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Alt 18.11.2020, 23:03   #1
männlich Jakob Blumenthal
 
Dabei seit: 11/2020
Beiträge: 3


Standard Der Husten

Herr X bezog eine Einzimmerwohnung im zweiten Stock eines mehrstöckigen Mehrfamilienhauses. Schlecht war diese Wohnlage nicht, durchaus fehlte es ihm nicht an einem luftigen Bett, altem hübschen Mobiliar oder einem zur belaufenen Hauptstraße zeigenden Fenster.

Er hatte im Kühlschrank noch eine Torte entdeckt, die er sich zum Verzehr herausstellte. Kurz überlegte er, zu welchem Anlass er überhaupt diese essen wollte, und fand keinen. Aber das war nicht schlimm, manche Menschen aßen Torte ausschließlich an Geburts- und Feiertagen, und wiederum gab es andere manche Menschen, die sich nicht zu schade waren, sich auch ohne jeglichen Anlass ein Stück Torte zu gönnen. Zu diesen andern manchen Menschen gehörte X.
Über seine Person ließe sich nicht viel sagen. Er war angestellt bei einem namhaften Unternehmen, aber lange bei keinem Weltkonzern und hatte ein Hobby, das kein ihm nahestehender Bekannter auf solch passionierte Weise wie er auslebte, und trotzdem gab es wahrscheinlich doch genug Leute irgendwo mit ähnlicher Motivation und ähnlichem Talent für dieses. In seinem engen Freundeskreis ähnlicher Männer mittleren Alters erzählte er gern davon, er kam sich dann weniger mittelmäßig vor. Aber solche Empfindungen waren selten und vom monotonen Berufsleben und dahinholpernden Alltag übermantelt, die ihm ununterbrochen seine Ordinärität zuflüsterten. Sein Verdienst pendelte ihn in den unteren Teil der Mittelklasse ein. Zwar bezog er bloß eine Einzimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus, doch kannte er noch den Luxus, sich mitten im Nachmittag, der selbst jetzt beim zweiten Überdenken auch nicht den kleinsten Anlass dafür hätte bereithalten wollen, ein Stück Torte zu verspeisen.

Ein Achtel Stück von der Torte war also abgeschnitten und auf einen Teller gebracht. Während er gerade auf dem krustigen Rand kaute und gleichzeitig versuchte sein eines Fenster zur Straße hin zu öffnen, geschah es, dass die harte Kruste in seine Luftröhre rutschte und stecken blieb. Das war kein Grund zur Panik, es war ja bloß dadurch verschuldet, dass er durch das Öffnen des Fensters in seiner Ruhe für das Kauen nachließ. Es bestand überdies wirklich keinerlei Grund zur Panik, da solch misslichen Situationen ihm nicht unüblich waren. Ein richtiger Mann wird sich wohl aus dieser Situation zu schaffen wissen, dachte er. Indem ein paar genügende Male er mit seiner Hand auf den Rückenbereich unter dem Nacken klopfen müsste, dachte er. Und wenn das nicht klappen sollte, - ohne fremde Hilfe ist es nämlich durchaus kein Leichtes, sich in diese Position zum Klopfen zu verrenken - wird durch mehrmaliges Aushusten der Brocken schon von selbst heraushüpfen müssen. Das war ein gar nicht so kleiner Brocken, dachte er. Ihm war dieser gar wie ein ganzer Klos im Hals, in der Vorstellung nimmt so ein Brocken enorme Größen an, weil ihm so viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Das müsste eigentlich dann bedeuten, dass es sich um einen etwas kleineren Brocken handeln musste und sein Verstand ein wenig übertrieb. Normalerweise kaute er ja auch so gründlich, bis die Speise wie ganz kleiner Brei in den Magen herunterlaufen durfte. Das Gefühl der Bleikugel im Hals, die versuchte, alle Bänder dessen zusammenzunehmen, um auf ihnen wie auf einer kratzenden und juckenden Violine zu spielen, mag doch in Wirklichkeit durch ein mikrometergoßen Korn bestimmt sein.

Nach einer Weile gab er das Klopfen auf den Rücken auf und hustete immer wärmer werdende Luft aus. Aus einer neutralen Betrachtung sah es aus, als beschimpfe X mit seinem steten Husten einen unsichtbaren Feind, wobei er sich ab und zu in eine andere Richtung drehte, als würde dieser Feind durch den Raum umherlaufend von X gejagt werden. Im Verlauf dessen fiel er irgendwann zu Boden und behielt seine Bewegungen jetzt liegend bei. Dadurch, dass er das Fenster aufgemacht hatte, wurden Passanten auf der breiten Hauptstraße auf seinen Lärm aufmerksam und glubschten durchs Fenster erstarrt wie Rehe vor Autoscheinwerfern. Langsam schloßen die Neugierigen sich einander zu Grüppchen und machten schon Scherze über X in einer spießigen Redensart, die keinem Mittelklasse-Bürger unverwandt ist. Nach einiger Zeit blickte eine große Menge an Menschen zusammen auf das lärmende Fenster, sodass es den Anschein machen wollte, als seien sie in der Erwartung, dass eine Berühmtheit, die für den Lärm verantwortlich gehalten wurde, der Menge ihr Gesicht enthüllen wollte. Und bald trat X auch zum Vorschein vor sein Publikum, indem er sich an der Fensterbank aufstützte und sich auf beide Beine hinstellte. Da jetzt klar war, dass X der Lärmende war, waren die Passanten sehr befriedigt, dass man das Gelärm nun einem Gesicht zuordnen konnte. Allerdings enttarnte sich das dunkle Röcheln, das die Passanten erst als Motorengeräusch verkannten, nun als der Husten eines Menschen, weshalb alle Zuschauer ein paar Schritte vom Fenster weg traten, als X sich über die Brüstung lehnte und auf die Straße hinaus hustete, wobei seine Schwindelein ihn nach vorne beugten. Das geschah durchaus nicht aus böser Absicht als einen kurzen Kontrollverlust über seinem Körper. Der Schritt nach hinten, den die Leute getan hatten, war fraglich vonnöten angesichts der Tatsache, dass der Abstand von dem herauslehnenden X und der Fußsohlen der vorderreihigen Zuschauer gute drei Meter ausmachen wollte. Über das reichliche Publikum konnte X in diesem Augenblick sich allerdings überhaupt nicht freuen, da an der Stelle des Juckreizes am Hals nun ein stetig schneidender warmer Schmerz entstand. Mit seiner umschließenden Hand umgriff er seinen Hals und bemerkte, dass das festsitzende Stück Torte sich nicht fortbewegt hatte. In die Menge schrie er Hilfeschreie, man musste ihm helfen, er wusste, dass er das hilflos nicht durchstehen würde. Bloß erahnen konnte er, ob der Schrei angekommen war, weil die Anstrengung ihn schon so schwindelig gemacht hatte, dass er nur noch schwer hörte. Aber er meinte erkannt zu haben, dass einer von denen da Draußen daraufhin, sein Handy zum Telefonieren herausnahm und zu seinem Ohr führte. Ihm ging durch die erschwerte Atmung langsam die Kraft im Körper verloren und irgendwann ließ er sich wieder mit dem Rücken auf den Boden zurückfallen. Seine Augen flimmerten müde an der blauen Decke, nur seine Ohren nahmen das Rauschen des Tumults von der Straße entgegen. Zwar dröhnte noch der Hals, aber dadurch, dass er aus der friedlichen Position des Liegens keinen Muskel zur Anstrengung brachte, legte sich ein kurzes Gefühl der Betäubung auf den pochenden Schmerz. Als er von draußen die Sirene eines Krankenwagens hören konnte, raffte er sich wieder auf zum Fensterbrett und spürte das Klopfen des Schmerzes wieder ansteigen. Vor dem Fenster hielt ein Krankenwagen, dessen Türen gleichzeitig aufsprangen und aus dem sodann zwei orangene Sanitäter traten. Sie versuchten nah ans Fenster zu treten, schreckten aber sofort zurück, als X sich nicht zurückhalten konnte, in ihre Richtung zu husten, weshalb er etwas beschämt sich aus dem Fenster in seine Wohnung zog.
"Wir sind die Hilfe", sagte einer der Sanitäter. Allerdings versagte X durch sein Röcheln im Versuch zu antworten. Beide Sanitäter blickten ihn forschend an und hätte sich nicht ein Mann aus der Reihe der Zuschauer entfernt, um an die beiden Unbeholfenen zu treten, und hätte der sich nicht zum Ohr des einen gebeugt, der vorher mit X zu sprechen versucht hatte, wahrscheinlich hätten die Sanitäter ewig so auf X gestarrt. Was der mutige Mann zum Sanitäter gesagt hatte, bleibt ungewiß, das einzige, was X davon mitbekam, war der Anblick, dass der Mann mit den Fingern zeigend und aufzählend den verwirrten Sanitäter zu belehren schien. Nach einiger Zeit wendete der Mann sich fort und der Sanitäter rief zu X herauf: "Sie zeigen eine hinreichende Anzahl an Symptomen auf, was heißt, dass wir Ihnen, so leid es uns tut, eine häusliche Quarantäne anordnen müssen. Sie sind eine Gefährdung für die Allgemeinheit." Dabei traten alle Zuschauer im Gleichschritt zwei Meter zurück und setzten sich Schutzmasken auf. Leider bemerkten die Sanitäter nie, die wenig später unter Beifall wegfuhren, dass unser Bürger am Ersticken war. Die meisten Zuschauer verzogen sich auch danach, nur ein paar blieben und sahen noch einen Wagen ans Fenster heranfahren, den sie gerufen hatten. Es war der Leichenwagen, der X einlud.
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