Sie konnte noch nicht lange tot sein, die Kerze brannte schließlich noch. Erst jetzt realisierte er, dass der Plattenspieler noch lief, die sanfte Trauer der Mondscheinsonate war zu hören.
"Wie passend." drang es ihm aus der Kehle.
Er kramte in seiner Tasche, holte sein Handy und eine Chesterfield heraus.
Während er sich die Zigarette anzündete, wählte er die Privatnummer des Scotland Yard-Büros in Edinburgh.

"Was gibts?" Erklang es am anderen Ende der Leitung.
"Bill, Jeffrey hier. Schick die Spurensicherung und ein paar Beamte zum Benson Anwesen. Die alte Miss wurde ermordet."
"Ach du heilige.. Ich werde sofort alle verfügbaren Kollegen hinschicken. Hast du schon eine Spur?"
"Ich bin gerade dabei, ihr zu folgen. Ich muss jetzt auflegen."
"Viel Glück!"

Jeffrey steckte das Handy in die Tasche, schnipste die Zigarette aus dem Fenster und machte sich auf den Weg. Er hatte da so eine Vermutung, wer es gewesen sein konnte...


Gary blickte auf.
Die anderen saßen in Gedanken vertieft in ihren Sesseln, den Mund nur für gelegentliche kleine Rauchwölkchen geöffnet. Die Stille im Raum wurde nur durch das Prasseln und Knacken des Kaminfeuers unterbrochen. Der Scotch stand vergessen auf dem Tisch, während die 5. Symphonie langsam ausklang.
So saßen sie eine Weile, bis Percy schließlich das Wort nahm:
"Nun, Gary, nicht schlecht. Nein, ganz und gar nicht schlecht. Aber du solltest doch langsam wissen, dass Haydn nicht in eine solche Szene passt. Ein Portrait von Bach oder Beethoven hätte eine bessere Wirkung."
"War ja klar, dass das wieder deine einzige Sorge ist!", sprach Lester. "Ich finde es gut geschrieben, nur solltest du am Ende der Szene noch erwähnen, welchen Ort der Protagonist als nächstes aufsuchen wird. Das lässt es noch ein wenig spannender werden, finde ich."
Gary war sich da nicht so sicher. Er liebte es, mit den anderen über Literatur zu diskutieren, aber Kritik war wahrlich nicht das, was er gerne hörte. Er war nunmal ein Sturkopf. Nachdem sie noch eine Weile schweigend Löcher in die Luft geguckt hatten, stand Gary auf und ging zum Plattenspieler, welcher direkt vor der schönen Täfelung gegenüber des Kamins stand, um eine neue Platte aufzulegen. Er wählte "Für Elise"....






Dunkelheit ergriff Besitz im Raum, das Feuer war fast heruntergebrannt. Gary blickte aus dem Fenster. Gerade zuvor hatte sich Gordon verabschiedet und war somit als letzter gegangen. Draußen konnte man in der Dunkelheit gerade so den rötlichen Lichtschein der Straßenlaterne vor seinem Zauntor sehen, der Rest war in Schwärze gehüllt. Ein Kreis aus langsam rieselnden Schneeflocken war im Schein der Laterne zu sehen. Gary schaffte es schließlich, den Blick von der Laterne zu lösen und drehte sich um. Das Feuer war nun nur noch ein Rest glühende Asche, welche es gerade noch schaffte, einen Teil des Hirschkopfs zur erleuchten. In der Dunkelheit sah er bedrohlich aus, geradezu angriffsbereit. Gary wollte nicht länger mit dem Kopf allein sein, also verließ er das Zimmer, schlenderte die Treppe hoch und betrat sein Schlafzimmer, durch eine dunkelbraune Holztür, die zweite rechts.
Wenige Minuten später lag er im Bett und schlief ein...






Er wachte in seinem Wohnzimmer auf. Das Feuer glühte immer noch ein wenig. Die Laterne war aus, nur der trübe Mondschein kam durch das leicht geöffnete Fenster herein. Er blickte auf den gerade erleuchteten Tisch. Jeder einzelne Platz war mit einem gefüllten Scotch und einer gestopften Pfeife bestückt, die Sessel jedoch waren leer. Er glaubte, ein Lachen zu hören und drehte sich schnell um. Er sah niemanden, nur den Hirschkopf. Doch dann, der Hirschkopf sah in direkt an, die Augen von der letzten Glut rot erleuchtet. Er schien zu grinsen. Pures Entsetzen packte Gary, kalter Angstschweiß kroch ihm aus den Poren. Er stürzte so schnell er konnte, aus dem Zimmer. Auf dem Flur angekommen, wurde er von einem Windzug und einem kalten, grausamen Lachen verfolgt. Er stürmte die Treppe hoch, rechts entlang- Tür eins: Bad, Tür zwei: Schlafzimmer- er wollte stoppen, doch irgendetwas ließ ihn stolpern- oder packte seinen Fuß- und er fiel zu Boden. So schnell er konnte, rappelte er sich wieder auf. Stand er vor Zimmer zwei, oder war er schon zu weit? Er wusste es nicht. In diesem Moment spürte er eine kalte Präsenz im Nacken, sodass er, ohne zu zögern, die Tür aufriss, hineinstürmte und sie hinter sich verschloss. Er drehte sich wieder um, sodass er in die Mitte des Zimmers blickte. Es war nicht sein Schlafzimmer. In der einen Ecke des Raumes lehnte ein großer Plüschteddy an der Wand, auf der anderen Seite ein rosa Einzelbett, neben einem Rucksack und einem Kleiderschrank. Durch das ebenfalls rosa Fenster fiel ein einziger Lichtschein, direkt in die Mitte des Raumes. Als er seine Augen nach oben richtete, weiteten sie sich vor Entsetzen. In der Mitte des Zimmers hing, am Dachbalken festgebunden, ein weiblicher Körper an einem Strick neben einem umgekippten Stuhl, die Augen wach, hämisch auf ihn gerichtet, mit einem Grinsen im Gesicht. Er hörte noch, wie unten der Höhepunkt der 5. Symphonie erklang, spürte, wie ein Tropfen Blut auf seiner Wange landete, dann schnellte er hoch...

Er war schweißgebadet. Aufgeweckt hatte ihn ein lautes Geräusch, das Knallen der Wohnzimmertür. Unten lief die 5. Symphonie, unverkennbar, begleitet von einem leisen Lachen, welches langsam in seinem Kopf verklang. Der Morgen dämmerte.

Gary stand in der Küche, vor sich auf dem Tresen ein Glas, bis an den Rand gefüllt mit Jim Beam, eben dem Jim Beam, den Gordon jeden Donnerstag mitbrachte. Man würde an dieser Stelle gerne lügen und sagen, dass es ein normales Scotchglas war, aber leider war es ein Riesenglas, ein einziger verdammter Longdrink, bis oben hin gefüllt mit Jim Beam. Einen normalen Mann hätte dieser Drink für die nächsten acht Stunden umgehauen, aber Gary hatte sich mit den Jahren so trainiert, dass es gerade reichte, um ihn schwankend in seinen Sessel zu schicken, wo er dann eine Lucky Strike zu rauchen pflegte - Pfeife rauchte er nur Donnerstags mit den anderen zusammen.

"Bourbon", murmelte er. "Ein viel zu schönes Wort für ein so ekliges Gesöff."
Seinen Zweck erfüllt es jedoch, dachte er bei sich und musste schmunzeln. Er atmete einige Male tief ein und aus, gönnte sich einen tiefen Zug seiner Zigarette und spürte, wie die Beklemmung und die Panik des Alptraums langsam von ihm abfielen. Noch ein paar Minuten still sitzen und den Anblick des ersten Tageslichts beobachten, dann konnte er wieder schlafen, so war es immer. Als er so still und gedankenverloren aus dem Fenster blickte, sah er, wie in der Ferne auf der Straße ein himmelblauer Cadillac, der durch die ersten Sonnenstrahlen gespenstisch glitzerte, vorbeifuhr.


"Guten Morgen Boston, chaotischste und gleichzeitig schönste Stadt in ganz Neuengland! Es ist sonnig und kalt heute und ihr hört Mix104.1 WBMX, die großen Oldies und das beste, was die Popmusik zu bieten hat! Es ist 7:54 Uhr und in sechs Minuten werden die Nachrichten von der liebreizenden Beverly Brooks präsentiert. Am Mikro euer Lieblingssprecher und -DJ Rob! Für alle zum wach werden jetzt It's All Right von The Impressions - man, waren das noch Zeiten."

Rick nahm einen großen Schluck aus seinem Kaffeebecher, bevor er ihn zurück in die dafür vorgesehene Halterung seines Cadillacs stellte. Er griff in seine Brusttasche und nahm sich eine Zigarette aus seiner blauen Pall Mall-Schachtel. Er zündete sie sich mit einem Streichholz an, welches er danach auf die Straße warf. Er blies den hellen Rauch in die kühle Morgenluft und warf einen Blick nach rechts. Ein großes, altes Haus, etwas vernachlässigt, aber nichts auffälliges.

Er war Journalist. Zumindest noch eine Weile. Sein Chef hatte ihm letzte Woche ein Ultimatum gestellt: Wenn er nicht bald wieder eine große Story schrieb, würde er fliegen. Seitdem war er auf der Suche, die Morde kamen ihm da gerade Recht. Ein Serienmörder ginge um, Männer und Frauen seien gleichwertige Ziele für ihn. Alle Morde verschieden voneinander, mit nur einer Übereinstimmung: Jedem Opfer fehlte der kleine Finger der rechten Hand.
Die Polizei tappte im Dunkeln, an keinem Tatort waren Spuren gefunden worden. Rick sah es als eine Chance und fuhr Tag und Nacht mit nur wenigen Pausen zum Schlafen durch Massachusetts, in der Hoffnung, irgendwo eine Spur und damit eine Story zu finden, um seinen Job zu retten. Bisher keine Erfolge, nur enorme Benzinkosten und dutzende von Dollars für Kaffee und Pall Mall Blue-Päckchen.

Es war ihm egal, wie lange er brauchen würde, um etwas zu finden, im Grunde war ihm außer seiner Arbeit alles egal, seit Carol ihn verlassen hatte. Das Flittchen war mit einem Elvis-Verschnitt in einem Ford durchgebrannt, aber nicht, bevor sie noch die fünftausend Dollar aus seinem Versteck unter der dritten Badezimmerfliese auf der rechten Seite - von der Tür aus gesehen - eingesteckt hatte. Seit er an diesem Tag - einem Dienstag vor zehn Wochen - nach Hause kam und seinen Verlust erkannte, hatte er immer seine Magnum im Handschuhfach seines Cadillacs dabei, in der Hoffnung, diese Ausgeburt der siebten Hölle während seiner Fahrten zu sehen. Er war ein netter Mensch, kein Perverser, und ganz besonders kein Mörder. Aber für sie würde er zu einem werden...

Die Straße unter seinen Rädern floss dahin und war durch seine Geschwindigkeit - er war weit über den erlaubten sechzig - nur verschwommen zu erkennen.
Gleicht sowieso eine Straße der anderen, alles ein einziger, riesengroßer Streifen Scheiße in Form von Beton.

Das alte Haus war inzwischen fast vollständig in seinem Rückspiegel verschwunden. Rick starrte jetzt genervt nach vorne, in einiger Entfernung auf der Gegenfahrbahn war ein hässlicher, brauner Ford zu sehen. Er machte sich keine großen Hoffnungen, trotzdem sah er genau hin und wünschte sich, durch die Frontscheibe eine übertrieben gestylte Fünfzigerfrisur am Lenkrad und gelockte rostbraune Haare auf dem Beifahrersitz zu erkennen. Diese Hoffnung war zerschlagen, sobald er sah, dass es sich bei dem Fahrer um eine alte Dame mit einer übertriebenen grauen Dauerwelle und einer Brille aus den Fünfzigern handelte. Er war gerade dabei, sich wieder zu entspannen, eine Hand am Lenkrad, mit der anderen zum Kaffeebecher greifend, als ein Mann mittleren Alters, der entweder übermütig oder einfach spät dran war, in einem europäischen Auto - Rick glaubte, einen Renault zu erkennen - zum Überholen ansetzte.

"Das wird wohl nichts.", sagte sich Rick, und auch der Mann schien es zu erkennen, aber anstatt sich wieder einzuordnen, beschleunigte er.
"Oh Scheiße!", entfuhr es Rick, und er machte eine Vollbremsung, wobei sich der Inhalt seines Kaffees über die Polster verschüttete und auch seine Hand ein wenig verbrühte. Er kam ins Schlingern, versuchte - trotz seiner übel schmerzenden Hand - mit beiden Händen am Lenkrad, auf der Spur zu bleiben, und irgendwie gelang es ihm. Der andere Mann bremste nun ebenfalls und versuchte, seinen Wagen so herumzureißen, dass er zwischen dem Ford und dem Cadillac hindurchschlitterte. Die Angst und der Schock waren ihm ins Gesicht geschrieben, aber irgendwie schaffte er es, wenn auch nur mit wenigen Zentimetern Abstand zur linken Frontlampe des Cadillacs.
Meines Cadillacs! Meines verdammten neunundsechziger Cadillacs!
"Du gottverdammtes scheiß Arschloch! Dich krieg ich und schlage dir jeden Zahn einzeln aus, du Riesenarsch!"
Seine Flüche gingen noch weiter so, aber der Mann in seinem Renault war schon weit weg, bevor die arme alte Dame überhaupt wusste, was gerade geschehen war.
Einen Augenblick lang schätzte Rick die Entfernung ein und dachte an seine Magnum, aber dann besann er sich eines besseren.
"Diese Waffe verdient er nicht, die ist nur für eine einzige, bestimmte Person.", murmelte er vor sich hin.

It's All Right von The Impressions war inzwischen zuende (Richtig so, denn nach diesem Schock war nichts in Ordnung) und die unverkennbare Musik der Acht-Uhr-Nachrichten kündigte sich an.

"So Leute, es folgen nun die Nachrichten, oh Beverly du siehst heute wieder bezaubernd aus!"
"Danke Rob, du schmeichelst mir", verkündete die kokett klingende Stimme der liebreizenden Beverly, die man allerdings noch nie zu Gesicht bekommen hatte.
"Immer wieder gerne, meine Liebe! Was hast du denn heute so zu berichten, Honey?"
Heuchler,dachte Rick bei sich.Nach der Arbeit trinken die doch höchstens noch einen Kaffee zusammen, und gehen dann heim zu ihren Familien, wo sie einander bis zum Beginn der nächsten Schicht vollkommen vergessen.
"Leider nichts gutes, Rob. Es wurden wieder neue Opfer des kranken Serienkillers gefunden." Jetzt wurde Rick aufmerksam, den Tatort wollte er sich mal genauer ansehen.
"Vier Leichen wurden vor wenigen Stunden direkt am Ufer des Muddy River beim Clemente Field gefunden, unter ihnen sogar ein siebenjähriges Mädchen. Besonders das Mädchen war aufs übelste verstümmelt, aber wieder fehlte allen Opfern der kleine Finger der rechten Hand. Damit ist die Zahl der Todesopfer nun schon auf dreiundfünfzig angestiegen! Dieser Winter ist nicht nur kalt, sondern auch blutig. Wenn Sie irgendetwas gesehen haben oder einen Hinweis haben, dann melden Sie sich bitte umgehend bei dem Boston Police Department, es könnte helfen, diese grausame Metzelei zu stoppen!"

Rick schaltete aus, das reichte ihm. Über die neuesten schlechten Scherze der Politiker oder über den Buchklub-Wettbewerb brauchte er nichts zu hören.
"Na dann, auf zum Clemente Field! Hoffentlich läuft der kranke Wichser mir direkt in die Arme.", murmelte er. Er hatte keinen Kaffee mehr, seine Hand schmerzte und seine Zigaretten waren leer, aber trotzdem lächelte er, denn nun hatte er wieder ein Ziel vor Augen.
"Den Wichser krieg ich, und so Gott will, auch noch das Flittchen."


Kapitel 2

"Honey, kannst du bitte eine andere Station einschalten?" Carol saß auf einem dieser typischen, quietschenden Hotelbetten, den Rücken an die Wand gelehnt, die nackten Beine angewinkelt und mit den Armen umschlungen. Billy hatte das Radio eben erst eingeschaltet, als die Nachrichten liefen, und Carol hatte nur dagesessen und nachgedacht.
Sie war glücklich. Billy war wie Medizin für sie. Er verstand sie. Er war ein Jungspund, das musste sie zugeben, schließlich war er ganze fünf Jahre jünger als sie, aber das war ihr um einiges lieber als Rick, der ganze sieben Jahre älter als sie und somit vierunddreißig war. Sie hatte einfach einen Neuanfang gebraucht. Rick hat sie nie geschlagen oder etwas ähnliches getan, um Gottes Willen, nein, aber er war nicht der richtige. Zuerst war sie verliebt, unsterblich verliebt, und er hatte sie wie eine Königin behandelt, sie zum Essen ausgeführt und danach hatten sie sich immer die ganze Nacht geliebt, bis sie beide vor Erschöpfung einschliefen und am nächsten Morgen mit einem Lächeln aufwachten. Sie hatte diese Zeit genossen, sie hatte sich lebendig gefühlt.

Das war nun schon lange her, 1990, die schönste Zeit, die sie je hatte, gemeinsam mit Rick, lag nun schon vier Jahre zurück. Und nun, 1994, zu der Zeit, als in jedem Kino des Landes nur noch eine Reklame zu sehen war, auf der riesengroß "Pulp Fiction" stand, zu der Zeit, als man im Radio alle halbe Stunde U.Kelly hörte, hatte sie sich endlich überwunden und ihr altes Leben hinter sich gelassen. Nicht ohne Grund, hatte sie sich oft gesagt, wenn sie Schuldgefühle bekam. Er verdiente nicht so schlecht, und geschlagen hatte er sie noch nie, aber immer öfter kam er nachts betrunken nach Hause - sie würde nie sagen, dass er Alkoholiker sei, aber er war verdammt nah dran - und rief so laut ihren Namen, dass die Nachbarn ihren Missmut durch Klopfgeräusche an der Wand äußerten. Schwankend kam er dann ins Schlafzimmer und hatte eine solche Fahne, dass sie dachte, er hätte die gesamte Bar mitgebracht. Das schlimme war, er war nie so betrunken, dass er nicht mehr dazu fähig war, den Akt zu vollziehen. Noch jetzt, während sie auf dem quietschenden Hotelzimmerbett saß, ekelte sie die Erinnerung daran, wie sie nur allzu oft seinen schwitzenden Körper auf ihrem ertragen musste, und wie der einzige Geruch, den sie in diesen Momenten noch wahrnehmen konnte, der von Bier, Jack Daniels und seinen Pall Mall Blue war. Jetzt kam ihr fast das Frühstück, welches Billy vom Hotelbüffet hochgebracht hatte, wieder hoch, und sie versuchte, an etwas anderes zu denken.

Ach Billy, mit ihm war alles so anders, so schön. Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie ihn kennengelernt hatte...

Dienstag, 13.11.1994

Carol hatte noch etwa eine halbe Stunde, dann war ihre Schicht zuende. Sie arbeitete als Kellnerin in einem kleinen Diner irgendwo in der Innenstadt von Boston, mit einem schmierigen Typen, der seine Nägel hinter dem Tresen kaute, sobald er sich einmal unbeobachtet fühlte, als Chef und einem Gehalt, von dem sie nicht einmal die Miete hätte bezahlen können, wenn Rick nichts verdient hätte. Sie hatte Frühschicht an diesem Dienstag, was sie freute. Wenn man nachts arbeitete, musste man immer die betrunkenen Männer bedienen
Rick reichte da schon
, welche einem hinterherpfeifen, bevor sie mit einem Augenzwinkern einen "Sex on the Beach" bestellen. Sie hasste diese Art von Kunden.

Und gerade, weil sie heute nicht mit diesen schmierigen Typen klarkommen musste, fühlte sie sich eigentlich ganz in Ordnung. Doch sie hätte nicht erwartet, was der Tag noch bringen würde, und hätte man es ihr erzählt, hätte sie gelacht und einen für verrückt erklärt, denn zu dieser Zeit hatte Billy noch nicht das Lokal betreten.
Sie hatte dem netten, alten Herren, der Kellnerinnen mit großen Busen immer gutes Trinkgeld zu geben pflegte, gerade einen Kaffee zum Preis von zwei Dollar gebracht und war mit sechs Dollar in der Hand auf dem Weg zurück zum Tresen, als die Tür sich öffnete. Sie hörte den unverkennbaren Klang der leicht quietschenden Tür und für eine kurze Zeit war der Verkehrslärm von draußen zu hören, bevor die Tür mit einem leichten Knall wieder zufiel. Und als sie sich da, in der Mitte des Diners, zwischen den Tischen, mit sechs Dollar in der Hand umdrehte, da sah sie ihn und erstarrte.
Billy stand vor der Tür, die Haare wie Elvis, in einer Lederjacke und einer Levis-Jeans, schwarze Lackschuhe, mit einer Pilotenbrille und einer Zigarette im rechten Mundwinkel.*
Bumm
Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie hatte ihn schon öfter gesehen, nur flüchtig, er war Stammgast in diesem Diner, aber sie hatte ihn noch nie bedient. Das hatte bisher immer Catherine übernommen, sie war für die rechte Seite des Diners zuständig, wo Billy seinen Stammplatz hatte. Carol konnte sie nicht leiden, diese dickliche Frau, die immer einen schlechtern Scherz auf den Lippen hatte und dann die einzige war, die hysterisch darüber lachte.
Bumm
Ihre Blicke trafen sich, und er verzog die Mundwinkel zu einem leichten Lächeln. Sie merkte, wie sie bis zu den Ohrenspitzen errötete und wandte sich rasch ab. Noch nie hatte sie diesen jungen Mann in einem solchen Licht gesehen.
Bumm
Immer noch rot im Gesicht ging Carol zum Tresen und legte die vier Dollar in die Kasse, wobei sie furchtbar ungeschickt mit dem Arm gegen die Holzplatte stieß, die ein Stück über die Tischkante hervorschaute. So verweilte sie einen Augenblick, bis sie durch eine schroffe, laute Stimme aus ihrer Starre gerissen wurde.

"Willst du nicht deinen Job machen? Noch ist deine Schicht nicht zuende Schätzchen!", grunzte Bob, bevor er einen Nagel richtung Küche ausspuckte.
Voller Ekel wandte Carol sich ab. Sie hatte ganz vergessen, dass Catherine krank war und sie deshalb auch die rechte Seite bedienen musste. Unsicher ging sie zu dem Tisch, an dem Billy saß, ein roter Tisch am Fenster, mit zwei lederüberzogenen Bänken links und rechts.
"Guten Morgen.", sagte Billy freundlich.
Oh mein Gott, diese Stimme!Carol spürte, wie ihr ein wohliger Schauer über den Rücken ging.
"Eine Tasse Kaffee bitte." Er lächelte sie an und nahm seine Sonnenbrille ab.
Einen Augenblick starrte sie in seine wunderschönen, blauen Augen, dann brachte sie ein Lächeln zustande und ging zurück zum Tresen.
Als sie wiederkam, mit einer Tasse in der einen und einer Kanne voller Kaffee in der anderen Hand, lächelte er sie an, sodass sie zu schmelzen drohte. Als sie seinen Kaffee einschenkte, zitterte sie und verschüttete etwas. Sie murmelte eine Entschuldigung, doch er berührte nur ihren Arm und sah ihr in die Augen.
"Macht doch nichts, keine Sorge. Ich heiße Billy, und du?"
Bumm
Billy the Kid, dachte sie, bevor sie zu einer Antwort ansetzte.
"Ca- Carol, Carol ist mein Name.", keuchte sie. Zu mehr war sie nicht imstande, denn in diesem Moment stellte sie sich vor, wie es wohl wäre, wenn keine Klamotten zwischen ihnen wären und sie es einfach in diesem Diner tun würden. Er schien ihre Gedanken lesen zu können, denn er fragte einfach schamlos: "Sag Carol, bist du vergeben?"
"Jetzt nicht mehr."

Sie bezahlte den Kaffee mit dem Trinkgeld, was sie auf dem Tisch liegen ließ, hängte ihre Schürze über einen Stuhl, verließ Hand in Hand mit Billy den Laden und kam niemals wieder zurück.

Ein Lächeln kam über ihre Lippen, als sie nun auf diesem Bett saß und Billy zum Radio ging, um die Station, die Rick immer hörte, wegzuschalten. Auf dem nächstbesten Sender lief Bump 'N Grind von U. Kelly, ein Lied, das sie und Billy mit einigen schönen Stunden in Verbindung brachten, und auch nun liebten sie sich wieder, und es kam ihr einmal, zweimal, dreimal, ganze vier Mal, bevor er fertig war. So etwas wäre bei Rick nie möglich gewesen. Aber sie liebte Billy nicht nur wegen dem guten Sex, sondern weil sie sich bei ihm jung fühlte, so jung wie schon lange nicht mehr.
War es richtig, die fünftausend Dollar mitzunehmen?, fragte sie sich.
Er hätte sie doch sowieso nur für Alkohol und Zigaretten ausgegeben. Du hättest keinen Cent davon gesehen!
Dieser Gedanke verdrängte bald die Schuldgefühle, sodass sie sich unbesorgt an Billy kuscheln konnte, ohne störende Kleidung oder einen nagelkauenden Restaurantbesitzer zwischen ihnen. Sie war jung, sie war lebendig, sie war glücklich.

Mit einem Lächeln auf den Lippen schlief sie auf Billys Brust noch ein zweites Mal ein.
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