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Alt 20.09.2015, 18:28   #1
männlich Amerdi
 
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Dabei seit: 03/2012
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Beiträge: 206


Standard Internet auf der Nase

Sie hatte sich ihr Handy an der Nasenspitze montiert und bediente die Tasten mit ihrer überaus geschickten Zunge. So konnte sie ungestört mit ihren Fingern nervös an ihren Haarspitzen knurbeln. Zu jedem Surfzeitpunkt hatte sie mindesten 50 Internetseiten gleichzeitig geöffnet und konzentrierte sich auf jede von diesen mit ihrer durch 50 geteilten, verkrüppelten Aufmerksamkeit.
Sie schaute immer wieder 3-7 Sekunden eines Youtubevideos, über dessen Thema sie sich nicht klar war, um dann rasch für eine ebensolche Zeitspanne ein Beautyforum zu überfliegen, ob es neue Beiträge gab zu ihren Äußerungen in den Threads "Was denkst du gerade?", "Was hörst du gerade?" und in ihrem zehn Zeilen langen Tutorial über die Milderung von durch Harrspitzenknurbelei verursachter Splitterung. Wenn es solche gab, klickte sie den jeweiligen Bereich an, hatte für einen Moment ein gutes Gefühl über die Aufmerksamkeit, fühlte sich aber sofort gedrängt die nächste Seite zu besuchen um ja nichts zu verpassen.
Ihre Zungenspitze drückte nun auf einen Artikel über ein Thema, dass sie wieder vergessen hatte und ihre hektischen Augen lasen zwei Sätze, übersprangen jedes zweite Wort und suchten nur die wichtigen Bestandteile des Textes wahrzunehmen, um möglichst schnell zur nächsten Zerstreuung aufzubrechen. Die wichtigen Bestandteile waren allerdings schon vor dem Aufruf der nächsten Seite wieder aus ihrem Gedächtnis verschwunden.
Natürlich hatte sie auch mehrere Facebookpages geöffnet, auf denen es unentwegt surrte von den vielen Smilies, die ihr ihre Freunde schickten, von denen sie niemals einen einzigen ausserhalb des Chatrooms gesehen hatte. Zuweilen hielt sie sich selber für einen Smily und von dem Smilysein ihrer Freunde war sie schon lange überzeugt.
Zwar trafen sie sich manchmal im McDonalds, Burger King oder Subway, doch behielten sie dabei stets ihre Handys vor der Nase. Sie hatten sie dort ja fest montiert. Und kommunizierten so stets über dieses Medium.
Was hinter dem Handy lag nahm sie nichtmehr wahr, höchstens als eine Art Randwelt, auf die sie aber keinerlei Reaktion mehr zeigte. Selbst dramatische Unfälle rissen ihre 50fach-geteilte Aufmerksamkeit nicht vom Bildschirm weg, zu oft hatte sie sich die endlosen, unzähligen Fail Compilations auf Youtube angesehen, um von den Ereignissen ihrer ausserinternetlichen Umwelt berührt zu werden. Ihre aus dem Internet geschöpfte Welterfahrung war grenzenlos und demgemäß auch ihre Gleichgültigkeit.
Sie hatte, mit 14 Jahren, alles gesehen.
Vor Jahren einmal hatte sie, wegen eines lauten Gebrülls, einen Blick in die Randwelt geworfen und sah wie ein Mann von einem Bären gefressen worden war. Genervt nannte sie dieses Vorkommnis einen Fake und wandte sich ab.

Eines Tages wollte sie gerade auf eine Smilytaste drücken um ein lautes Lachen zu symbolisieren, da ging plötzlich das Handy aus.
Und mit dem leuchtenden Screen versank ihre ganze Welt in Schwärze.
Die vielen Dinge, die sie gerade erlebt hatte, darunter die abgehackten Gespräche mit den Freunden, die sie führte waren mit einem mal verschwunden. Zwar erinnerte sie sich nichtmehr bewusst daran was sie genau getan (es war nun schon etwa 5 Sekunden her) und mit wem sie geredet hatte, doch sie wusste, dass sie irgendetwas getan hatte, tausend Dinge, die nun abrupt abgebrochen worden waren.
Und sie merkte, dass auch sie selber nichtmehr da war, die sie auf ihrem Facebook-, Tumblr-, Instagram- und Jappyprofil immer so klar vor sich hatte. Wo war sie denn nun?
Sie fragte sich, ob das der Tod sei. Ob sie nun die Nichtexistenz erfuhr und bekam ein wenig Angst. Soetwas hatte sie in Youtubevideos noch nicht gesehen und beschloss, sollte sie je wieder in die Existenz zurückgelangen, ein Youtubevideo über ihre Todeserfahrung zu erstellen.
So saß sie einige Sekunden und sah konzentriert auf den schwarzen Bildschirm und merkte auf einmal, dass sie unendlich müde war, sodass sie einschlief. Seit langer Zeit schon hatte sie nichtmehr geschlafen, da in ihrer Realität, im Universum des Internets, ewiger Tag herrschte. Und sie träumte, tief erschüttert von der Erfahrung des Verschwundenseins, viele wunderliche Dinge.
Als sie erwachte, war der Bildschirm noch immer dunkel. Sie fühlte sich merkwürdig wach und lebendig und eine Bewegung in der Randwelt zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
Sie fragte sich, was das war und montierte das Internethandy von ihrer Nase ab.
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Alt 20.09.2015, 19:10   #2
weiblich Ex-Dabschi
abgemeldet
 
Dabei seit: 05/2014
Beiträge: 2.371


Hallo Amerdi,

interessante Geschichte und mir dünkt, Du schreibst aus eigener Erfahrung.

Das Internet ist Fluch und Segen zugleich. Selbst ich mit meinen 57 Jahren schaue viel zu oft ins Internet, um zu schauen, was es Neues gibt ...

Zum Glück habe ich alles noch im Griff und vernachlässige meine Freunde und Familie nicht. Nö, so weit kommt's nicht.

Liebe Grüße
Dabschi
Ex-Dabschi ist offline   Mit Zitat antworten
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