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Philosophisches und Nachdenkliches Philosophische Gedichte und solche, die zum Nachdenken anregen sollen.

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Alt 22.03.2015, 14:21   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.115

Standard Fluch der Sprache

Wie kann ich Wahrheit in Sprache fassen,
in Wörter, in Sätze, in klares Bedeuten,
sie wie den reinsten der Weine belassen,
nicht einen Tropfen von ihr vergeuden?

Ein jedes Wort erzählt tausend Lügen,
es täuscht und verschleiert und setzt falsche Zeichen,
ist ohne Mitleid, die Welt zu betrügen,
und stört sich nicht an Opfern und Leichen.

Ein Arsenal der spitzesten Waffen,
das ohne Kosten sich selbst vermehrt,
verwendet von Bauern und Fürsten und Pfaffen …
die nackte Wahrheit war niemals begehrt.

So kann ich nur eines: Geloben zu schweigen.
Kein Wort kommt fortan mir über die Lippen,
genießt ohne mich euren Lügenreigen,
bis die Wahrheit bricht den Schutz eurer Rippen.

22. März 2015
© Ilka-Maria
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Alt 22.03.2015, 16:02   #2
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Hallo Ilka,

das Gedicht gefällt mir. Wörter und Sätze tragen ja Bedeutungen in sich, die sie der Wahrheit überstülpen. Radikale Konsequenz: Nur noch schweigen.

Allerdings gehen Sprachphilosophie und Linguistik heute wohl davon aus, dass ohne Sprache keine Wahrheit existiert, sie also nichts Unabhängiges, sondern ein Konstrukt der Sprache ist.

LG gummibaum
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Alt 22.03.2015, 16:14   #3
weiblich Ilka-Maria
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Ort: Arrival City
Beiträge: 31.115

Zitat:
Zitat von gummibaum Beitrag anzeigen
H..., dass ohne Sprache keine Wahrheit existiert, sie also nichts Unabhängiges, sondern ein Konstrukt der Sprache ist.
Juristisch gesehen ist das auf jeden Fall so. Ob das auch für die Philosophie gilt? Da habe ich Zweifel. Ich meine mir zutrauen zu können, die Welt auch ohne sprachliche Finessen, nämlich rein gedanklich einzuordnen. Als ich noch ein Kind war, hat das recht gut funktioniert. Und ich hatte ziemlich früh kapiert, was Lügen, Ausflüchte, Manipulationen und dergleichen bedeuteten.
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Alt 22.03.2015, 16:15   #4
weiblich shoshin
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Dabei seit: 02/2014
Beiträge: 1.073

Liebe Ilka,

Wie wahr! Nur: Auch schweigend würden wir zumindest uns selbst belügen, aber vielleicht mitunter weniger Schaden anrichten. Das Denken lässt sich leider nicht abschaffen.

Sehr gut geschrieben, wie von dir natürlich gewohnt!

Lieben Gruß
shoshin
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Alt 22.03.2015, 18:58   #5
Thing
R.I.P.
 
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Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Ich schließe mich Charis an.
Aber das totale Schweigen ist keine Lösung. Ganz ohne verbale Kommunikation droht Verkümmerung - oder doch nicht?
Daß es praktikabel ist, zeigen die Schweigeorden.

Aber ich möchte nicht nur auf Schriftliches zurückgeworfen werden.
Ihm fehlt die Modulation, die so bedeutend für mich ist.
Und wer sagt, daß nur die gesprochenen Worte lügen, betrügen und manipulieren? Das ist ebenso eine Meisterschaft des geschriebenen Wortes.

Einmal mehr ein Klasse-1A-Gedicht.

Lieben Gruß, Ilka-Maria,


von
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.03.2015, 03:06   #6
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

v. Humboldt, W. (1836):

"Die Sprache ist das bildende Organ des Gedanken...Die intellectuelle Thätigkeit und die Sprache sind daher eins und unzertrennlich von einander; man kann nicht einmal schlechthin die Erstere als das Erzeugende, die andere als das Erzeugte ansehen. Denn obgleich das jedesmal Gesprochene allerdings ein Erzeugnis des Geistes ist, so wird es doch, indem es zu der schon vorher vorhandenen Sprache gehört, ausser der Thätigkeit des Geistes, durch die Laute und Gesetze der Sprache bestimmt, und wirkt, indem es gleich wieder in Sprache überhaupt übergeht, wieder bestimmend auf den Geist zurück."

Auf diese Gedanken beziehen sich einige Richtungen der neueren Linguistik und haben sie -beflügelt von M. Foucaults Theorien über den Zusammenhang zwischen Wissensbildung und Macht im sozialen Diskurs - weiter ausgebaut.

LG g
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Alt 29.03.2015, 12:44   #7
männlich Lewin
 
Dabei seit: 03/2015
Beiträge: 1.231

Standard Fluch der Sprache

Hallo Ilka-Maria,
natürlich ist es nicht die Sprache, die zu verdammen ist.
Die Sprache ist schön oder hässlich, je nachdem, wer mit ihr umgeht und was er mit ihr beabsichtigt.
Der Mensch hat sie sich zu eigen gemacht und nutzt sie wie alles andere, um sich Vorteile zu verschaffen, besser dazustehen oder sich darzustellen als seinen Nächsten, sogar, um sich in die eigene Tasche zu lügen.
Das macht er genauso mit Zahlen, mit Fertigkeiten, mit seinen durchaus unterschiedlich gestalteten Sinnen und selbst mit Gefühlen. Und mit seinem Äußeren.
Und wenn alles das genug eingebracht hat, kann er auch sein Schweigen dazu einsetzen.
Nein, die Sprache allein ist es nicht; sie ist ein Teil von uns. Ob sie ein Fluch ist?
Dein Gedicht ist zumindest ein wunderbarer Anstoß, darüber nachzudenken.
Herzlich grüßt dich
Lewin.
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