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Alt 09.04.2015, 17:54   #1
männlich Sephoniel
 
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Standard Das Lebkuchenhaus -1-

Willkommen, in meinem Brunnen. Damit ist natürlich kein Schacht voll Regenwasser gemeint, dessen Wände mit bemoosten Steinbrocken ausgekleidet sind, verbunden durch eine dicke Schicht Beton, die das Wasser davon abhält, ins Erdreich zu entrinnen. Nicht jener, von welchem man mit Eimern voller sprudelnd Quell nach Haus‘ umkehrt. Nicht eben jener, der mal voll von Wasser sich beläuft, und mal, von Dürre dem lebenswichtigen Nass beraubt, in Staubfontänen sich verschlingt. Es war vielmehr Bestandteil einer unfassbaren Allegorie, dem Schatten meines Selbst, mit Händen unerreichbar, und selbst durch das geschickte Wort kaum fassbar. Tief reicht er hinab, bis in die tiefsten Schichten des Verstandes, unergründet, schwarze Dunkelheit. Und tief dort unten, am Boden lauerte im Schatten der ewigen Nacht das Monstrum, vor dem jeder Mensch im Zweifel seines Angesichts erneut zum kleinen blassen Kind verkam, und sich wohlig nach der nährenden Herdfeuerwärme des heimischen Ofens sehnte. Mit scharfen Klauen griff es nach allem, was sich den Weg nach unten freikämpfte und den Mut besaß, einen Augenblick in tiefer Schwärze zu verbringen. Zerschnitten und blutend entließ es jene ungebrachten Opfer anschließend ins scheinbare Licht, das hoch von oben nur noch minimal von der wallenden Wasseroberfläche reflektiert wurde. Doch das alles war nur ein gut durchdachtes Spiel, ein einsamer Schachzug in einer Partie, die längst verloren war. Wähnte sich das tapfere Geschöpf am Boden des Bewusstseinsbrunnens eben noch in Sicherheit und schwelgte bereits wieder auf den Wolken, die Tag um Tag hoch droben dieses Loches ihren Pfad einschlugen, so war es doch nur ein unbeabsichtigter Tribut, der jenem Wesen geopfert wurde, was tief in uns drin schlummerte, und nur durch den Geruch von frischer Angst geweckt zu werden vermochte. Stumm verlieh es uns eine Tiefe, eine neue Dimension, die nur von den neugierigsten Entdeckern, die furchtlos in die Gestaden der Seele hinabsegelten. Durch dieses Monster erhielten wir eine Seele, die uns ebenso zum Gegenteil der Person machte, die wir vorgaben zu sein, indem es auf uns all die Makel wiederspiegelte, die wir in unserem Dasein ach so verzweifelt versuchten zu entrinnen. Es hinterließ einen Schatten, wo immer es zum Vorschein kam, seinen Weg aus der marionettenartigen Hülle fand, die wir als Gesamtheit der natürlichen Existenz bezeichneten. Es durchschlug wie ein Hammer die zerbrechliche Maske aus Porzellan, die den Menschen von der Außenwelt abschirmte und ihm ein qualvolles Eigenleben gewährte, eine Doppelidentität, die Verwirklichung des totalen, und paradoxerweise durch Medien suggerierten Drang nach Individualität und Geltung. Und dennoch wusste der gemeine Mensch nicht, dass sein scheinbar leidendes zweites Ego, hinter dem Mantel der oberflächlichen Ruhe, ebenfalls nur die Spitze eines Eisbergs war, der in jedem Moment darauf lauerte emporzusteigen und all jenes zu vernichten, was ihn solange ihn seinem Käfig der Angst gehalten hatte. Im Prinzip verlieh er uns erst den Charakter, der in uns zu sehen war. Zu unbeständig waren die Strömungen an der Oberfläche, die in stetem Wechsel der Jahre einer konstanten Reihe an Veränderungen unterworfen waren. Der Mensch änderte sich, seine Ansichten und seine Lebensart, mit jeder neuen Welle, die an den Strand des Lebens brandete, und eine Handvoll Ahnung mit sich brachte, wie wohl die Zukunft werden würde. Um diese Handvoll bettelte der Mensch in allen Lebenslagen. Nur ein kleines Stück des Kuchens vom Wissen, der den unstillbaren Hunger nach Information sättigen sollte. Alles im Tun des Menschen strebte danach, die Zukunft zu erfüllen. Doch welche Zukunft ist die Richtige? Eine teils bunte, teils graue Mischung von reizenden Utopien kometenhafter Aufstiege, und grausamer Dystopien voller Krankheiten, Unfällen und Verlusten erstreckte sich über den Horizont von Leben und Tod und das Wahrnehmen nur einer dieser Möglichkeiten öffnete eine beinahe unbegrenzte Anzahl neuer Türen, während andere stillschweigend im weiten Ozean der Zeit versanken.
Nun war es stets am Menschen auszuwählen, in welche Welt er eintauchen wollte. War es seine geplante Zukunft, der er seine Aufmerksamkeit widmete, oder war sein Pfad vom Willen anderer bestimmt? War es der Will des Reichtums, des Wissens, der Gutmütigkeit, der ihn bestimmte? War es der geplante Weg, dessen Route schon bestand und nur noch begangen werden musste, oder eine Odyssee durch das Leben, mit einer peitschenden Brise Überraschung in den Segeln? Je nachdem, welcher dieser Straßen man zu folgen gedachte, richtete man sich darauf aus. Der Wunsch und Wille verschmolz mit der Oberflächlichkeit jeglicher Handlung, die wir ausübten, mit schnellem Schritt dem End‘ entgegentretend. So ist das Werken an der Oberfläche lediglich ein Wunsch nach Zukunft, wo wir doch nicht ändern können, was uns durch die Zeit bereits gegeben wurde. Um den Ketten unserer Vergangenheit zu entrinnen, flohen wir geblendet von Wünschen, fernab von Verstand Richtung Horizont, Richtung Zukunft.
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