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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt. |
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06.04.2010, 09:13 | #1 |
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Lokalbahn
Verlassene Trasse,
Schienen, Schotter, Stille, der Bahndamm bewachsen, bedeckt mit Müll und Dreck. Offenbach - Frankfurt: Einfache Fahrt nur ein Groschen! Früher, bis in die Fünfziger. Vergessener Betonring, darin ein Tier, eine verbrannte Katze ohne Pfoten und Ohren. Kinderaugen schauen, fasziniert vom Charme des Grauens und Schauderns, von der Qual der Phantasie. Noch das Bimmeln im Sinn? Die Stadt ist laut: Hupen auf vier Spuren glatten Asphalts. 6. April 2010 © Ilka-M. |
06.04.2010, 11:13 | #2 |
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Hallo Ilka,
dieses Gedicht überzgeugt mich leider nicht. Die Strophen eins, zwei und fünf wirken zu seicht selbst im Ausdruck für einst Alltägliches; dies mag seinen Grund in den Strophen drei und vier haben, welche nicht nur zu wuchtig ins Bild treten und so ihren Kontext verblassen lassen, sondern auch in eine vom Autor wahrscheinlich nicht gewollte Richtung zerren, was befremdlich wirkt. Eine verbrannte Katze in einem Betonring ist nun einmal nichts Typisches für eine Fahrt in einer Lokalbahn. Am deutlichsten wird dies im Übergang von Strophe vier zu fünf. Kurz gesagt: Dein Gedicht hat seinen Schwerpunkt ausserhalb seines eigenen Themas, wahrscheinlich ungewollt. LG Abendstern Geändert von Ex-Abendstern (06.04.2010 um 15:54 Uhr) |
06.04.2010, 16:04 | #3 | |
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Zitat:
das ist eine klare Aussage, die mich nicht überrascht. Tatsächlich hatte ich Probleme, den Eindruck von damals zu formulieren, aber ich hatte bereits so lange darüber nachgedacht, daß ich die Sache heute einfach mal festhalten wollte. Es handelt sich nicht um "Erinnerungsfetzen", sondern ich habe die Bilder alle noch genau im Kopf, ebenso die Kommentare und Vermutungen meiner Schulkameraden beim Anblick dieser armen Katze. Ich habe das so geschildert, weil mir das gequälte, verstümmelte Tier in die Landschaft zu passen schien, alles war dem Verfall preisgegeben. Die Lokalbahn war schon nicht mehr da, seit ich fünf Jahre alt war, ich kann mich auch nur an eine einzige Mitfahrt meinerseits erinnern. Auch den alten Bahnhof gab es damals nicht mehr, eben nur die Gleise und den verwahrlosten Damm - wir nannten es nur noch "Lokalbahn". Auch schien mir das malträtierte Tier gut zu der geschundenen Psyche mancher Menschen zu passen, gerade auch was Kinder und Jugendliche angeht, deren Familien im Krieg Verluste hinnehmen mußten und die sich vielleicht um jeden Preis abreagieren wollten. Da war ein so wenig begangenes Gelände natürlich ideal. Ich will aber nicht bestreiten, daß es für jemanden, der diese Szene nicht erlebt hat (der Anblick der Katze war für uns tatsächlich ein Schock), schwierig ist, sich mit den Strophen zu indentifizieren. Andererseits konnte ich kein Charles-Dickens-Szenario heraufbeschwören, denn ich hatte eine behütete Kindheit und Offenbach war eine Stadt in der Erholungs- und Wiederaufbauphase; das hätte mir also auch niemand abgenommen (tatsächlich entstand später die vierspurige Berliner Straße Richtung Frankfurt). Sicherlich ist Dir aufgefallen, daß ich teilweise mit Vokalwiederholungen gearbeitet habe, einfach als Versuch, die Strophen wenigstens durch eine einheitliche Form zusammenzuhalten. Das ging natürlich auf Kosten von Wörtern, die vielleicht ausdrucksstärker gewesen wären. Trotzdem danke für Deinen ausführlichen Kommentar, Du hast meine eigenen Zweifel damit bestätigt. Ich muß mir über den Text nochmal Gedanken machen. Liebe Grüße Ilka-M. |
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06.04.2010, 18:44 | #4 |
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Lieber Risiko,
kennst Du das nicht, daß man im Angesichts des Grauens sich nicht abwenden kann, sondern die Phantasie angereget wird, obwohl sie einem Schauder über den Rücken jagt und Bilder liefert, die einen quälen, wenn man sich nämlich mit dem Opfer identifiziert? Wie mag sich das angefühlt haben, hätte man das mit dir gemacht? Jawohl, die Ohren abgeschnitten, die Pfoten abgehackt - dann kann man ja nicht mehr davonlaufen. Und dann bei lebendigem Leib angezündet zu werden. Ich habe diesen modrigdumpfen, versengten Gestank dieser Katzenleiche noch heute in der Nase. Das passiert täglich überall auf der Welt. Im Fernsehen konnte man das wiederholt sehen: Mit Bezin übergosssene Hunde, die angezündet wurden, und die Halbstarken lachten sich über die Schreie der Tiere halbtot - très amusant! Ich kann mir gut vorstellen, daß Forensiker ohne diese Phantasie ihre Arbeit gar nicht tun könnten. Ich bin froh, kein Tier zu sein. Und ich bin glücklich, immer noch da zu sein, wo ich immer war. Und ich bin dankbar, in meinem bisherigen Leben verdammt viel Glück gehabt zu haben. Dessen bin ich mir bewußt - jeden Tag immer mehr. Danke für den Kommentar und die Nachfrage, Ilka-M. |
07.04.2010, 08:43 | #5 |
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Hi Ilka,
ich muss Abendstern widersprechen. Das ist für mich einer deiner bisher besten Texte! ...und noch dazu ganz ohne Reime Das Gedicht ist authentisch, unverstellt, klar. Ich finde darauf kommt es beim Schreiben an. Die Tristesse, die Kälte der Großstadt ist förmlich greifbar. Gerade das Bild der verbrannten Katze ist hier besonders ausdrucksstark. Die Reminiszenz an vergangene Tage (nur ein Groschen!/ Noch das Bimmeln im Sinn?) finde ich sehr gelungen und stimmig. Mich hat der Text begeistert. LG Bullet |
07.04.2010, 14:34 | #6 |
Ich wurde gerade auch sehr positiv von deinem Text erfasst- Bisher habe ich nur Gereimtes von dir gelesen... Dies hier gefällt mir sehr gut, sofort habe ich unseren alten Vorstadt-Bahnhof vor Augen und das Grausen, das uns einfing, als wir einen zerfahrenen Igel auf den Gleisen entdeckten.
Ich finde die Emotionen und Bilder sehr gut verpackt- und das nicht nur, weil es ungereimt ist Passende Wörter, unprätentiös, geschickt leitend: Mir gefällt es gut- ohne Wenn und Aber! Gruß Poe |
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07.04.2010, 15:28 | #7 |
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Es ist wie im Kino: Dem einen gefällt der Film, dem anderen nicht.
Wenn die Bilder angekommen sind, ist es ja gut. Ich hätte ohnehin nicht gedacht, mit den Gedichten meines Offenbach-Zyklus auf soviel Resonanz zu stoßen, weil sie nicht nur eine sehr persönliche Sichtweise beinhalten, sondern auch von den Lesern ein Sichhineinversetzen in eine Stadt erfordern, die sie nicht kennen. Umso mehr danke ich Euch für das Feedback. Liebe Grüße Ilka-M. |
08.04.2010, 15:07 | #8 |
Dabei seit: 07/2006
Ort: Mauritius, stella clavisque maris indici
Beiträge: 4.889
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Besser kan man es nicht ausdrücken.
Liebe Ilka-Maria, mir gefällt dein Film. Mir gefällt deine Fähigkeit die Faszination des Morbiden, den Charme des Grauens, die Anziehungskraft des Verbotenen darzustellen. Am Beispiel der Lokalbahn. Da gehört schon etwas dazu. Du hast es Liebe Grüsse Corazon P.S. bin mal wieder zeitlich etwas im Stress, muss wieder weg. Wir lesen uns Ende nächster Woche wieder, wenn ich wieder zurück bin. Der Stress hat sich aber bis jetzt materiell gelohnt |
09.04.2010, 18:49 | #9 | ||
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Zitat:
Zitat:
Selbst wenn man die gefolterte Katze im vergessenen Betonring hier zugleich als ein Sinnbild für die Stadt selbst sieht, für Menschen in ihr, bleibt die Formulierung doch schwierig und bewirkt aufgrund ihrer Schwere, dass einem der Zugang zur letzten Strophe geradezu verbaut wird. Diese wirkt läppisch dagegen, platt und sehr pietätlos mit ihrer unvermittelt sich an die Vorstrophe anschließenden Frage: "Noch das Bimmeln im Sinn?" LG Abendstern |
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09.04.2010, 23:02 | #10 |
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Du hast es eben nicht erlebt. Ich aber schon. Und natürlich ist es läppich. Wessen Leben wäre das nicht? Ich habe auch nie versucht, etwas Großes daraus zu machen, ganz im Gegenteil. Schließlich sind wir alle nur Würmchen. Meine Erinnerungsgedichte sind ganz kleine Sachen - und das ist gewollt. Das Kleine will ich festhalten, nicht das Große. Denn - wer bin ich denn schon? Ich will einfach nur den Moment festhalten, so wie er ist und frei von jeder Philosophie.
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10.04.2010, 00:41 | #11 | |
Zitat:
Glasauge Bill |
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10.04.2010, 13:40 | #12 | |
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Zitat:
Ich dachte eigentlich, ich hätte mich mit meiner Kritik klar genug ausgdrückt. Läppisch doch nur deswegen, weil auf dem unmittelbaren Hintergrund des Vorverses mit seiner irritierenden Schwere. Läppisch also nicht an sich. Mich stört ja nicht nur einfach die Strophe fünf in ihrer konkreten Ausgestaltug, sondern eben so sehr der Übergang zur sechsten. Das Gedicht hat bis Strophe fünf eine kontinuierliche Steigerung erfahren, vom allgemeinsten Eindruck bis hin zu einem ganz speziellen Fall, der beispielhaft für all das stehen könnte, was man im Umfeld einer Lokalbahn an Außergewöhnlichem erleben konnte; doch dann, ganz unvermittelt, dieser Absenker zurück ins alltäglich Allgemeine (siehe oben). Na ja, vielleicht sollte auch gerade dieser Eindruck der plötzlichen, radikalen Pespektivwechsel vermittelt werden, ich weiß es nicht. Besonders gelungen ist Dir das hier nicht. Ich bin aber überzeugt, dass Du aus diesem Gedicht sehr viel mehr machen könntest. LG Abendstern |
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10.04.2010, 13:58 | #13 | ||
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Zitat:
Zitat:
Der Begriff "Pietät" gilt meines Wissens nur für den Respekt vor Menschen und vor Gott - Tiere umfaßt er nicht. |
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10.04.2010, 14:04 | #14 | |
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Vielleicht solltest Du überlegen, wenn Du Dich von dieser Szene hast inspirieren lassen, was an ihr im Detail vielleicht doch anders war. Naja, ist Deine Sache. Ich will da auch nicht weiter drauf herumreiten, sonst nerv ich noch.
LG Abendstern Zitat:
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10.04.2010, 14:18 | #15 |
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Nein, Du nervst nicht. Natürlich geht es bei dem Film um andere Inhalte, nur folgt bei dem genannten Beispiel der Stille in der Wüste und dem Verlust eines Menschen auch der Großstadtlärm, und das als Toneinblendung, während Lawrence noch am Suezkanal steht - also sehr direkt und heftig. Seit Deiner Kritik kommt eben andauernd diese Szene in mir hoch, und das gibt mir zu denken.
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10.04.2010, 14:48 | #16 |
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Verlassene Trasse,
Schienen, Schotter, Stille, der Bahndamm bewachsen, bedeckt mit Müll. Offenbach - Frankfurt: Einfache Fahrt, nur ein Groschen! So war das, bis in die Fünfziger. Vergessen auch jener Betonring, darin ein Tier, eine verbrannte Katze ohne Pfoten und Ohren. Wir Kinder waren gebannt vom Charme des Grauens, konnten unseren Weg kaum finden, heraus aus gequälter Phantasie. Dann dieses Bimmeln! Die Stadt war laut: übertönendes Hupen auf allen Spuren zu glatten Asphalts. Wie findest Du das? Soll nur eine Annäherung sein an das, wie ich es mir, ein wenig geglättet, besser vorstellen könnte. Ich habe hier besonders in der letzten Strophe ein wenig Bezug zur vierten hereingebracht. Geändert von Ex-Abendstern (10.04.2010 um 19:10 Uhr) |
10.04.2010, 19:51 | #17 |
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Ich ahne, was Du meinst. Aber das sind nicht mehr meine Erinnerungen.
Deine Version ist saft- und kraftlos. Ohne Nachhalt. Nicht nur bildlich, sondern auch sprachlich. Es ist nicht das, was ich in mir trage. Es hat nichts mit den Bildern in meinem Kopf zu tun. Da ist nämlich nichts geschönt. Wir Kinder waren nicht gebannt - mit Zauber hatte das alles nichts zu tun - sondern wir waren vom Grauen geschüttelt, und darüber diskutierten wir. Wobei uns die Phantasie völlig durchging. Danke für Dein Interesse, ich sehe, es hat Dich wirklich beschäftigt. Aber mir ging es nicht um Ästhetik, sondern um das Gefühl, welches das Erlebte hinterlassen hat, und das war nun mal ziemlich krass. Dank Deiner Kritik erkenne ich, daß ich dieses Kleid nicht jedem anziehen kann. Aber schön, daß Du Dich so ausführlich damit auseinandergesetzt hast. Dank dafür. DANK AN ALLE, DENEN DIE ARME KATZE LEIDTUT. Mich verfolgt dieser Anblick heute noch. Sonst hätte ich dieses Gedicht nicht geschrieben. |
11.04.2010, 00:40 | #18 | |
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Ästhetik war nur das eine, das andere meine Schwierigkeit mit dem Begriff "Charme des Grauens". Aber wie immer wir uns mißverstanden, wie immer wir aneinander vorbeigerdet haben:
Zitat:
LG Abendstern |
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12.04.2010, 11:37 | #19 |
Liebe Ilka Maria,
Ein Gedicht, in dem die Zeiten sich bespiegeln. Das manches wachruft. Ich kann mich noch gut an diese Straßenbahnen erinnern, die Holzbänke, Gerüche, die ledernen Schlaufen zum Festhalten, die so furchtbar weit oben hingen, dass das eigene Wachsen viel zu langsam ging. Im Sommer das Hereinfluten der Blüten- und Benzingerüche bei offene Schiebetüren und natürlich, der Schaffner mit der Kasse vorm Bauch. Den bewunderte ich, weil er ohne sich festzuhalten nie das Gleichgewicht verlor. Und ich übte das, ließ heimlich die Haltestange los, wenn meine Mutter nicht guckte ... Die Katze im Betonring ist für mich ein ein gutes Bild. Ein Tier / ein Katze: man fühlt, wie sich Kinder heranpirschen. Die "Qual der Fantasie" (gut!) zu bestehen, ist eine Herausforderung. Der Tod ist unheimlich, er ist noch ganz die Verneinung von allem, was vertraut ist. Liebe Grüße gummibaum |
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12.04.2010, 11:59 | #20 |
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Danke, gummibaum, für Deinen ausführlichen Kommentar.
Nach dem Krieg gab es soviel Trümmergrundstücke und verlassene Gärten, daß man immer wieder merkwürdige Sachen fand. Zwischen Eisenbahngleisen, die wenig befahren waren (städtische Werksbahn) entdeckten wir mal ein Stück eines vertrockneten Hundevorderbeins. Da ging mit uns die Phantasie ebenso durch, wir stellten zig Vermutungen an, wie und weshalb dieses Beinstück dort hingekommen war. LG Ilka-M. |
12.04.2010, 14:37 | #21 |
Betreten verboten, Einsturzgefahr. Und die Abrissbombe, die tagelang an die Mauerreste ballerte, bis sie nachgaben, manchmal ein Klo und Rohre mit sich rissen und in den Schutthaufen stürzten. Meine heimliche Frage, wer hat in diesen Tapeten gewohnt, im aufwallenden Staub verstummen ließ. Diese Eindrücke sind ohne viel Formung schon fast Poesie.
Mach's gut, Ilka-Maria Gruß gummibaum |
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12.04.2010, 14:51 | #22 |
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Hi Ilka-Maria,
Es ist ein surreales Bild unserer Welt. Ein verbrannter Hund, das ist das Element zur anderen Welt, einer etwas übertriebenen düsteren Welt als unsere. Das ist toll, wie du einige Elemente von unserer normalen Wahrnehmung nimmst und hie und da etwas zupfst, die ganze Sache trister machst. Aber vor allem gefällt mir die nostalgische Note. Ein Bahnhof hat doch immer was futuristisch, als auch vor 100 Jahren und heute noch, finde ich. gern gelesen Grüsse John |