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19.03.2018, 20:53 | #1 |
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Alternativen
Andrea liebte Bücher. Von Sachthemen bis zu allen Gattungen der Belletristik las sie, was sie in die Finger bekam, oft drei bis vier Bücher parallel, die sie in weniger als einer Woche schaffte. Wenn ihr eine Geschichte besonders gut gefiel, hörte sie nach dem zweiten Drittel mit dem Lesen auf und schrieb das Ende selbst. Im Laufe weniger Jahre hatten sie eine beachtliche Anzahl von alternativen Szenarien geschrieben, wie eine Geschichte hätte enden können.
Nie verglich sie ihre Version mit dem Original, nie wusste sie, wie der Autor seine Geschichte enden ließ. Sie machte sich einen Spaß daraus, ihre Freundinnen, nachdem sie das gleiche Buch gelesen hatten, zu fragen: „Wie gefiel euch das Ende?“ „Einfach phantastisch! Diese Wende hätte ich nicht erwartet.“ „Eine brillante Lösung, etwas anderes konnte man von einem Bestseller-Autor nicht erwarten.“ „Ich habe mir die Augen ausgeheult.“ Dann setzte Andrea ihre unschuldigste Miene auf. „Sprechen wir von demselben Buch? Eine Wende? Eine Lösung? Der Typ ist den Weg des geringsten Widerstandes gegangen und hat sich gegen seine große Liebe entschieden. Ist das ein Grund zum Heulen? Ich bekam Frust und hätte ein komplettes Kaffeeservice an die Wand klatschen können!“ Für gewöhnlich sah Andrea irritierte Blicke auf sich zufliegen. Manchmal dachte sie, dass sie eine gemeine Tour spiele, aber der Spaß war einfach zu köstlich, um damit aufzuhören. Sie sah den Gesichtern an, wie es in den Köpfen zu tickern begann. Das Gedächtnis schürfte nach Argumenten, aber es traute keinem Wort mehr, das es in seinen Schubladen abgelegt hatte. Bilder, die eine Geschichte in sein Archiv gebrannt hatte, wurden auf Echtheit oder Fälschung geprüft, ohne zu einem zuverlässigen Ergebnis zu kommen. „Ich dachte, er hätte seine Frau verlassen.“ „Ich auch. Er ist doch mit seiner Geliebten …“ „… durch die Bars getingelt, in denen sie aufgetreten ist.“ Andrea lächelte nachsichtig und zog dabei die Stirn in Falten. Dann pflegte sie eine komplette Zusammenfassung ihres Endes der Geschichte nebst einer überzeugenden Interpretation zu präsentieren, was ihren Freundinnen den Rest gab. „Ich glaube, ich muss gehen. Morgen muss ich früh raus.“ „Ich bin auch müde. Wir reden beim nächsten Mal weiter.“ „Oh je, Manfred wartet. Ich bin schon eine halbe Stunde zu spät.“ Wie immer nickte Andrea verständnisvoll: „Schon gut, ihr Lieben. Wir telefonieren.“ Kaum waren die Freundinnen weg, setzte sie sich an ihren Computer und begann eine neue Endversion zu schreiben. Sie schmunzelte bei der Vorstellung, wie jetzt drei Frauen, die vorgaben, müde zu sein oder etwas Wichtiges zu tun zu haben, den Roman vom Regal holten und die halbe Nacht damit verbrachten, sein Ende nochmal und nochmal zu lesen und dabei das Gefühl zu haben, nicht bei Verstand zu sein. |
19.03.2018, 22:52 | #2 |
Kurz, knapp und gemein.
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