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Alt 28.12.2012, 09:00   #1
männlich Desperado
 
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Standard Der Kindermord zu Betlehem

Jetzt ist er also drin, vielmehr draußen, mein Weihnachtsgedichte-Zyklus von vor fünf Jahren. Hätte nie gedacht, dass ich den nochmal ausgrabe. Sicher, ich hatte meine Gründe seinerzeit, mich etwas eingehender mit der Materie zu beschäftigen, da kam so einiges zusammen, was die Sache im Nachhinein schlüssig macht und nachvollziehbar. Heute könnte ich ihn so nicht mehr schreiben, nicht etwa, weil ich mich von diesem großen Fest der Christenheit und Menschheit entfernt hätte, ganz im Gegenteil, die ruhelose und peinigende Nacht ist eine stille und schöne geworden und ich bin mit ihr befriedet. Das kann und darf man getrost ein Wunder nennen, bis dahin war ich geradezu ein Weihnachtshasser und auch das nicht ohne Grund. Erinnerungen, Prägungen und Erfahrungen, die bis heute ihre Gültigkeit besitzen- jetzt aber als so gut wie vollständig bewältigte Vergangenheit. Ich hatte einfach den Wunsch, mich von ihnen zu befreien und meinen Blickwinkel zu erneuern. Was mir –mit einiger Mühe- gelungen ist.

Im Fernsehen wurde mir jüngst mitgeteilt, dass es den Kindermord zu Betlehem nie gegeben habe. Weil es keine schriftlichen Aufzeichnungen gibt darüber. Eine überaus naive Begründung will ich meinen, denn ein König, dessen Machtbefugnis die Willkür einer Untat wie dieser ermöglicht, dürfte keinerlei Mühe gehabt habe, den unerfreulichen Vorfall mit einer Nachrichtensperre zu belegen, im Vergleich zu der gegenwärtige Vertuschungsversuche ein geradezu lächerlich stümperhaftes Unterfangen sind. Die Römer haben derlei interne Querelen ohnehin nicht interessiert, solange sie keine Bedrohung des erzwungenen Friedens darstellten, ein paar tote Kinder in einem Provinznest waren ihnen sicher keine Zeile wert. Stiftet nur Unruhe, die Sache unnötig aufzubauschen, zum Schluss fällt noch ein schlechtes Licht auf ihre Präfektur in Jerusalem, die wahrlich genug Scherereien am Halse hatte. Was der ohnehin entmachtete König dieses unzivilisierten Volkes im Einzelnen mit seinen Untertanen irgendwo in ländlichen Regionen so alles anstellt, fiel nicht in ihren Zuständigkeitbereich und fertig.

Nach der Zerstörung Jerusalems hatten die jüdischen Chronisten sehr viel dringlichere Probleme, als sich mit dem verjährten Verbrechen einer Dynastie zu beschäftigen, die es nicht mehr gab. Im Gegenteil, es galt festzuhalten und aufzuzeichnen, was ihre Volkszusammengehörigkeit festigte und ihre bedrohte Tradition verherrlichte, interne Erschütterungen und Schandtaten von Gestern wurden da schon mal großzügig unter den Teppich gekehrt. Gegen die mündliche Überlieferung freilich waren sie machtlos. Und auf diesem Wege gelangte das Massacker doch noch in die Chroniken, wenn auch in die christlicher Ausprägung, typisch für diese überaus lästigen Sektierer, diese Nazarener, dass sie das längst Vergangene und am liebsten Vergessene aus der Versenkung zerren und wieder aufwärmen müssen. Hätte man sich bei Licht besehen wirklich sparen können, diesen Schandfleck aus der Mottenkiste zu holen, weshalb das ums Überleben kämpfende Judentum sich auch weiterhin in um so gründlicheres Schweigen hüllt darüber.

Und die Römer- haben’s tatsächlich längst vergessen.

Es bedurfte weißgott keiner Weisen aus dem Morgenland, um Herodes zu dieser quasi vorbeugenden Maßnahme zu veranlassen. Im ganzen Land brodelten seinerzeit Weissagungen und Gerüchte um die anstehende Geburt eines großen Königs aus dem Hause David, der Israel aus der Knechtschaft sprich Besatzung befreien würde, die Astrologen und Sterndeuter setzten sogar den ungefähren Zeitpunkt für seine Niederkunft fest, im Volk herrrschten beträchtliche Unruhe und angespannte Erwartungsstimmung, Entwicklungen, die einem fragilen Despoten unter Fremdherrschaft überhaupt nicht gefallen konnten. Und weil immer wieder das vergessene Nest Betlehem genannt wurde als Ort des Geschehens, aus der Quelle irgendeiner alten Prophezeiung geschöpft, kam Herodes zu dem pragmatischen Entschluss, mittels eines statuierten Exempels den ganzen bedrohlichen Umtrieben und der monarchiefeindlichen Gerüchteküche ein endgültiges Ende zu setzen.

Hier habt ihr euren Provinzmessias, dummes, verführbares, abergläubisches Pack! König von Israel bin ich und werd es auch bleiben, bis mein erstgeborener Sohn die Regentschaft übernimmt, was hoffentlich noch lange nicht der Fall sein wird. Aber eins steht fest, mein Haus und meine Familie herrschen über das jüdische Volk, heute und auch in Zukunft. Da könnte ja jeder Dahergelaufene kommen! Aus Betlehem jedenfalls kommt er mit Sicherheit mal nicht mehr.

Durchaus zeitgemäße Vorgehensweise, so ein überschaubares und zu verschmerzendes Gemetzel zur Schadensbegrenzung. Wie die Sache sich im Einzelnen abgespielt hat, das wussten nicht einmal mehr die Geschichtenerzähler zu sagen. Nur dass die Trauer in Betlehem ungeheuer war und die Mütter untröstlich waren sprich daran zerbrochen sind. Ein einschneidendes Erlebnis zweifellos für die armen Leute vor Ort, mehr aber auch nicht und vor allem keine Sache von größerer politischer Bedeutung und Tragweite. Eine realpolitische Notwendigkeit am Rande der Geschichte sozusagen, den Römern keine Randnotiz wert und kein Anlass für die königlich kontrollierten Chronisten, es auf eine nicht einzuschätzende und höchtwahrscheinlich folgenschwere Konfrontation mit dem Hause Herodes ankommen zu lassen.

Den Kindermord zu Betlehem gab’s nicht, weil es keinen schriftlichen Bericht gibt drüber... ist schon eine Weile her, dass ich mir derlei pseudowissenschaftlichen Quatsch hab anhören müssen, der als Ergebnis gewissenhafter Nachforschung verhökert wird. Manchmal frage ich mich, wo diese hochgebildeten Leute über all ihrer Buchstabenklauberei ihren gesunden Menschenverstand gelassen haben. Wär schonmal ganz interessant, was es ihrem Urteil nach alles nicht gegeben hat, weil sie’s nirgendwo nachlesen haben können. Weil’s den einen nicht wichtig genug war und den andern unbequem. Mein lieber Mann, da würd’s aber ganz schön mager und dünnsuppig werden im Geschichtsunterricht der Schulen!

In der Biographie des Jesus aus Nazareth war’s jedenfalls wichtig genug, es wieder aufzugreifen und schriftlich zu fixieren, aber klar, man kann das Pferd immer von hinten aufzäumen und behaupten, das passte eben grade so ins Konzept dieses einen Evangelisten, um die Bedeutung des Mannes hervorzuheben, den er verehrt, der hat sich das quasi in künstlerischer Freiheit aus den Fingern gesogen. Und der König Herodes war in Wahrheit ein ganz ein Braver, der diese Bezichtigun einfach nicht verdient. War ja schließlich König, nicht wahr? Gut, sein Sohnemann hat sämtliche Propheten seiner Zeit um einen Kopf kürzer machen lassen, darunter auch den vom Volk viel zu sehr verehrten großen Bußprediger Johannes, der unverfroren genug war, nicht einmal vor den Schurkereien seiner Majestät halt zu machen... aber das ist ja wahrscheinlich auch frei erfunden. Denn Könige, die sind doch in Wirklichkeit ganz anders, so wie die Regierenden der Neuzeit eben, verleugnet und gehasst für ihre aufopferungsvolle Verantwortung im Dienste der Menschheit mit bisweilen für das gemeine Volk nicht nachvollziehbaren, unbequemen Entscheidungen.

So wie zum Beispiel der Ermordung der Kinder von Betlehem.

Geändert von Desperado (28.12.2012 um 12:17 Uhr) Grund: Rechtschreibung
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