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Alt 27.10.2012, 16:08   #1
männlich Desperado
 
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Standard Never Ending

Ein Pluspunkt in Dylans Musik ist unter anderem die Tatsache, dass bei weitem nicht allen alles gefallen muss ja kann, aber dennoch für jeden Interessierten etwas Ansprechendes dabei ist oder sein kann.

Die Menge seiner Folksongs der Anfangszeit ist schier unüberschaubar und sie sprechen für sich, alles, was Dylan bis heute ausmacht, ist in ihnen bereits vorhanden und grundgelegt, ihre Sprengkraft ist mitunter phänomenal, sie bestechen durch Aufrichtigkeit und Ausdruckskraft, da gibt es nichts dran zu kritteln.

Der Vergleich seiner Gospelphase mit einem ähnlichen Aufstand 1965, als Bobby zur E-Gitarre griff, ist stimmig, da johlten auch etliche Fanatiker, bezeichnenderweise in London sprich Europa lauter und gellender was von Verrat, Kommerz und scheußlicher Musik.

Pete Seeger, der in Newport 65 mit dem Hackebeil auf die Kabel losgegangen sein soll, war wahrscheinlich nur sauer, weil er das Zugpferd verloren hatte, das seine Folk-Festivals füllte, vielleicht gefiel ihm auch die Musik einfach nicht, jedenfalls war die Woge der „Empörung“ in den USA weitaus niedriger und flüchtiger als die in Europa, warum auch immer. Nichtsdestotrotz stieg die Zahl seiner Fans über Nacht rapide, weil es einfach Supermusik war, die er da mit seiner Combo machte, mit nicht weniger superben Texten.

Budokan nun ist eines der besten Konzerte der 78 Welttournee, manche sagen sogar sein bestes. Was Zusammenspiel und Kompaktheit anbetrifft, dürfte seine damalige Live-Band die perfekteste überhaupt gewesen sein, die Songs sind auf zum Teil erstaunlich originelle Weise arrangiert und peppig vorgetragen, andere sehr gefühlvoll und wehmütig, kurzum Dylan ist gut drauf, sangesfreudig und ungewöhnlich offenherzig.

Dylan selbst sagte mal beiläufig, dass die Leute glauben, man müsse immer fertig und am Ende sein, um zu Gott zu finden, was nun bei ihm so überhaupt gar nicht der Fall war.

Was die Live-Platten betrifft kam nach Budokan tatsächlich nichts mehr Vergleichbares, was aber an der lustlosen und unverständlichen Auswahl der Mitschnitte liegt, um die Dylan selbst sich nicht kümmerte, als an der Qualität der Tourneen selbst, gute und begeisternde Konzerte gab es immer und bei jeder, mal mehr mal weniger.

1983 feierte Dylan mit „Infidels“ mal wieder eines seiner umjubelten Comebacks, und alles fieberte voll gespannter Erwartung der anstehenden Tournee entgegen. Was im darauffolgenden Jahr schließlich aus der Versenkung stieg, war ein großangekündigtes Unternehmen mit dem zweideutig zwiespältigen Namen „Reunion Sundown“, mit Ex-Stonesgitarrist Mick Taylor, alter (Kampf)gefährtin Joan Baez und Carlos Santana im Gepäck.

Taylor war es offenbar nicht gewohnt, dass der Sänger regelmäßig seinen Einsatz verpasst oder ihm mitten in eins seiner brillanten Soli quäkt, ob das nun mit Absicht geschah oder aus Unkonzentriertheit weiß niemand zu sagen, weil wieder mal keiner schlau wurde aus dem, was in Bob Dylan grade so vorgeht. Ließ der jugendliche Dylan von 1966 seine Interviewpartner nicht ohne Witz und Charme auflaufen, stieß sie der missmutig verschlossene Mann mit Strohhut ’84 einfach grob vor den Kopf.

Das allerbeste jedenfalls dürfte es nicht gewesen sein, was da an ihm brodelte und gärte, etwa wenn er sich mit verkrampften Schultern und verkniffenem Gesicht von Mikro und Publikum wegdrehte als hätte eine Qualle ihn verbrannt und sich aus der Umklammerung wand, als ihm Baez beim Duettgesang kameradschaftlich(?) den Arm um die Schultern legen wollte. Oder mit pittoresken Verrenkungen das Publikum dirigierte, als dieses –vorwiegend Männer- den Refrain von „It ain’t me, babe“ mitgrölte.

Wenigstens in Carlos Santana schien Dylan einen Seelenverwandten gefunden zu haben, der bei seinen Einsätzen auf der Gitarre den Wind singen ließ über den leuchtenden Wolken der Zeitlosigkeit, ohne sich weiter um das Propellerflugzeug Band zu kümmern, das irgendwo weit dort drunten vor sich hindröhnte.

Trotz dieser und anderer misslicher Unstimmigkeiten raufte sich der Tross im Lauf der Tournee zusammen und legte ein paar große Abende aufs Parkett, die von den Bootlegern selbstredend mit entsprechendem Aufpreis herumgeschoben werden, zumal die offizielle Veröffentlichung der Tournee, der lieblos zusammengestückelte Fleckenteppich „Real Live“ nicht annähernd wiedergibt, was musikalisch damals wirklich geschah.

Anschließend schien es Dylan leid zu sein, den Übungsraum auf die Bühnen zu verlegen, und tat sich mit Tom Petty’s „Heartbreakers“ zusammen, der wohl besten amerikanischen Rockband jener Tage. Mit den „Farm-Aid“ Konzerten (Hungersnot amerikanischer Farmer!) legte die Formation einen furiosen Start hin und vermochte die Dynamik und Power, die Dylans Songs einen neuen Drive verliehen, über den ersten Teil ihrer Welt-Tournee 1986 mit dem wegweisenden Namen „True Confessions“ überzeugend aufrechtzuerhalten, das Publikum reagierte begeistert bis euphorisch, die Kritiker wohlgesonnen und versöhnt.

Nicht zuletzt dieses positive Echo dürfte die Ursache gewesen sein, die Dylan und Petty zu einer Fortsetzung im darauffolgenden Jahr bewog, diesmal unter dem sinnigen Namen „Temples In Flames“ (mit Roger McGuinn), die sie mal lieber bleiben lassen hätten sollen.

Petty, nun auch nicht gerade als Kind von Traurigkeit bekannt, schien sich mit Dylan persönlich offenbar noch besser zu verstehen als musikalisch, was sich nicht unbedingt förderlich auf die Konzerte auswirkte. Während der „True Confessions“ Konzerte noch -in geradezu artistischer Kongruenz einstudierter Vor- und Rückwärtsbewegungen nach jeder Liedzeile- im Duett vereint am Mikro, hatten die beiden Sumpfgurken bei den „Temples In Flames“ Auftritten Glück, wenn sie dabei nicht mit den Köpfen zusammendonnerten oder das Mikrophon von der Bühne fegten.

Hinterher schob Petty natürlich die Schuld –erlaubterweise- auf den Älteren und erinnerte sich 1992 in einem Song mit dem vielsagenden Titel „You Get Me High“ an diese bewegte Zeit, die er –vielleicht grade darum- als „eine der besten Zeiten, die ich je erlebt habe“ bezeichnet. Leadgittarist Mike Champbell indessen schlich sich nicht selten während der Gigs unauffällig von hinten an Bob Dylan heran, um Blick auf dessen Griffhand zu bekommen und an seine ratlosen Mitmusiker weiterzugeben, wo der sich grade ungefähr befindet.

Am 18. September 87 führte sie ihre Tournee u.a. nach Nürnberg zu einem Konzert, das bis heute unter dem Pseudonym „Der weiße Geist“ durch die mittelalterlichen Gassen gespenstert. Das Bootleg beweist, dass es musikalisch so schlecht nun wirklich nicht war, allerdings ließ sich Dylan fast über die ganze Auftrittslänge von hinten ausleuchten und bestrahlen und präsentierte sich –ganz in weiß- als gespenstischer Schattenriss einem verstörten Publikum.

Bis auf den Konzertfilm „Hard To Handle“ (von mittelmäßiger Tonqualität) gibt es keine Live-Veröffentlichungen aus den Jahren 86/87. Offenbar spürte Dylan bei diesem Tournee-Marathon zum ersten Mal die Last der Jahre und wirkte sichtlich erschöpft und ausgelaugt, ja ausgebrannt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die 86 erschienene ziemlich schräge Studio-LP mit dem wenig ermutigenden Namen „Knocked Out Loaded“ und noch schrägerem Cover verschreckt.

Auch seine mehr oder weniger spontan entstandenen Konzerte mit der Hippierock-Legende „Grateful Dead“ im Rahmen der „Flames-Tour“ 1987 stießen auf eine Resonanz, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnte. Während die einen begeistert alte Zeiten wiederauferstanden sahen und ausgelassen feierten, waren andere schlicht brüskiert.

Der bald darauf verstorbene Songwriter, Sänger und Gitarrist Jerry Garcia, erklärter Folkfan, verstand sich prächtig mit Dylan und zierte seine Songs mit feinen unverwechselbaren Soli, während der Rest der Band unüberhörbar Probleme hatte mit dem –vorübergehend- bärtigen Typen mit Piratentuch auf dem unfrisierten Kopf, der seine E-Gitarre bearbeitete zu gequältem Gesang, als spielte er auf einer wurmstichigen Holzveranda in den Slums, ohne sich dabei groß mit Nebensächlichkeiten wie Rhythmus oder Tonart aufzuhalten.

Dennoch fand die Fusion im Laufe ihrer insgesamt 42 Konzerte zu durchaus hörenswert instrumentalem Dialog und glänzte mit denkwürdigen Vorstellungen, die in dem Album „Dylan & The Dead“ leider nur sehr bruchstückhaft und somit verfälschend festgehalten sind, einen ungefähren Eindruck jedoch vermittelt die Scheibe allemal.

Dylan hingegen gönnte sich keine Pause, schöpfte neue Schaffenskraft aus der fruchtbaren Zusammenarbeit mit den „Traveling Wilburys“ (u.a. mit George Harrison), startete durch und begann im Juni 88 mit zusammengewürfelter Rock-Combo seine „Never Ending Tour“, der Name stammt nicht von ihm, blieb aber trotz seines Versuchs einer Relativierung bestehen. Die Neunziger konnten kommen.

„Ein manifestes Alkoholproblem.“

So erklären einige Dylanologen manch seltsames Ereignis in der Zeit um den Jahrzehntewechsel 80/90. Wer so böse ist zu behaupten, Dylan sei damals so besoffen auf die Bühne gewankt, dass er sein Mikro nicht fand und daneben vorbei schnarrte, bis ihn sein mitfühlender Gitarrist zurechtrückte, tut das nur, weil er es mit eigenen Augen mit ansehen musste.

Tatsächlich aber hatte er nur das Pech, sein Geld in einen vermurksten Abend gesteckt zu haben, denn im Großen und Ganzen brachte Dylan seine Konzerte zwar mit konzentrierter Destruktivität (in zum Teil obskur absurder Kostümierung) aber durchaus ordentlich über die Bühne. Die Holprigkeit der ersten Phase seiner Never Ending Tour erklärt sich viel eher damit, dass es rund vier Jahre brauchte, bis sich eine kompatible Band um den inzwischen sichtbar alternden Troubadour zusammengefunden hatte, aber der schien im Gegensatz zu früher –bei aller Getriebenheit- plötzlich alle Zeit der Welt zu haben.

Zwischendrin hagelte es Preise und Ehrungen, die Dylan mit nicht zu übersehender Gleichgültigkeit in Empfang nahm und über sich ergehen ließ, einmal wortkarg und abwesend ein andermal fiebergeplagt und schwer erkältet, die Medien stürzten sich wie gewohnt auf jedes seiner genuschelten oder gestammelten Worte und vernachlässigten dabei wie üblich die Musik, zum Beispiel ein zorniges und abgeklärtes „Masters Of War“ zur Grammy Award Verleihung 1991 für sein Lebenswerk- vor einem vom Golfkrieg aufgewühlten Publikum.

1994 ist erst mal eine Weile Funkstille, Dylan erkrankt an einem lebensbedrohlichen Lungenpilz, den er sich nach eigenem Bekunden bei der Besichtigung einer Hühnerfarm eingefangen hat (was die Frage aufwirft, ob die amerikanischen Hühnerfarmer ihr Geflügel mit Cannabispflanzen füttern), erholt sich aber gut und legt Ende 1994 mit seiner inzwischen zu Konformität gereiften Tour-Band im Rahmen der Unplugged Hysterie einen durchwachsenen MTVAuftritt mit Höhe- und Lichtpunkten aufs Parkett.

Die „Never Ending Tour“ geht unterdessen unermüdlich weiter, mit der langlebigsten Formation um die Gitarristen John Jackson und Bucky Baxter zeigt Dylan neuerdings eine Vorliebe für Acts der besonderen Art und beehrt diverse Großveranstaltungen verschiedenster Urheberschaft mit seiner Anwesenheit, rockt in Woodstock beim Jubiläumsfestival, in der Hall of Fame und vor dem Papst, auf dem Festival Roskilde und mit „The Who“ im Hyde Park, um nur ein paar wenige der vielen zu nennen, die Zahl seiner Konzerte übersteigt die aller bisherigen Touren längst und um ein Vielfaches, und ein wiedererstarkter Dylan erweckt nicht den Eindruck, an ein Aufhören zu denken oder jemals an ein Ende zu kommen.

So gut wie von der ersten Stunde an bis heute mit von der Partie ganz nebenbei Bassist Tony Garnier, Wegbegleiter und Mitstreiter bis dato.

Spätestens seit der Jahrtausendwende begeistert, fasziniert und überzeugt Dylan ein Publikum quer durch alle Altersgruppen und Gesellschaftsschichten mit dynamisch lebendigen Konzerten, in denen er von Abend zu Abend variierend abwechslungsreich auf so gut wie das gesamte Liedgut seiner Karriere zurückgreift und die Songs in völlig neuem Gewand präsentiert (unter anderem eine fulminante Version des Dauerbrenners „All Along The Watchtower“, die Jimi Hendrix’ Veredelung alle Ehre macht), an deren brillanter Qualität weder der stete Musikerwechsel, etwa der Abgang des langjährigen Gitarristen Larry Campbell, etwas ändert noch der wohl durch ein chronisches Rückenleiden bedingte Wechsel Dylans von der E-Gitarre erst zum E-Piano und inzwischen zur Hammondorgel.

Dylan bespielt auch die Tasteninstrumente mit eigenwilligen mitunter schrägen Improvisationen und nimmt somit jeden Anflug von Konventionalität aus seinen Konzerten, die inzwischen mehr oder weniger vergreiste Stimme tut das ihre dazu, während die Band durch kongeniales Zusammenspiel und zum Teil grandiose Instrumentalsoli vom Hocker zu reißen vermag.
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