Das Siegerland

[Lux]

Mein Großvater ging in den letzten Zügen des zweiten Weltkrieges in amerikanische Gefangenschaft. Eigentlich ging er nicht, er rannte. Weg von den Sowjets - die große Flucht vor dem Iwan. Aber das ist eine andere Geschichte.
Jedenfalls war es so, dass sich die deutschen Gefangenen im Lager zu orientieren versuchten. Wer kam woher? Wer hatte Nachricht von der Heimat? Wer kannte vielleicht einen entfernten Verwandten?
Doch das Gefangenenlager war groß, unheimlich viele Menschen zusammengepfercht auf dem Weg in eine ungewisse Zukunft. Die Methode der ehemaligen Soldaten hingegen war so einfach wie genial: Mit Kohle, Stiften oder Nähgarn – je nach dem was zur Verfügung stand – schrieb man den Namen seiner Herkunftsregion auf seine Mütze. So trafen Ruhrgebietler auf Ruhrgebietler, Hessen freuten sich, mit Hessen zu babbeln und die Schwaben träumten gemeinsam von Schwarzwälder Kirschtorte und der süßen Heimat.
Nur meinem Großvater gelang es einfach nicht, Anschluss, geschweige denn Bekannte aus seiner Region zu finden. Im Gegenteil: Er wurde gemieden, sobald er an einer Gruppe vorbei ging, begannen die Männer zu tuscheln und zu flüstern. Auch die amerikanischen Bewacher des Lagers betrachteten ihn mehr und mehr mit unverhohlenem Argwohn und unterdrückter Wut. Großvater wusste sich einfach keinen Reim darauf zu machen.
Endlich sprach ihn einer der Kameraden an: „Bist du eigentlich verrückt, Mann?“ Er riss ihm die Mütze vom Kopf. Darauf stand es in großen, kohlenschwarzen Lettern geschrieben: „SIEGERLAND“.

Nach anfänglichem Unverständnis ging meinem Großvater dann doch noch ein Licht auf. Er änderte den Schriftzug eiligst in „SÜDWESTFALEN“.

Da hat er noch einmal Glück gehabt, denke ich…

[Ex Carina M.]

Liebe Lux,

da hat dein Großvater aber wirklich Glück gehabt.
Hierbei zeigt es sich wie dramatisch Missverständnisse sein können.

Lieben Gruß,
Carina

[Poetibus]

Hallo, Lux,

ja, ich denke auch, dass dein Großvater (ist es deiner?) Glück hatte.

Damals waren die Umstände, bedingt durch den Krieg, nicht nur anders, sondern wohl ganz anders.

Er dachte sicher überhaupt nichts "Schlechtes", es sorgte aber sein (auf mich, natürlich aus "heutiger Sicht", wie eine "harmlose Gedankenlosigkeit" wirkender) Lapsus prompt dafür, dass "schlecht über ihn gedacht wurde" - wobei es wirklich verständlich ist, dass die Aufschrift "Siegerland" zu einem gründlichen Missverständnis führte. Wer nicht zufällig wusste, dass das schlicht der Name einer Region ist, musste das zur damaligen Zeit in den falschen Hals bekommen ...

Wie leicht etwas missverstanden wird, kann man ja sogar heute in einem Lyrikforum immer wieder mal erleben.

Eine Kleinigkeit noch:

Im Gegenteil: Er wurde gemieden, sobald er an einer Gruppe vorbei ging, begannen die Männer zu tuscheln und zu flüstern. - Da hier der Satz eigentlich "zu Ende" ist, wäre ein Semikolon gut geeignet, falls du keinen Punkt setzen möchtest.

Die Geschichte hat mir gefallen.

Freundlichen Gruß,

Poetibus

[Ex Carina M.]

Wie leicht etwas missverstanden wird, kann man ja sogar heute in einem Lyrikforum immer wieder mal erleben.

Wohl wahr.