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Alt 22.11.2010, 23:07   #1
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Standard Rede auf einer Beerdigung

Rede auf einer Beerdigung

Vielen Dank, Pater Markus, für Ihre mitfühlenden Worte und Ihre Anteilnahme.
„Auch wenn wir es heute noch nicht begreifen können und voller Verzweiflung und Trauer sind, gibt es doch einen Sinn hinter all diesem Unglück. Die Wege des Herrn sind unergründlich“, sagten Sie in Ihrer Rede.

Das ist leider der letzte Schwachsinn. Was für einen Sinn soll es bitte haben, wenn ein fünfjähriges Kind stirbt? Was für einen beschissenen Grund hat Ihr Gott dafür?
Ich finde keinen. Ich finde keinen! Sagen Sie ihn mir!

Wenn Gott so ist, wie Ihr ihn beschreibt, groß gut und allmächtig – dann würde er kein Kind töten. Denn wer zulässt, dass ein Kind stirbt, obwohl er es verhindern kann, ist sicherlich nicht gut. Und wer nicht verhindern kann, dass ein Kind stirbt, ist nicht allmächtig. Also was ist Gott? Schwach - oder böse? Ich weiß es nicht. Aber das muss ich auch nicht. Zu keinem von beiden würde ich beten wollen.

Gott hat eigentlich nur seinen Sinn, wenn er Menschen in irgendeiner Art nützt oder hilft. Vielen hilft er ja auch, sich besser zu fühlen, vor allem sonntags. Sie gehen morgens in die Kirche und denken, sie hätten dann was geleistet, sind jetzt gute Christen, gute Menschen und legen sich wenn sie wieder zu Hause sind erst mal mit einer Tüte Chips auf die Couch und schauen das Supertalent.
Natürlich kann der Glaube an ihn auch irgendwelchen Menschen positive Kraft oder Halt oder Orientierung oder Hilfe nach einem Verlust geben, wenn sie auf die Frage nach dem Sinn fadenscheinige Antworten wie „Die Wege des Herrn sind unergründlich“ bekommen und sich in ihrer Dummheit damit zufrieden geben. Aber Menschen, die sich an so etwas festkrallen, weil sie nicht den Mut haben, ihr Leben zu leben, sind doch ehrlich gesagt ziemlich erbärmlich.

Keiner kann sagen, ob es eine höhere Instanz gibt oder nicht. Deshalb ist es auch vollkommen sinnlos, darüber zu spekulieren, darauf zu hoffen oder sogar daran zu glauben. Es ist egal ob es ihn gibt. Ich brauche ihn nicht. Ich brauche ihn nicht zum leben, ich brauche ihn nicht zum sterben, ich brauche ihn nicht einmal um die Welt zu erklären.

Ich weiß, dass ich von Nichtrelevanz nicht auf Nichtexistenz schließen kann. Aber wenn es Gott am Ende doch tatsächlich geben sollte, und er gut ist, dann wird es ihm egal sein, ob ich an ihn geglaubt habe oder nicht. Wenn er gut ist, wird für ihn nur das zählen, was ich getan habe, ob ich ein guter Mensch war. Wenn er gut ist, wird er fragen, ob ich zwanzig Menschen vor dem Verhungern gerettet habe, und nicht ob ich zweihundert Menschen zum Christentum bekehrt habe. Er wird sagen, ich hätte lieber etwas Nützliches machen sollen, anstatt in die Kirche zu gehen und mir größtenteils jedes Mal identische Leiern anzuhören oder, was der Inbegriff aller Sinnlosigkeit ist, etwa Rosenkränze zu beten. Das Wichtige ist, gut zu sein. Zu lieben. Zu teilen. Unser Privileg, die Tatsache, dass wir zu den Reichen dreißig Prozent der Welt gehören, positiv auszunutzen. Wenn es Gott geben sollte – und er gut ist – wird er das als Einziges anerkennen. Und sollte das nicht so sein, so will ich lieber in irgendeiner Hölle schmoren als in seinem kitschigen Garten zu wohnen.
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