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Alt 31.10.2020, 12:43   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Bubi

Inge wohnte seit zwanzig Jahren im selben Haus wie ich. Aber außer einem „Hallo“ beim Kommen und Gehen hatten wir uns nichts zu sagen gehabt.

Das änderte sich, als man mich aus meinem Job geworfen hatte und ich kein Nachtgeist mehr war, sondern zu einer vollwertigen Nachbarin wurde. Inge und ich kamen öfter ins Gespräch, in der Waschküche beim Einlegen der Wäsche oder einmal im Monat beim Entsorgen des Altpapiers. Wir entdeckten gegenseitig unseren Charme und Humor und gaben uns alsbald beim Kaffeeklatsch ein Stelldichein. Anders gesagt: Wir wurden Freundinnen.

„Ich hätte nie gedacht, mit dir warm werden zu können,“ gab Inge zu. „Mit deinen heruntergezogenen Mundwinkeln und dem strengen Blick wirktest du wie ein personifiziertes Strafgericht. Du hast dich völlig verändert, seit du zu Hause bist.“

Natürlich hatte ich mich nicht verändert. Inge hatte nur die Seiten an mir kennengelernt, die Zeit und Nähe brauchten, um entdeckt zu werden.

Wir hatten uns zum Mittagessen bei Inges Lieblingsitaliener verabredet. „Du hast doch nichts dagegen, wenn Bubi mitkommt?“, fragte sie, als ich zu ihr ins Auto stieg.

Von Bubi hatte sie noch nie erzählt. „Gratuliere,“ antwortete ich im Glauben, sie spräche vom Kind einer Tochter, eines Sohnes oder einer Schwester. Wir waren zwar noch in einem Alter, das man im Zeitraum des besten unterbringen konnte, aber die Rolle einer Tante oder sogar einer Oma war durchaus drin.

„Wozu?“, fragte Inge leicht irritiert, wartete aber keine Erklärung ab, weil sie der Vordermann an der Ampel nervte. „Warum fährt der Kerl nicht los? Grüner wird’s nicht!“

Wir fuhren in einen Winkel der Stadt, von dem ich keine Ahnung hatte, dass er existierte, obwohl ich in ihr geboren wurde und aufgewachsen war – eine Steinwüste aus dem Beton der 50er Jahre, dem wundervollsten Baustoff, den man damals glaubte, entwickelt zu haben.

„Da steht Bubi schon, pünktlich wie ein Spanier.“ Während ich noch darüber nachdachte, wieso ausgerechnet einem Spanier Pünktlichkeit nachgesagt werden konnte – ich hätte das eher mit einem Maurer in Verbindung gebracht -, stoppte Inge das Auto und hupte, um Bubi auf sich aufmerksam zu machen. Neugierig blickte ich durch das Fenster, und augenblicklich verschlug es mir den Atem.

Was über die Straße auf uns zugeschlendert kam, war kein Kind, sondern ein ausgewachsenes Mannsbild, hochaufgeschossen, sportlich schlank, schwarzhaarig wie ein Latin Lover und mit dem breiten Grinsen eines Burt Lancaster. „Sei gegrüßt, Schwesterlein,“ warf er Inge kurz durch das heruntergelassene Autofenster zu, öffnete die hintere Tür und setzte sich auf die Rückbank.

Ich musste mich zusammennehmen, um mich nicht nach ihm umzudrehen. Bubi? Inges Bruder sah aus, als müsse er Gary, Eroll oder Valentino heißen. Ohne Zweifel war er etwas Besonderes, und vor meinem geistigen Auge sah ich ihn in einem Arztkittel, um den Hals ein baumelndes Stetoskop, oder als pinselschwingenden Künstler vor einer Staffelei. Aber wie kann ein solcher Typ in einem derart trostlosen, sozial unterminierten Viertel wohnen?

„Wie läuft’s im Moment Bubi?“, fragte Inge und gab wieder Gas. „Nicht gerade rosige Zeiten.“

„Du sagst es, Schwesterherz, die Pakte werden immer mehr. Die Leute gehen nicht mehr raus, sondern bestellen wie die Wilden im Internet.“

„Bubi fährt nämlich Pakete aus,“ erklärte Inge mit einem flüchtigen Seitenblick zu mir. „Für DHL. Heute ist sein freier Tag.“

Ich traute mich nicht, nach Bubis richtigem Namen zu fragen. Nach seiner Entzauberung war er mir eigentlich auch egal geworden. Trotzdem begann es mir gegen meinen Willen heiß zu werden. Der Kerl sah verboten gut aus!

Eine halbe Stunde später saßen wir beim Italiener und zwirbelten unsere Spaghetti auf die Gabel. Inges Augen gingen zwischen Bubi und mir hin und her, während sie im Plauderton Belanglosigkeiten von sich gab. Scheinbar nebenbei erwähnte sie, dass Bubi gerade eine Trennung hinter sich hatte und deshalb dringend ihrer Fürsorge bedürfe. Ihn selbst schien das Ende seiner Beziehung kalt genug zu lassen, um lediglich die Schultern zu zucken.

Die Erkennungmelodie der „Tatort“-Serie ertönte, und Inge zückte ihr Smartphone. „Ah, okay. Bin gleich da.“ Sie erhob sich und griff nach ihrer Jacke, die sie über die Stuhllehne gehängt hatte. „Die Pflicht ruft. Ihr müsst euch ohne mich amüsieren.“

In diesem Moment wurde mir klar, was gespielt wurde: Inge versuchte, mich mit Bubi zu verkuppeln. Ich wünschte, auch mein Smartphone würde sich melden – bei mir war es „Stahlnetz“ -, um mich davonmachen zu können, aber im Gegensatz zu Inge hatte ich nichts dergleichen arrangiert.

Aber warum kneifen, schoss es mir durch den Kopf. Ein kleines Abenteuer bringt niemanden um. Und wann läuft einem nochmal ein Tyrone-Power-Verschnitt über den Weg? Ein kleiner Nachtisch macht keine Henne fett. Im Gegenteil.

Mir war nach Naschen zumute, und so landeten Bubi und ich noch am selben Tag im Bett. Nach dieser ernüchternden Erfahrung kam mir jeder Traum, selbst jeder Albtraum, wie der Eintritt ins Paradies vor. Um ihn wieder loszuwerden, hatte ich Migräne vorgetäuscht – der Klassiker unter Frauen – und aus eigener Tasche den Taxifahrer entlohnt, der Bubi nach Hause brachte.

Inge erzählte ich nichts vom Ausgang jenes Abends. Ihren Versuchen, etwas über den „Stand der Dinge“ zu erfahren, den es nicht gab, wich ich geschickt aus. Dennoch juckte es mich, Bubis Namen zu erfahren, und als sich die Gelegenheit bot, fragte ich Inge danach.

„Bubi? Denk doch mal ein bisschen nach, dann kommst du von selber drauf.“

Weil ich nicht als Klein-Doofie dastehen wollte, die zu analytisch untermauerten Schlussfolgerungen nicht fähig ist, ließ ich das Thema fallen. Erst als ich im Fernsehen eine Dokumentation über Bubi „Gustav“ Scholz sah, fiel mir die Lösung wie Schuppen von den Augen. Und da ich durchaus des Denkens fähig war, spielte ich in meiner Phantasie nicht nur durch, wie Bubis Beziehung geendet haben könnte, sondern weshalb Inge das Bedürfnis hatte, ihn unter ihre Fittiche zu nehmen.
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