Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Kolumnen, Briefe und Tageseinträge

Kolumnen, Briefe und Tageseinträge Eure Essays und Glossen, Briefe, Tagebücher und Reiseberichte.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 15.02.2013, 15:04   #1
männlich Desperado
 
Benutzerbild von Desperado
 
Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747

Standard Ich Narr

Ich steh aufm Wasser und werfe den bettelnden Enten Brotbrocken zu, die Augen der eisernen Statue am Ufer glühen in der Abendsonne, geben dem Präsidenten oder was auch immer den Anschein eines Götzenbildes. In der Ferne segeln Schiffe durch den Nebel, mitten im brausenden Hurrikan wurde ich geboren, eine Schlange in jeder Faust, die Freiheit wartet immer um die nächste Ecke auf mich, aber was nützt mir alle Freiheit, wenn die Wahrheit in unerreichbare Ferne gerückt ist?

Schnell wie die Sonne am Himmel versinkt mach ich mich auf und davon, ohne jemandem Lebewohl zu sagen. Nur Greenhorns stürzen sich blindlings ins Getümmel, um das alte Hasen einen großen Bogen machen, ihre Zukunft voller Schrecken schert mich nicht, von beiden nicht, wozu also sollte ich sie ihnen aufzeigen? Ich schäl mich ein weiteres Mal aus meiner Haut und bleib meinem Verfolger stets einen Schritt voraus.

Ich bin ein Mann der Berge, kann auf Wolken wandern, könnt Massen lenken, als würd ich durch Träume geistern, als Traumtänzer spazier ich durch Sodom und Gomorrha, was kümmert's mich? Keiner da, der meine Sister heiraten will, Freund bin ich der Märtyrer und gefallenen Mädchen, schau ich in einen glühenden Ofen, seh ich den reichen Prasser ohne Namen.

Ich tanz zum Lied der Nachtigall, schau dem Vöglein zu, wie es im Mondlicht in den Himmel steigt, ich, der Joker, ohohoho, ich Narr.

Die ersten Bücher der Bibel, Levitikus und Deuteronomium oder wie sie alle heißen, die Wüste, das große Grasland, der Urwald und das Meer sind meine einzigen Lehrmeister. Wenn ich auf meinem milchigen Schimmel durch das diesige Zwielicht reite, könnte kein Michelangelo meine Züge festhalten und in Stein meißeln, ich lümmle rum in den Feldern, weit weg von allem Trubel, außerhalb von Zeit und Raum döse ich vor mich hin, den Sternen so nah, während mir ein kleiner Hund das Gesicht leckt.

Der Gunman ist hinter den Kranken und Lahmen her, schleicht sich an sie heran genau wie der Prediger, keiner kann sagen, wer von Beiden sie zuerst kriegt, oder zuletzt, je nachdem. Totschläger und Dreckschleudern, geladene Colts und doppelläufige Knarren, Handfesseln aus gegossenem Stahl und scharfkantige Steine glitzern hinter jedem Vorhang, falschherzige Richter kommen in den Netzen um, die sie selbst gestrickt und gesponnen haben, der Anbruch der Nacht ist nur eine Frage der Zeit.

Eine Frau hat heute in dieser Schattenwelt einen Sohn zur Welt gebracht, unter einem glitschig grauen Himmel, sie kleidet ihn in scharlachrote Gewänder wie einen Prinzen, er wird die Reverends in die Tasche stecken und sein Eisen im Feuer härten, die Waisen von der Straße auflesen und einer Puffmutter vor die Füße legen. Ich weiß genau was er will, aber ich kümmer mich nicht drum.

Zur Melodie der Nachtigall tanz ich, die hoch über mir im Licht des Mondes fliegt, ich, der Joker, ohohoho, ich Narr.


Frei nach Jokerman
Bob Dylan/ Infidels 1983
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 15.02.2013, 18:56   #2
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
Alter: 67
Beiträge: 3.073

Hallo, Desperado,

deine Umsetzung des Songtextes von Dylans Jokerman gefällt mir!
Hast du dir auf tape.tv das Video angesehn? Die Bilder und Fotos dazu gefallen dir bestimmt!
Ich mag den Song und Dylan sowieso.

liebe Grüße,
simba
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2013, 09:47   #3
männlich Desperado
 
Benutzerbild von Desperado
 
Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747

Hallo simbaladung,

Das freut mich!
Als Echo was aus dem "Federhut":

Der Jewish läuft immer barfuß und behauptet Schuster zu sein.

Verschlossen aber hellwach ist er, kramt Stift und Papier aus seinem abgetragenen Rock, macht sich Aufzeichnungen und schreibt Gedichte. Wenn in irgendeinem Kaff am Ende der Welt, durch das unser Zug zuckelt, zwei Kerle in einem vergessenen Bahnhof ihre Kippen qualmen, tauchen die garantiert in seinen poetischen Zeilen auf.

In grauer Vorzeit soll es mal einen König gegeben haben, wie er zu erzählen weiß, der schrieb seine Melodien auf die Strahlen des Mondenscheins, man munkelt, dass er die Frauen in ihren Traumgesichten heimsucht, wenn sie süß und friedlich schlummernd davon träumen, die ganze Welt würde ihnen zu Füßen liegen.

Da holst du schon mal so ein süßes Herz aus der Gosse, seufzt er nicht ohne Weh, und bei der nächsten Gelegenheit, wenn du sie wirklich mal brauchst, lässt sie dich hängen.

Wenn die Nacht vom Himmel hernieder fällt, sinniert er, tanzt der Narr im Mondlicht zu Nachtigallengesang, er lümmelt im Gras als kindlicher Herumtreiber und zählt die Sternschnuppen, sein kleiner Hund leckt ihm das schmutzige Gesicht, vom Hügel herunter späht er als stolzer Reiter auf milchigem Schimmel weit in die Ferne, sein Anblick mutet an wie das Gemälde eines großen Meisters.

Der schält sich aus seiner Haut wie eine Schlange, lacht er grimmig, und ist über alle Berge bevor einer schaut, er weiß genau was Sache ist und wo der Hase lang läuft, aber er zieht nur eine böse Grimasse und schert sich nicht drum.

Der Mensch, sagt er traurig, nennt die Lizenz zum Töten sein eigen, das lässt er sich nicht mehr nehmen, da kannst du drüber brüten was du willst, ’s kommt daher, dass er sich ständig im Spiegel betrachtet und selbst anbetet. Der Satan kommt manchmal im Gewand des Friedensbringers daher, meint er hämisch, der steht direkt neben dir und du bemerkst ihn nicht, kennt jeden Song, der je gesungen worden ist und weiß wie man Frauen rumkriegt und sich blauäugige Jungs hörig macht.

„Diese Welt wird von Gewalt regiert, das sollte mal besser ungesagt bleiben, eines Tages werden sie noch deinen Gemüsegarten staatlich verbieten, wenn’s so weitergeht, ’s wird ja sowieso schon alles woanders hergestellt und sehr viel billiger dazu. Die Leute brauchen immer ihren Buhmann, weißt du, sie können keiner Fliege was zu Leide tun und lauern an seinem Bett, bis er endlich eingeschlafen ist, da kannst du die Zeit anhalten, einer muss immer der Schuldige sein und für alles herhalten.“

An einem vorbeihuschenden Bahnsteig lungern zwei Typen rum, der Rauch ihrer Zigaretten kräuselt sich in der Nachtluft, worauf die wohl um diese Zeit noch warten, weit und breit ist niemand in Sicht.

„Du kannst noch so weit gehen“, fügt er beiläufig an, „und die Wahrheit zerpflücken soviel du willst, es ist völlig egal, welchen Weg du einschlägst, durch was für finstere Gassen du stromerst, am Ende kommt doch nur Aug um Auge und Zahn um Zahn ’bei raus. Und durch wie viele dunkle Stunden du dich auch quälst, du bist geliefert und es ist um dich geschehen, wenn du dein Gesicht zu sehen bekommst, so von ich zu ich, von Angesicht zu Angesicht, das überlebt niemand, keiner kann das überleben, seit es Menschen gibt nicht, von Anfang an noch vor Beginn der Zeit.“

Das gefällt mir verdammt gut. Knochentrocken dahergebracht, zugleich gequält und trostlos, klar, gnadenlos ernüchtert sozusagen- und doch strotzend vor Lebenswut. Da weiß ich, dass die Welt untergehen kann, noch heute, den Zimmerman wird’s nicht kümmern, das geht in Ordnung, den bringt nichts mehr um.

„Das ist verflucht wahr was du da sagst“, geb’ ich ihm Recht, „so wahr wie etwas wahr sein kann. Überall laufen die Leute rum und tönen: der ist so und die ist anders, den kenn’ ich genau und über die weiß ich Bescheid, aber wer und wie sie selbst sind, davon haben sie keinen blassen Schimmer. Wüssten sie ’s , würden sie auf der Stelle tot umfallen“.

Der Jewish weiß genau wer er ist, aber das scheint ihn nicht weiter zu interessieren und er denkt nicht im Traum dran, tot umzufallen.

Lieben Gruß
Desperado
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2013, 10:25   #4
weiblich MuschelIch
 
Benutzerbild von MuschelIch
 
Dabei seit: 09/2012
Alter: 62
Beiträge: 309

Guten Morgen Desperado, guten Morgen simbaladung,

der Text und Deine Übersetzung des Jokerman sind klasse. Kryptisch, verschlüsselt und auf der Bildebene unmittelbar berührend.
Obwohl ich viele Dylan Lieder kenne, kenne ich das Lied nicht.
Es erinnert mich ein wenig an "It's a hard Rains a gonna fall".

Simbaladung kannst Du das Video hierher verlinken, das wäre schön.

Zu der Geschichte aus Deinem Federhut, Desperado, und dem eigenen Gesicht, das die Leute nicht ertragen würden zu sehen: Vor langen Jahren machte ich auf einem Seminar die Übung, dem Gegenüber ins Gesicht zu sehen - nicht direkt, sondern.... quasi hinter das Gesicht.
Wenn mensch das eine Zeit tut, tauchen Bilder auf ....viele ..... schöne und weniger schöne. Mensch sieht sozusagen in die inneren Welten des anderen.

So interessant wie es ist, würde ich keinem empfehlen, dies einfach aus
Spaß zu tun.

Der Mensch, sagt er traurig, nennt die Lizenz zum Töten sein eigen, das lässt er sich nicht mehr nehmen, da kannst du drüber brüten was du willst, ’s kommt daher, dass er sich ständig im Spiegel betrachtet und selbst anbetet.

Tja - dazu gibt es nichts zu sagen; es ist so zutreffend. Dein Roman ist sehr bunt und tiefgründig.

Liebe Grüße in ein schönes Wochenende

MuschelIch

Geändert von MuschelIch (16.02.2013 um 15:33 Uhr)
MuschelIch ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.02.2013, 14:48   #5
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
Alter: 67
Beiträge: 3.073

Hallo, Desperado,

danke für den Auszug aus deinem Federhut. Solche Texte haben für mich eine starke Sogwirkung, legen sie doch immer wieder den Finger auf die Abgründe der menschlichen Seele.

Hallo, Muschelich,

Ganz zurecht sollten solche Übungen nur in geschützten Raum von geschulten Kräften durchgeführt werden.
Ich hab auch von guten Bekannten von Übungen dieser Art gehört (u.a. Bibliodrama, Familienaufstellungen) - da wird man z.T. auf ganz tief verborgene Konflikte, Ängste etc der eigenen Persönlichkeit gestoßen, was ganz schön schmerzhaft sein kann.

Zu deiner Bitte, den Song zu verlinken, das kann ich leider nicht.
Muss ich mir mal bei Gelegenheit in Ruhe zeigen lassen.
Aber du brauchst in Google nur space.tv jokerman eingeben.

Ich wünsch euch beiden auch ein schönes Wochenende, trotz des grauseligen Wetters!

simba
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Ich Narr

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Der Narr Gryphon Düstere Welten und Abgründiges 12 11.06.2012 07:50
du Narr, Alexa Gefühlte Momente und Emotionen 2 10.01.2007 20:05
Der Narr Guardian Geschichten, Märchen und Legenden 6 15.10.2006 17:14
Der Narr Lady_Drakhena Gefühlte Momente und Emotionen 0 31.05.2006 22:49
Ein Narr shinigami Sonstiges Gedichte und Experimentelles 0 26.04.2005 20:38


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.