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Alt 20.06.2014, 07:10   #1
weiblich Eywlinn
 
Benutzerbild von Eywlinn
 
Dabei seit: 06/2014
Alter: 29
Beiträge: 128


Standard Die Scherben meiner Selbst

Leere. Tiefe, schwarze, endlose Leere. Bedeutungslosigkeit. Namenlosigkeit.

Wie fühlt es sich an, zu fallen?



Ich fürchte mich, fürchte mich vor dem Abgrund, der vor mir aufgeklafft ist. Dem bedrohlichen Loch in meinem Inneren, das keine Tränen weinen kann. Der Finsternis, in der es keine Luft zum Atmen für mich gibt.

Ich klammere mich fest an dem kleinen, glitschigen Rand, der mir noch bleibt, den Worten, die mich, endlich ausgesprochen, vielleicht wieder aufrichten können.



Schon immer stand ich etwas abseits der Leben der anderen, unterschied mich stets von ihnen. Ich war die Andere, die, die keiner verstand, seltsam, verschlossen, nachdenklich, ein Einzelgänger und ... naja. Aber ich für meinen Teil habe das immer geschätzt. Es gehörte zu mir, machte mich aus und ich war beinahe so etwas wie ... stolz darauf. Anders zu sein verschaffte mir Zeit. Als Beobachter ging ich durch die Welt, hinterfragte manches, philosophierte regelrecht und fand Antworten, zu denen andere meines Alters kaum die Fragen finden konnten. Ich schien irgendwie mehr zu verstehen, hatte meinen Frieden und meine Freiheit gefunden und genoss das Leben. Jeden Wimpernschlag davon. Jeden Augenblick. Nie hatte ich bereut. NIE.

Ja, meine Welt war friedlich, ausgeglichen und rein. Meine Gedanken hatten mich weitergebracht und führten mich schliesslich zu dem, was ich heute bin. Oder war - vor dem Abgrund.



Es ist eisig in dieser Grube, diesem Strudel aus kreisenden Gedanken, der mich um jeden Verstand zu bringen droht. Selbsterzeugt der Schlund aus Elend.... was auch sonst.

Die Finsternis ist dicht. Ihre Tiefe besteht aus Zweifeln, und in ihrem Sog umwirbeln mich die Splitter meines zerschlagenen Selbsts. Fetzen jener Illusionen, mit denen ich mir meine Welt, ja mein gesamtes Ich erbaute. Stück für Stück schuf ich Vorstellungen und Bilder von der Welt und den Menschen, nannte sie Wahrheiten und umgab mich mit ihnen, wie mit einer zweiten Haut. Trug eine Konstruktion aus Träumen wie eine Maske aus Glas. Solange, bis alles verschwamm und mir den Blick auf dasjenige nahm, was jenseits meiner Grenzen lag. Solange bis ich mich, eingeengt und festgenagelt an meine eigenen Regeln des Seins, nicht mehr rühren konnte, ohne dass meine Bewegung den Einsturz meiner brüchigen Realität bedeutete.

Paff!



Jetzt, danach, bin ich Leere. Nur noch Zweifel inmitten all der Scherben meiner Überlegungen, den Erzeugnissen all meiner Gedanken. Und doch kann ich es nicht aufhalten, das Rotieren und Martern in meinem Hirn, das jetzt, da es um sein extenzielles Überleben kämpft, mehr denn je die Grenzen zu sprengen versucht und zu beinahe körperlichem Schmerz geworden ist - ein Dröhnen im Kopf, eine panische Bangnis um die Brust.

Zum allerersten Mal in meinem Leben zweifle ich an allem. Ich frage mich, ob ich dadurch, dass ich anders war, einen Teil meines Lebens verloren habe. Verpasst. Ich stelle mir vor, wie es hätte sein können, wäre ich "normal" gewesen, und hätte ich nicht nach mehr gestrebt. Wie es hätte sein können, wenn ich mit meinen Hinterfragungen nicht so erfolgreich gewesen wäre und mich meine Gedanken mit all den eigenen Wahrheiten nicht zu jenem Punkt von Verständnis und Fernsicht geführt hätten, an dem menschliches Dasein jegliche Last, damit aber auch Bedeutung verliert. Wäre ich unbeschwert? Könnte ich durchs Leben gehen, leicht und ... einfach so, wie all die anderen Menschen, die ich sehe, wenn ich zum Fenster hinausblicke? Die mit Hunden spielen, ihre Freunde treffen und für etwas arbeiten, das sie sinnvoll nennen können.



Am meisten aber, ist es die eine Frage, die mich ängstigt. Die eine Frage, die mein Leben vielleicht wieder ebnen könnte, die ich jedoch nicht wage, mir zu stellen, weil ich das mögliche Eingeständnis zu sehr, die mögliche Wahrheit mehr als alles andere fürchte :

Was, wenn ich die Chance bekäme, "meine" Welt, mein so gehütetes, mir so heiliges Konstrukt einfach

zu vergessen ....
Eywlinn ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.06.2014, 16:20   #2
männlich TheLazyBum
 
Dabei seit: 06/2014
Ort: Rheinland Pfalz
Alter: 34
Beiträge: 47


Wow, echt ein sehr schöner Text. Wenn die Texte auf dieser Seite ähnlich schön sind, wird es mir wirklich gut gefallen!

Ich finde die Art, wie der Text geschrieben ist, von Satzbau und Wortwahl, sehr gelungen!
Vielleicht bin ich so begeistert, da mir auch das Thema gut gefällt und ich es nachvollziehen kann und sicherlich auch könnte, wenn ich es nicht kannte.

Hin und weg...
TheLazyBum ist offline   Mit Zitat antworten
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