Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 08.04.2015, 18:33   #1
männlich Sephoniel
 
Dabei seit: 04/2015
Ort: Zuhause ist da wo die Gedanken greifbar sind
Alter: 25
Beiträge: 31


Standard Frau Kopernikus

Mein Vater gab mir in meiner Jugend viele Ratschläge mit auf den Weg. Einige von ihnen waren einfache Aphorismen, die meine junge Seele zwar wie ein Schwamm aufsog, deren mysteriöse und wohlklingende Weise jedoch mit dem stetig voranschreitenden Alter immer mehr verblasste. Zurück im Gedächtnis blieb nur der altkluge Tenor des Volksmundes, den mein Herz bis heute ablehnt. Andere hingegen waren von recht pragmatischer Natur. Und obwohl ich mich aufgrund meines jugendlichen, hitzigen Eiferns nach Erfahrung nur selten an seinen Worten ein Beispiel nahm, war ich dennoch dankbar für sie, denn der Gestus dieses, trotz letztendlich auch gescheiterten Versuchs der Übermittlung seiner Weisheit rührte mich ungemein.
Trotz der Tatsache, dass man mit seinen Ratschlägen ganze Poesiealben hätte füllen können, blieb mir kaum eines seiner gesagten Worte in Gedächtnis. Dies rief von Zeit zu Zeit ein gewisses Gefühl der Scham in mein Herz, da es oft die einzigen Sätze waren, die wir beide wechselten.
Mein Vater war von Beruf aus oft wochenlang in den verschiedensten Städten der Welt unterwegs. Meine Mutter hingegen, eine sehr schweigsame, in sich gekehrte Frau, war meist schon zuhause, während ich noch im Begriff war, meinen kurzen Schulweg zurückzulegen.
Meine Mutter war eine außergewöhnliche Persönlichkeit. Dabei meine ich das allerdings in einem positiven Sinn, maße mir jedoch ebenfalls nicht an, sie als schlechte Mutter darzustellen. Sie war einzig und allein in vielerlei Hinsicht besonders. Wenn ich nachmittags nach der Schule die heimische Türschwelle überquerte, saß sie zumeist schon am Tisch in der Küche und starrte gedankenverloren zwischen den verschiedenen Töpfen, in denen das Essen noch vor sich hin köchelte, auf ein kleines Gemälde, das einsam und verlassen, wie es mir vorkam, die große lange Wand neben der Tür zierte. Einzig und allein eine Möwe war darauf zu sehen, die über einen Strand und das große weite Meer schwebte, niemals landen zu können. In stiller Bewegung des Moments regte es, als ich noch kleiner war, meine Fantasie zu träumerischen Tagen im Sand an. In der trockenen Realität hingegen war Urlaub selten. Ich sah nie einen echten Strand bis ich 13 Jahre alt war. Ich erinnere mich gut an meinen Geburtstag. Mein Vater fuhr mit uns eine gefühlte Ewigkeit auf den gewundenen, oft geflickten und noch öfter mit Schlaglöchern übersäten Straßen unseres Countys. In der Zwischenzeit saß meine Mutter auf dem Rücksitz und bemühte sich ständig mit meiner Augenbinde, auf dass sie bloß nicht hinunterrutsche, bis wir nicht unser Ziel erreicht hatten. Ich ließ sie gewähren. Damals konnte ich mich nicht daran erinnern, wann ich sie zuletzt in so ausgelassener Stimmung erlebt hatte. Mein Augenlicht wurde erst erlöst, als meine Zehen bereits im kühlen Sand steckten und die frische Seeluft meine Lungen mit dem Duft von Salz und Tang füllte und wie zur Begrüßung die Haare auf meinem Kopf zerzauste, sodass sie tief in mein Gesicht fielen und mir erneut die Sicht nahmen. Zärtlich strich meine Mutter sie zurück hinter meine Ohren. Ein nebulöses Grinsen umstrich nun ihre zarten Züge während sie in beiden Händen mein Gesicht hielt und meine Wangen streichelte. Dann drehte sie sich um und lief zur Wasserkante und stand mit ihren knallroten Gummistiefeln bis zum Knöchel in den Fluten.
Aufgrund der Tatsache, dass es bereits Mitte September war, war das Wasser bereits merklich abgekühlt. Dennoch spritzten wir uns gegenseitig nass und genossen den Moment der vertrauten Atmosphäre. Auch wenn meine Füße nass und kalt waren und ich wie Espenlaub zitterte, was wir im Grunde genommen alle taten, begannen wir einen ausgedehnten Strandspaziergang, im Zuge dessen mein Vater mich zur Seite nahm, und mich ebenso geschickt wie unauffällig außer Hörweite meiner Mutter bugsierte. Er blickte mir ernst in die Augen und sprach anschließend folgende Worte, die sich seitdem wie ein Blutegel in meinen Gedanken festgesaugt hatten und in den folgenden Jahren stets meinen Umgang mit anderen Menschen bestimmte.
„Schaffe dem Menschen, den du lieben lernst, eine eigene Welt.
Sie ist das größte Geschenk, das du ihm machen kannst.“
Und das tat ich, viele Male. Viele unterschiedliche Universen erschuf ich und sah ebenso viele Gesichter, die von dankbaren Augen gekennzeichnet waren und deren Lächeln eine beruhigende Aura der Glückseligkeit ausstrahlte. An diesem Tag war mein Leben schön.

Das kalte, fahle Leuchten der Straßenlaternen spiegelte sich im gleichbleibenden Rhythmus im sandfarbenen Lack meines Lincoln Cosmopolitans, und ließ ihn in der ganzen Pracht seiner ausgefallenen Herrlichkeit erstrahlen. Für mich war er mehr al ein einfaches Auto. Er war ein Symbol des Triumphs, und das gleich in mehrfacher Hinsicht. Ich erinnerte mich noch genau an die Auktion, auf der ich das Juwel einem äußerst wohlhabenden Briten abgerungen hatte. Doch der hohe Preis, den ich für das Gefährt, das damals noch einer Rostlaube glich, und trotzdem mehr als ein moderner Neuwagen zu der Zeit kostete, rentierte sich, wenn nicht materiell, sodann jedoch in der besonderen Stimmung, die dieses Gefährt umgab und einen jeden umnebelte, der sich hinter das lederbezogene Lenkrad quetschte. Der Straße vor mir ergoss sich wie ein Wasserfall aus Teer in der ebenso dunklen Nacht. Einzig und allein der Mittelstreifen der Fahrbahn wies mir die Richtung. Ohne eine Möglichkeit zur Rückkehr fraß ich mich in die vorangehende Dunkelheit. Meter um Meter. Rechts und links der Leitplanke verschmolzen die Bäume zu einer meterhohen Wand von tiefgrünen und dunkelblauen Schemen. Nur vereinzelt strich ein Lichtstrahl zwischen den Stämmen auf, ein Vorbote des gigantischen, taghellen Lichtermeers der Stadt, die, sich rasant nähernd, den kompletten Horizont ausfüllte. Und mittendrin, wie eine Kompassnadel, die jedem Besucher den Weg weißt, stand, wie ein Idol, das ringsherum alles und jeden überragte, das Wahrzeichen der Stadt. Ein Monstrum aus Stahl, das sich auf vier Füßen so hoch erstreckte, dass es mit der der Spitze, die einer überdimensionalen Nähnadel glich, die Wolken kitzeln konnte. La Tour Eiffel – Der Eiffelturm – war ein Koloss, ein Koloss auf dem Throne Paris. Obwohl das Stadtzentrum der Île-de-France ein bezaubernder Fleck Erde war, dessen gepflasterte Wege und deren Geschichten ein jeder Mann von Welt zumindest einmal unter seinen Sohlen gespürt haben sollte, lag mein Ziel an diesem Abend etwas weiter nördlich, in den Randgebieten der Stadt. Dort lag, leicht erhöht von seinem Umland, der Palais Royale. Er war im wahrsten Sinne des Wortes ein Palast, und hätte mit seinen weiten Flügeln und Hallen auch mit den Palästen der französischen Könige mithalten können. Die große Bühne in der Mitte des Hauptgebäudes, das einen kreuzförmigen Grundriss besaß, ließ sich problemlos demontieren und wich so jedes Wochenende einem Mischpult und zwei monströsen Boxentürmen, die den Komplex jedes Wochenende in eine Wallfahrtsstätte für Jugendliche machten, die sich unter Stroboskop – und Schwarzlicht bei dröhnenden Bässen und verbrauchter Luft ihre Sorgen zu futuristischen elektronischen Klängen aus den Seelen tanzten.
Rund um das Gebäude zog sich ein Ring von antik aussehenden Säulen, auf denen die Terrasse des ersten Stockwerks vorgelagert war. Ein beeindruckendes architektonisch ausgereiftes Stück Arbeit, dessen Glanz nur von den umgebenden, vororttypischen Einfamilienhäusern gedämpft wurde, die dem herrschaftlichen Ambiente durch ihre pure Anwesenheit zusetzten. Vorsichtig schlängelte ich mich nun durch das enge Straßennetz von Frankreichs pulsierender Hauptstadt, am schneebedeckten Ufer der Seine entlang, deren Verlauf ich glücklicher Weise einfach bis zu meinem abendlichen Ziel verfolgen konnte. Als die Straße sich zur Auffahrt des Palasts verengte, hörte man bereits laute Musik aus dem Innern. Aus dem Portal drang ein warmes Licht in den Vorgarten, der zum Großteil nur aus einem großen, akribisch gemähten und wundervoll gepflegtem Rasen zu bestehen schien, der vermutlich nur deswegen zu sehen war, weil eine unterirdische Heizung der frischgefallenen Schnee sofort schmelzen ließ.
Der Parkplatz des Komplexes passte nicht zum Rest des Anwesens, war er doch so unauffällig, dass man ihn glatt übersah, wenn man nicht durch ein Schild in der Auffahrt des Grundstückes auf ihn hingewiesen wurde. Lediglich die vielen extravaganten Fahrzeuge, die zusammen genommen mindestens genauso viel kosteten wie der gesamte Palais, verliehen dem Asphalt etwas Würde, sodass er nicht vollkommen im Schatten der Säulen und Mauern unterging. Während ich in Schrittgeschwindigkeit die langen Reihen von glänzenden Lack und Felgen passierte, auf der Suche nach einer freien Lücke, war das schreckliche Gedränge der Hauptankunftszeit bereits abgeklungen. Nur hier und da sah ich Fahrzeuge, die von einer Schar eigens Angestellter geparkt wurden. Als ich in ihre Augen sah, fühlte ich mich merklich deplatziert. Mir war vom ersten Augenblick klar, in dem ich die Einladung auf Büttenpapier, die mir ein reicher Freund geschickt hatte, in den Händen gehalten hatte, die schnörkeligen, von Hand geschriebenen Versen lesend, dass die Party eindeutig für die Pariser High Society geplant war. Jedoch befiel mich ein gewisses Unbehagen, denn obwohl ich ebenfalls recht vermögend war, fehlte mir ein gewisses Talent für die hochgestochene Umgangsform, für den Stil und den Wortschatz, den die obere Gehaltsklasse, zumindest hier in Paris, deutlich von Mittelklasse und Unterschicht abhob. Bevor ich den geheizten Innenraum meines Wagens verließ, und mich für 200 Meter Fußweg der eisigen Dezemberkälte preisgab, atmete ich tief durch – Selbstberuhigung. Denn Nervosität konnte von den Herren und Damen dieses sozialen Milieus gerochen werden. Und wenn sie einmal die Fährte aufgenommen hatten, verfolgten sie dich unbarmherzig wie Jagdhunde. Der Schnee unter meinen Schuhen knarzte, während ich mich Schritt um Schritt, mich gegen kalten Wind stemmend, Richtung Eingangsportal. Obwohl der Wind mir jede Sicht versperrte, war die Wegfindung einfach. Man musste nur den Fußspuren folgen, die, von allen Seiten heranströmend, am Ende einen Pfad aus festgetretenem Schnee bildeten, der schlussendlich eine marmorne, von Schnee und Eis befreite Treppe hinaufführte, an deren Ende die beiden Torflügel einen Schutzwall vor Wetter, Wind und Einsamkeit bildeten.
Zwei einzelne Pagen standen Wache vor der Tür und sorgten dafür, dass kein ungeladener Gast in die goldenen Hallen der Reichen und Berühmten drang. Das Lächeln auf dem Gesicht der beiden schien wie eingemeißelt, oder durch die angehaltene Kälte bereits eingefroren zu sein. Die beiden spürten den Frost vermutlich durch ihre dünnen Pagenuniformen bis auf die Haut, wie ihre blauen Lippen deutlich signalisierten. Spröde klang die Stimme des Ersten in meinen Ohren: „Ihre Einladung, bitte.“
Ich öffnete meinen Mantel einen Spalt breit und fischte den gold-gelb ausgeblichenen Briefumschlag aus einer Manteltasche.
Wortlos reichte ich ihn dem ersten der beiden Angestellten und versuchte mir meine Aufregung nicht anmerken zu lassen. Tief vergrub ich mein Gesicht in meinem Schal und dem aufgestellten Kragen meines Mantels. War es doch nicht ich, dem die Einladung eigentlich galt, sondern einem Neureichen aus dem Zentrum von Paris, der an der Börse sein Geld verdiente. Ich kannte ihn seit langem, er war ein Jungendfreund, den ich kennengelernt hatte, während ich bei seiner Mutter die Blockflöte spielen gelernt habe. Vor einigen Wochen erreichte mich ein Brief von ihm, jener Kuvert, in dem sich auch die Einladung zur heutigen Gala befand. Auf dem beigelegten Zettel erörterte der freundschaftliche Gönner aus alten Tagen, dass ihm die Zeit fehle, an besagtem Festtag zugegen zu sein und an mich die Bitte oder das Angebot richtete, doch an seiner statt an der Feier teilzunehmen. Ich willigte ein indem ich die zusammengeklebten Enden des Umschlags vorsichtig mit einem Brieföffner auftrennte.
Der Angestellte schien mit der Inspizierung meines Briefes fertig zu sein. Mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken reichte er ihn mir zurück und bedeutete mir mit einer kurzen Geste der Hand einzutreten. Ein letztes Mal am heutigen Abend blitzte der Umschlag im kalten Licht der Flutlichtstrahler und Laternen auf dem Hof auf, bevor er wieder in meiner Manteltasche verschwand. Dann überquerte ich die Türschwelle, begleitet vom „Viel Spaß!“, eines, mit akutem Diensteifer beflügelten Pagen. Hier begann sie, meine erste – und wohl auch meine einzige Feier zur Jahrtausendwende.
Ein großes, herrschaftliches Banner hing vom kunstvoll verzierten Geländer der ersten Etage hinab. Mit großen goldenen Buchstaben wurde dort auf weißem Leinen der Zweck der heutigen Veranstaltung bekannt gegeben.
Millennium Charity-Gala – Viel Vergnügen.
Soweit das Auge reichte sah man Männer in feinstem Zwirn und Frauen in teuren Cocktailkleidern mit noch teurerem Schmuck behängt. Hier waren wohl die wertvollsten Stoffe der Pariser Modezaren anwesend. Beinahe schäbig fühlte ich mich in meinem Anzug, der aus einer einfachen Männerboutique stammte. Obschon ich mit ihm in anderer Gesellschaft eindeutig zu hoch gekleidet gewesen wäre, schien er hier nur ein Fetzen wertlosen Stoffes zu sein, das noch dazu schlampig zusammengesetzt worden war. Bereitwillig entledigte ich mich zuerst an der Garderobe meines Mantels, um anschließend einen genauen Blick auf meine Umgebung zu werfen. Viele Leute nickten mir im Gang vom Foyer zum kreuzförmigen Hauptsaal zu, nur um sich anschließend wieder ihren Gesprächspartnern oder ihren Drinks zu widmen. Kennen tat ich keinen von ihnen, jedoch erwiderte ich ihre Begrüßung aus Höflichkeit, sorgsam bedacht, nicht aufzufallen. Das Ambiente der Feier fühlte sich betont locker, beinahe affektiert an, vermutlich um die eigentliche Spannung zwischen den Personen untereinander zu überspielen. Dennoch herrschte ein kurioses Gefühl der Gemeinschaft zwischen ihnen. Der lose Zusammenhalt des Geldes schmiedete eine Bekanntheit zwischen ihnen, ein Hand, die man halten konnte, wenn jegliche Gemeinsamkeit fehlte. Oder falls diese nicht preiszugeben vermocht wurde, aus privaten Gründen. Denn hier schien sich jeder als König wahrzunehmen – König seines eigenen Reiches, das mächtiger als jedes andere war. Welch‘ lustiges Possenstück. Mir behagte diese blasierte, abgehobene, jedoch beinahe perfekt abgestimmte ebenso kokettiere Weltanschauung keineswegs. Gleichzeitig faszinierte sie mich aber auch, und belustigte mich bis zu einem gewissen Grad. Ich fühlte mich wohler zwischen denen, die sich meines Blicks auf die Welt mit mir herumtrieben, als denen, deren Lust durch Reichtum ich nur nachvollziehen und vergleichen konnte.
Aus der Haupthalle drangen viele Stimmen und der Klang von Schlagermusik an meine Ohren, die durch das Wetter vor der Fenstergalerie an der Nordseite, in dem die Schneeflocken durch den Wind tanzten, der eine grausig schöne Melodie durch die anbrechende Nacht peitschte, gerötet waren, und schmerzten.
Der Innenraum des Palais Royale war überaus üppig verziert. Auf dem Boden war Parkett ausgelegt, das aus der Vogelperspektive hypnotische Muster bildete. Die dekorativen Säulen, die einen arkadenähnlichen Seitengang zwischen Wand und Hauptraum erzeugten, bestanden aus tropischem Holz, das einen leichten Rotstich besaß, welches dem Raum eine belebtere Atmosphäre verlieh und, durch die Politur, im warmen Licht der fünf massiven Kronleuchter, die von der Decke hingen, glänzten. Die eigentliche innere Seite der Wand war mit Mustern, die ebenso gut aus einer Bar im wilden Westen hätte stammen können, getäfelt. Insgesamt verlieh das viele Holz dem Innenleben des Palasts den Anschein einer urigen Lokalität, was vermutlich am heutigen Abend die Stimmung der geladenen Gäste trotz der ausgesprochenen Exklusivität etwas auflockern sollte. Langsam gewöhnten sich meine Sinne an die überbordende Flut von Reizen, die vielen verschiedenen Parfums, die sich mit dem Geruch nach kulinarischen Köstlichkeiten mischten. An das schummerige, warme Licht, das die Farbtupfer viele Kleider und Röcke berührte und auf der Tanzfläche von den, an der Wand angeschraubten Lichtstrahlern abgelöst wurde. Als sich der Nebel der Benommenheit in meinem Kopf endlich lichtete, wagte ich es, die Treppe in die Halle hinabzutreten, sorgsam darauf bedacht, nicht auf den gebohnerten Stufen abzugleiten und den unsanften Weg hinab zu wählen. In der Mitte der vier Flügel, dort wo die Fäden zusammenliefen, unter einem gigantischen Kronleuchter, stand ein Brunnen aus weißem Marmor. Er war etwa doppelt so groß wie ein durchschnittlicher Erwachsener und ließ noch einige Meter Platz, um an den Seiten zwischen den verschiedenen Hallen zu wechseln. In der Mitte des Brunnens reckte sich eine abstrakte Form empor, die oben kreisförmig auseinander driftete, und in einem Wasserfall die Flüssigkeit wieder in das breite Becken ergoss. Doch es war keineswegs Wasser, das dort in Strömen herunterrann.
Ein beistehender Gast erklärte mir mit einem Augenzwinkern, dass es Bowle sei, von der man sich nehmen konnte, soviel man zu trinken vermochte. Interessiert trat ich einen Schritt näher an das Bassin, das mir bis an die Hüfte reichte. Die Wellen, die der Strom aus den Düsen über mir erzeugte, schwappten leicht gegen die Beckenwand. Unverwandt starrte ich mein verzerrtes Spiegelbild im Spiel fremder Gezeiten an. Aus der Ferne erklang ein lautes Lachen. Erstaunt wendete ich meinen Blick vom Bowlebrunnen ab drehte und ich mich um, um zu sehen, wessen Stimme so hell durch den Nebel drang. Doch ein undurchsichtiger Schleier hing vor meinem Gesicht. Wer kam eigentlich auf die Idee, in einer Wohnung, die gerade mal Klassenzimmergröße besaß, eine Nebelmaschine zu installieren. Doch in der Melasse war mehr als nur etwas Wasserdampf enthalten. Ein beißender Gestank nach Nikotin beflügelte und ekelte gleichermaßen meinen Geruchssinn an, der an derlei Rauschmitteln bisher noch keinen Anstoß genommen hatte. Unterschwellig schwang jedoch noch mehr mit, ein süßlicher Duft, der definitiv nicht nur vom Tabak der billigen Zigaretten kam.
Verzweifelte versuchte ich der Betäubung meines Hirns zu entrinnen. Mit bloßen Händen zerteilte ich den Nebel vor meinem Gesicht und bahnte mir einen Weg durch die enge Wohnung. Wahllos öffnete ich verschiedene Türen, um nach einer Zeit endlich in einem Raum zu landen, der noch nicht vom anhaltenden hartnäckigen Rauch befallen zu sein schien, der sich sonst in jeden Winkel der Wohnung gefressen hatte. Nachdem die Tür hinter mir ins Schloss gefallen war, wankte ich ans andere enge des langgezogenen engen Raumes, um mich mit noch vom Rauch tränenden Augen am Fenster schaffen zu machen. Nachdem die klare Nachtluft sämtliche störenden Gerüche hinfort gespült hatte und ich mit einem Glas kalten Wassers auf einem der vier, um einen Tisch angeordneten, Stühle platzgenommen hatte, bewegte sich ein Schatten, den ich bisher nicht wahrgenommen hatte, sei es dem Rauch geschuldet, der mein Sehvermögen eingeschränkt hatte, oder der Beneblung durch illustre Tabakzusatzstoffe, die den Horizont bei nicht ordnungsgemäßer Nutzung meist mehr erweitern, als einem lieb ist.
„Keine Affinität zu übermäßigem Alkoholkonsum?“, erkundigte sich der Schatten, der sich als Mädchen herausstellte. Sie hatte trotz den Stühlen, die dazu einluden, Platz zu nehmen, die Theke samt Herd zweckentfremdet und schmiegte sich mit dem Rücken an die holzverkleidete Seitenwand des Kühlschranks. Ihre schlanken Beine hatte sie langgestreckt bis auf die andere Seite der Küchennische, die von einem großen Geschirrschrank begrenzt wurde. Obwohl ihre Körperhaltung eine massive Müdigkeit demonstrierte, und man das Gefühl hatte, sie könnte jederzeit in einen ewig währenden Dornröschenschlaf fallen, blickten mich ihre Augen aufmerksam musternd an. Sie durchbohrte mich mit ihren himmelblauen Augen, als ob sie geradewegs in meine Gedanken zu blicken versuchte.
Für einen Augenblick begrenzte mich mein jugendlicher Testosteronspiegel auf bloßes Angaffen, in Kombination mit offenem Mund.
Zu meiner Verteidigung – Sie war eines der hübschesten Mädchen, die ich bis dato getroffen hatte. Sie war vermutlich eines der einzigen weiblichen Exemplare auf dieser Feier, das keinen Minirock trug, sondern eine einfach Jeans. Insgeheim dankte ich ihr dafür, dass sie so dezent war. Ihr Rollkragenpulli, in dessen Kragen ihr Gesicht bis zur Nase versunken war, war lila-grau gestreift und schien ziemlich zu fusseln. Trotz dieser Einfachheit, ihrer unauffälligen Art sich zu kleiden, strahlte sie eine einzigartige Anziehungskraft aus. In ihrem makellosen Gesicht glänzte trotz der bleiernen Müdigkeit ein gewisser Frohsinn. Ein wahrer Wasserfall von blonden, äußerst wundervollen rauschte auf ihren Rücken, als sie elegant von ihrer erhöhten Sitzgelegenheit hinunterrutschte und, ohne ein Geräusch zu verursachen, auf dem Boden landete. Langsam schienen die Krallen der Müdigkeit von ihrer abzulassen und sie trat plötzlich sehr aktiv einen Schritt auf mich zu, der ich mich nun ebenfalls unbemerkt erhoben hatte. Ich war gut zwei Köpfe größer als sie, sodass sie ihren Kopf leicht anheben musste um mir auf dieser kurzen Entfernung noch in die Augen sehen zu können. Das Licht der Neonröhre an der Decke ließ ihre Haarpracht nur noch mehr aufleuchten, und ich verspürte unterschwellig das Verlangen meine Hände nach dem blonden, leicht gelockten Schopf auszustrecken und das, wie goldgewebter Faden leuchtende Haar einmal zu berühren. „Mein Name ist Cécile.“, stellte sie sich mit einem säuselnden Tonfall vor, den mein Gehirn automatisch dem französischen Zungenschlag zuordnete. Ich brauchte einige Sekunden, um meine Maske des Erstaunens zur Räson zu bringen und eine halbwegs seriöse Miene aufzusetzen, die meine Faszination zumindest vorübergehend verdecken sollte.
„Je m’appelle Marius.“, stellte ich mich in meinem fließendsten Französisch vor. Nicht gerade eine Glanzleistung, aber es reichte immerhin, um sie zum Lachen zu bringen. Ihre Stimme klang wie Schokolade in meinen Ohren. Wie fies Hormone manchmal sein konnten...
Und dann lächelte sie. Sie lächelte wie ich noch nie einen Menschen hab lächeln sehen. Ihre Mundwinkel hoben sich und versprühten eine Euphorie, die so ansteckend wirkte, dass sie praktisch auf mich überzuspringen schien und mich ebenfalls zu einem Grinsen animierte. Ihr Lächeln ergriff ihr ganzes Gesicht, ihren ganzen Körper. Sie wurde zum Astralkörper des reinen Glücks. Es war wie eine Schockwelle, die die Stabilität meines seriösen Gesichtsausdrucks ebenso schnell zerstörte, wie ich versucht hatte, ihn aufrecht zu halten. In ihrer Anwesenheit schmolz ich praktisch wie ein Eisberg in der Sonne. Hilflos wie ein kleines Kind.
Trotzdem fühlte ich mich keineswegs unwohl. Es war wie ein Stromstoß, und hinterließ im ganzen Körper ein Kribbeln, wie ich es an Intensität nie zuvor gespürt hatte. So wie sie hier stand, und ich vor ihr, fühlte ich ein selten gekanntes Gefühl der absoluten Geborgenheit.
Spät realisierte ich, dass sie meine Lippen anstarrte, in ständiger Erwartung, dass ich etwas sagen würde. Wenn du ein Mädchen triffst, rede nie zuerst über dich. Danke Vater, aber darauf wäre ich auch alleine gekommen.
„Ich wohne in der Nachbarstadt.“, sagte ich. – Verdammt! –
Die Tatsache, dass dies hier nur eine kleine Siedlung irgendwo in der Einöde war, ließ mein Heimatdorf sich tatsächlich als Nachbarstadt bezeichnen, auch wenn es knapp 40 Kilometer entfernt lag.
„Ich komme aus Werrington.“, erklärte sie. Werrington war eine Stadt, die gut zwei Stunden Fahrzeit von hier entfernt lag. Die Müdigkeit, die in ihren Knochen steckte, kam vermutlich von der anstrengenden Anfahrt.
„Warum sitzt du hier so alleine? Die Musik draußen ist toll.“
Das war eine Lüge. Die Musik war grauenhaft. Elektronisch bearbeitete Melodien pumpten durch das ganze kleine Haus. Fragend sah sie mir in die Augen. „Warum bist du dann hier?“, fragte sie so unvermittelt und überraschend, dass ich mich an meinem Wasser verschluckte. Im Bemühen, gleichzeitig nicht das restliche Wasser in einem Hustenanfall über ihren Pullover zu ergießen und die zunehmend ernster werdende Atemnot mit bemühter Lässigkeit zu überspielen, trank ich das restliche Glas in einem Zug aus. Es half überraschender Weise und meine Atemwege wurden wieder frei. Ihr anfangs besorgter Blick war in einen Lachanfall umgeschlagen, der ihr Tränen in die Augen trieb. Wieder war ich verblüfft von ihrer kindlichen Unschuld, die einmal mehr mein Herz zum Schmelzen brachte.
„Okay, die Musik ist schrecklich. Aber vor dieser Tür, “ theatralisch deutete ich auf die Küchentür unter der langsam wieder Rauch hervorwaberte, „sieht man nicht mal mehr mit wem man redet. Eine riesige Rauchwand. Undurchdringlich.“ Mit finsterem und erstem Blick blickte ich sie an.
„Wie kommen wir hier raus, Captain?“, spielte sie den Ball mit ebenso ernsthafter Stimme zurück. Sie war also genauso verrückt und kindisch wie ich – Nicht schlecht. Ich stolzierte zum Fenster und warf einen Blick nach draußen. Unter mir, in der schwarzen Tiefe der Nacht erstreckte sich der Rasen. Da das Haus auf einem Hügel stand, war das Gelände wohl leicht abschüssig. Das Fundament war etwa hüfthoch, sodass wir uns im Moment knapp eine Mannshöhe über der Erde befanden - Durchaus machbar -.
Einen Moment kämpften in meinen Gedanken das Bewusstsein der Gefahr und der Drang nach Freiheit im Handeln gegenaneinander an. Die Freiheit obsiegte, vermutlich nicht zuletzt um meine neue Bekannt zu beeindrucken. Der Rauch stieg mittlerweile auch auf unserer Seite der Tür Richtung Decke. „Wir haben keine Zeit mehr.“, konstatierte ich mit einem beiläufigen Blick auf Cécile, die ihrerseits fasziniert von der Dicke des Nebel-Rauchgemisches war, und regungslos ihre Hand danach ausstreckte.
Ich legte ihr vorsichtig die Hand auf die Schulter – Ob sie das als Belästigung auffasste? – Jedenfalls ließ sie sich nichts anmerken.
„Wir müssen durch das Fenster entkommen.“, erklärte ich den Plan.
„Riecht scheußlich!“, stellte sie nach einem tiefen Atemzug fest. Dann kletterte sie ohne den Boden unter ihr überhaupt eines Blickes zu würdigen auf den Fenstersims und sprang geschickt nach draußen. Ich eilte zum Fenster und sah nach unten, doch die Dunkelheit war mindestens ebenso undurchdringlich wie der Rauch innerhalb des Hauses.
„Der Adler ist gelandet.“, erklang ihre Stimme irgendwo unter mir. Nun war es an mir, nach unten zu springen.
„Ich springe jetzt.“, warnte ich sie, bevor ich aus dem Fenster stieg. Schließlich wäre es etwas zu viel Körperkontakt für das erste Treffen, wenn ich auf ihr liegen würde. Außerdem könnte es natürlich ihrer Gesundheit nachhaltig schaden. Der Weg nach unten war länger als erwartet und mein Absprung eher wenig geschickt, weswegen ich ungelenk aufkam und meine Knie unheilvoll knackten. Ich überspielte es mit einem Lächeln und richtete mich auf. Es war eine wundervolle Nacht. Keine Wolke bedeckte den Himmel, sodass die Sterne in ihrer vollen Pracht zu sehen waren.
„Was jetzt?“, fragte ich in ehrlichem Interesse, da unser improvisiertes Theaterstück beendet war.
Cécile zuckte nur mit den Schultern und guckte mich mit ihren blauen Augen an: „Lust auf einen Spaziergang?“ Mit diesen Worten verschwand sie in der Nacht vor mir. Und ich folgte ihr. Diesem Mädchen wäre ich überall hin gefolgt.
Im Laufschritt verfolgte ich meine neue Bekanntschaft durch die spärlich beleuchteten Straßen des Dorfes. Ohne Ziel schien sie unermüdlich nach vorne zu drängen. In jedem Moment, in dem ich sie beinahe erreicht hatte, zog sie das Tempo an und entrann wieder meinen ausgestreckten Händen. Nach einigen Minuten emsigen Lauf, konnte ich das Protestieren meiner Lungen nicht länger ignorieren und bat sie um eine Pause. Sie gewährte sie mir uns wartete geduldig darauf, dass ich mich erholt hatte.
„Du hast meine Frage nicht beantwortet.“, hakte sie nach, als ich wieder halbwegs zu Atem gekommen war.
Nun stand ich wieder am Abgrund. Der Abgrund der mein Leben bestimmte. Tief wie ein Brunnenschacht, dunkel wie der Stollen einer Miene. Wahrheit oder Lüge? Zwei Brücken. Keine von ihnen vermochte bisher das Gewicht meiner Wahrheit zu tragen. Während die Lügenbrücke wundervoll aussah, jedoch gegen Ende zu instabil war, um mich zu tragen, war die Brücke der Wahrheit nicht mal mehr vollständig intakt. Lediglich ein paar Trittstufen ermöglichten eine gefahrvolle Überquerung. Am anderen Ende stand sie und winkte mir zu, ein wundervolles Lächeln auf den Lippen. Die Zeit verrann mit jedem Augenzwinkern, das ich darauf verwand mich zu entscheiden. Normalerweise betrat ich die Brücke der Lügen, da sie einfach war. Heute jedoch war es anders. Ich hätte alles getan, für ihr Lachen, ihr Lächeln, ihre Stimme. Keine Gefahr schreckte mich in ihrer Anwesenheit, ich fühlte die Sicherheit, es mit alles und jedem aufzunehmen, der sich mir in den Weg zu stellen drohte. So erklomm ich, zum ersten Mal in meinem Leben, das erste Stück Holz, das sich auf den Überresten der Brücke der Wahrheit befand.
„Ich ...“ zögere, beendete ich den Satz in Gedanken.
„Ich war alleine auf der Feier.“, bot ich ihr einen Kompromiss zwischen Lüge und Realität. Tatsächlich war ich mit einem losen Kumpel dort, der sich jedoch bereits nach einer halben Stunde mit einem Mädchen abgesetzt hatte, die so viel Schminke aufgetragen hatte, dass sie vermutlich Angst gehabt hatte, man könne noch Überreste ihres Gesichts erkennen.
„Und du hast niemanden zum Reden gefunden?“, drang sie stärker auf mich ein. Ich lächelte hilflos. Zeit für den nächsten Schritt auf der Brücke.
„Ich bin recht schüchtern.“, gestand ich ein.
„Und außerdem mag ich die Gesellschaft von „denen“ nicht.“, führte ich mein Geständnis weiter aus. Mit „denen“ waren die Veranstalter gemeint. Ein reiches Zwillingspaar, das sich hier eine Wohnung gemietet hatte, nur um diese Feier zu veranstalten. Wir kannten nicht mal ihre Namen. Mir war lediglich bekannt, dass beide auf unsere Schule gingen.
Sie hakte nicht weiter nach, sondern biss sich lediglich auf die Lippen und nickte verständnisvoll.
„Ich versteh dich.“, sagte sie bloß. Obwohl wir kaum Worte gewechselt hatten, wussten wir beide genau woran wir waren. Zwei Verlorene, verlassen auf einer einsamen Insel, sich nicht mehr findend in den Idealen ihrer Zeit. Innerlich fragte ich mich, warum sie hier war. Weswegen sie an ihrem Abgrund stand. Ich bezweifelte es weitgehend, das ihre Welt so schlecht war. Meine war es an sich auch nicht, denn immerhin leidete ich keinen Hunger, keinen Durst, spürte nicht jede Nacht die kriechende Kälte in mir hinaufkriechen. Dennoch fühlte sich mein Leben nur als schaler Triumph an. Der Beigeschmack des absoluten Mittelmaßes hinterließ im Abgang einen bitteren Geschmack ab Gaumen, so hatte ich doch keine Wahl außer diese Pille zu schlucken. Alles was ich wollte, was ich mir erträumte, war ein bisschen Außergewöhnlichkeit. Etwas Besonderes, ein einzigartiges Leben, an das man sich ab und an, vielleicht sogar zwischen den Seiten zweier Buchdeckel, erinnern würde. Ob sie wohl denselben Drang hegte? Ob dort auch dieses Monster wohnte, in ihrer Brust, und sie aufzufressen drohte, wenn sie es nicht fütterte?
Wir waren am Rand des Dorfes angelangt. Vor uns verwandelte sich der Kanal in einen kleinen Bach, der das nächste Feld durchkreuzte. Wir folgten dem Flusslauf eine Zeit lang schweigend nebeneinander, bis wir an einen Stapel großer Felsbrocken kamen. Die spätsommerliche Temperatur erlaubte es uns, uns ohne Jacken oder Ähnliches draußen aufzuhalten. Wir setzten uns nebeneinander auf den größten der Steine und betrachteten den Sternenhimmel.
„Ich liebe Sterne.“, platzte es nach ein paar Minuten aus ihr heraus.
„Wieso?“, fragte ich verdutzt.
„Ich weiß nicht genau. Aber es ist mein größter Wunsch. Einmal im Weltall zu sein. Dort oben. Ein Raum unendlicher Freiheit. Einmal einen Hauch von Besonderheit spüren. Es ist umso vieles anders, als hier unten.“
Ich blickte sie stumm an. Sie fühlte es auch. Das Ertrinken in der grauen Normalität, Nacht für Nacht zu sterben, ohne kämpfen zu können, um am kommenden Morgen weiter sein eigenes Grab zu schaufeln.
Sie erwiderte meinen Blick, und still, ohne eine Geräusch zu machen, verstanden wir auf einmal, wie ähnlich wir uns doch waren.
Dann blickte sie wieder hoch zu den Sternen. Voller Sehnsucht. Es war das erste Mal, dass in ihrem Blick ein gewisses Maß an Trauer mitschwang. Unerträglich brannte es in meinem Herzen, sie unglücklich zu sehen. Ich legte meinen Arm um sie. Sie starrte weiterhin ohne Reaktion nach oben, ohne meine Blicke zu bemerken, vollkommen in ihrer eigenen Welt, ihrem Traum. Nun war dort noch etwas mehr in ihren Augen. Ein kleines Funkeln, eine Besessenheit. Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter, während sich ihre Hand in meine stahl. Es war plötzlich eine tiefere Verbindung, ein ohne Worte heraufbeschworener Zauber, der uns zusammenschweißte, ohne dass wir uns richtig kannten. Wie eine Seele die zertrennt in zwei Körpern hauste, sich zu finden und erneut auf ewig zu binden. Oder zumindest für heute Nacht. Denn in dieser Nacht war mein Leben schön.
Ein jäher Sturm versenkte die Barke der Erinnerung, auf der ich die Gewässer der Vergangenheit durchkreuzt hatte. In konzentrischen Kreisen kräuselten sich die Bowlemassen und zersplitterten mein flüssiges Spiegelbild in die kaum mehr erkennbaren Bildfragmente meines Gesichts. Regungslos ließ ich die Schatten der letzten Wolkenfetzen des plötzlichen Schauers an mir vorüberziehen.
Ein Schauer, der mir kalt wie Eis den Rücken herunterlief und mir eine Gänsehaut bescherte, die wie ein Kribbeln meinen ganzen Körper durchlief.
Meine Knie waren auf einmal weich wie Butter und mit unsicheren Bewegungen stakste ich die wenigen Meter zu einem der zahlreich aufgestellten Stehtische, um mich etwas gütig am ebenso in unzählbaren Mengen bereitgestellten Alkohol zu tun. Als ich endlich einen leeren Tisch gefunden habe, hatte ich bereits ein Glas mit Sekt von einem der vielen Tabletts stibitzt, die von Scharen weißgekleideter Kellner durch die Säle getragen wurden, unermüdlich wie Ameisen, die ohne festes Ziel und dennoch mit unglaublicher Ordnung durch den Bau wuselten. Zum Wohle der Königin. Gerade als ich das Gefühl hatte wieder alleine auf zwei Beinen stehen zu können, trat ein älterer Herr, ungefähr in meinem Alter, an meinen Tisch. Sein Aussehen war überaus gepflegt. Ein maßgeschneiderter, tiefblauer italienischer Anzug prägte das Bild des Vermögenden, der sich mithilfe seiner Visitenkarte als Pièrre, Duc de Crouchelle, ausgab. Ein Franzose, der einer Linie Geldadeliger aus dem letzten Jahrhundert entstammte. Er streckte mir seine Hand entgegen, an deren Fingern drei goldene Ringe steckten. Einer mit dem Familienwappen, sein Ehering, sowie einen modernen, stilistischen Ring aus Stahl, in den einige Buchstaben und Zahlen eingraviert waren. Ich ergriff sie und staunte über den geringen Druck, der hinter seinen, scheinbar weniger muskulösen Armen steckte, und über die absolut weiche Haut, die wohl noch nie in den zweifelhaften Genuss körperlicher Arbeit gekommen war. Trotz seines Alters traten die Knöchel nicht unter der Haut hervor, und die Haut war nicht so pergamentartig und wettergegerbt, wie ich es von meinen Freunden und Bekannten in meinem Alter gewohnt war.
Die Nägel waren perfekt manikürt worden und wahrten den Schein einer Jugend, deren Zenit Pièrre bereits weit überschritten hatte.
Eine Jugend, deren Preis nicht nur aus den monatlichen Kosten für Körperpflege bestand, sondern aus weit mehr. Es war zudem der Mantel, den er zu tragen hatte.
„Allez-vous bien?“, fragte er mit einer Stimme, so rau wie Schmirgelpapier. Dazu setzte er ein Lächeln auf, das auf eine so affektierte Art seine Zähne zeigte, dass man es auch als gefahrbringendes Zähnefletschen hätte deuten können.
„Bien sûr.“, gab ich auf eine ebenso gekünstelte Art zurück. Die Kunst eines Schauspiels, das dieser Welt so oft zu eigen war. In Anbetracht der Tatsache, dass mein Gesicht blass wie der Schnee vor der Tür war, und meine Hände wie Espenlaub zitterten, weswegen sie so fest um mein Glas geklammert waren, dass meine Knöchel schon weiß hervortraten.
Offenbar entging ihm mein Unmut, mit jemandem gerade eine Unterhaltung zu führen, doch andererseits schien ihm auch die Möglichkeit genommen zu sein, sich an anderem Orte zu unterhalten. Eine verlorene Ameise, mitten im Bau. Er schien tatsächlich nicht hier sein zu wollen. Das war nur eine Feier für seinen Ruf, nicht um seinem Vergnügen Genüge zu tun. Im Prinzip war er aus denselben Gründen hier wie ich. Erst jetzt fiel mir die unangenehme Stille auf, die zwischen uns entstanden war. Aufmerksam blickte er mir in die Augen, gleichsam hoffnungsvoll, dass ich etwas sagen würde, um ihn aus der unangenehmen Situation zu retten.
Aber diesen Gefallen wollte ich ihm nicht tun. Schließlich verband uns nichts. Und er schien nicht wirklich interessiert an mir zu sein, sondern nur an daran nicht allein auf einer Feier zu sein, in deren Einladung ausdrücklich darauf verwiesen worden war, dass man in Begleitung kommen könnte.
Und er besaß niemanden. Trotz des massiven Vermögens, bestehend aus Ländereien, Aktienanteilen und ganzen Firmen, schaffte er es nicht eine Person von sich zu überzeugen. Irgendwie löste dieser Umstand ein positives Gefühl in mir aus, obwohl ich Bedauern, wenn nicht sogar Mitleid, für diesen Kerl empfand. Denn obwohl ich gleichermaßen zufrieden feststellte, dass Unglück in der Liebe vor niemandem Halt machte, schalt ich mich ebenfalls für dieses Denken.
Ein gespielt leidendes Lächeln verließ seine Lippen und trat die beschwerliche Reise durch meinen Verstand an, eine Welt, die bunt leuchtend in ein wahres Netzwerk aus Gassen verfloss, von denen die meisten unwiederbringlich in die Irre führten, um dort die kleine Figur auf dem dünnen Seil belastete, die verzweifelt versuchte nicht in den tiefen schwarzen Abgrund des Abscheus zu stürzen. Die Figur mit dem Namen Pièrre. Schritt für Schritt versuchte er nach vorne zu kommen. Hin zu dem Ufer, das es nicht gab. Nur die Schwärze vor ihm, wusste er es nicht, doch hier in meinem Herzen gab es keine Sympathie für reiche Schnösel, so gebeutelt sie auch sein mochten.
„Sind sie Makler? An der Börse?“, erkundigte er sich. Wie ein Hilfeschrei erklangen die Worte, ein Hilfeschrei nach einem Rettungsring der Worte.
Ich nickte: „Ja. Also, eigentlich war ich mal einer. Ich habe kurz vor dem großen Crash 1987 meinen Job an den Nagel gehängt. Gerade rechtzeitig.“, und lachte dabei auf eine so freudlose Art, dass es die Mundwinkel meines Gegenübers einen Moment lang nach unten zog.
„Sie Glücklicher!“, ließ er sich nichts anmerken. „ Uns hat es voll erwischt. Aber wir sind auferstanden.“ An dieser Stelle atmete er hörbar aus, offenbar vollkommen in den Erinnerungen mit diesen Zeiten verloren – Schiffbrüchig.
„Aus den Trümmern!“, warf er mit mäßig lauter Stimme ein Stück Brot in den Ententeich. Sofort drehten sich einige Köpfe, mehr erstaunt als interessiert zu uns um. Die Blicke, die ich schon vorher als leicht abweisend bis hin zu ablehnend eingestuft hatte, nahmen erneut an Härte zu, als sie das Spektakel beobachteten.
Pièrres Kopf –Falls ich ihn überhaupt mit Vornamen anzusprechen hatte... – ruckte nach oben und beinahe beiläufig streckte er sich auf seine ganze Körpergröße auf. Er war größer als ich und definitiv größer als ich annahm. Jedoch resultierte diese Tatsache eher aus dem Umstand seiner Körperhaltung. Sein Kopf war leicht nach hinten geneigt, sodass man stets das Gefühl hatte, von oben herab betrachtet zu werden, selbst wenn man sich auf Augenhöhe begegnete.
Plötzlich trat anstelle der Versunkenheit, Angst und Sorge ein feuriges Glänzen in seine Augen. Seine Pupillen verengten sich merkbar, trotz des Alkohols, der langsam und wie ein stiller Vorbote des Untergangs seine Adern durchstreifte und ihn innerlich wie äußerlich betäubte. Mittlerweile war ich mir kaum noch sicher, ob seine Sätze und Reaktionen teil eines gut durchdachten, lange eingeübten Schauspiels waren, oder das ehrliche Bruchstück eines Herzens, dessen Scherben, in allen vier Winden verstreut, schon vor langer Zeit den beklagenswerten Wirt von Körper verlassen hatten und nun durch das Horn der Bowle herbeigerufen wurde, das durch seine berechnende Miene brach. „Denn wir sind stark. Niemand stellt sich uns in den Weg. Und Wehe dem, der dies wagen sollte.“, fuhr er mit fahriger Stimme vor. Mit jedem Wort trat mehr Gewicht und Endgültigkeit in seine Rede und seine Intonation schwall in einer suspekten angenehmen Weise auf und nieder. Ich war nun nicht länger sein unmittelbarer Gesprächspartner. Ungeniert verzog ich mich in die schützende Muschelschale der Anonymität eines kritischen, vielleicht sogar belustigten Zuschauers, der sich an der Verlorenheit des Redners erfreute. Schweigend verlor ich mich in der Masse, die sich nun in einer Traube um den armen Pièrre, den verlorenen Grafen, scharrte. Ich sah ihn, mit seinen glänzenden Augen die Menschenmenge nach etwas Vertrautem absuchen, nach einem Augenpaar. Die Tränen standen ihm in den Augen, doch ein letzter Rest ungebrochener Stolz, den er mit seinen Worten hell am Brennen hielt, verbat es ihnen, sich über die Wangen und das knochige, bereits leicht faltige Gesicht zu ergießen.
Ich ging, verschwand, flüchtete.
Hinweg in den Gang zwischen Tanzfläche und Wand wich ich zurück, weg von der Verantwortung und den Tränen. Weg von der Hilflosigkeit. Ich nahm die Szenerie nicht weiter war, als ich schließlich die Treppe zur ersten Etage entdeckte und mich nach oben begab, einen Erkundungsdrang vorspielend, der jeglichen Kontakt mit einer lässigen Bewegung der Hand und einem entschuldigenden Blick in den Augen unterband. Den Ausgang auf die große Veranda, die zum Hinterhof ausgerichtet war, und damit einen erhabeneren Blick auf das Meer günstig finanzierter Einfamilienhäuser dieses Banlieue ermöglichte, war von einem Vorhang aus dickem, roten Satin verborgen. Nur ab und zu, wenn der Wind draußen in Böen durch die Luft strich, plusterte sich der Vorhang leicht nach innen auf und gab so den Blick auf die vereisten Bodendielen der Veranda frei. Ein ebenfalls in weiß gekleideter Angestellter hatte sich so unauffällig neben der provisorischen, rot wallenden Tür postiert. Als ich näher trat, zog er dezent an einer Leine die von der Decke hing, und der Vorhang öffnete sich. Ein Schwall Dezemberluft blies mir ins Gesicht, zerwühlte meine Haare und brannte kalt auf der warmen Haut. Für einen Moment stand ich unschlüssig vor der Türschwelle, denn der frierende Wind lud mich nicht gerade ein, hinauszutreten und mich, alleine mit dem Schnee, dem Eis und nicht zuletzt den kräftigen Windböen, die den Schnee in zufälligen Mustern immer wieder auf Reisen durch die Luft schickten, zu vergnügen.
Ich lehnte mich vorsichtig durch den Türrahmen. Das Winterwetter hatte der reichen Gesellschaft des Abends mühsam die gesamte Terrasse abgerungen. Hier und da sah man aus einem Aschenbecher noch etwas Rauch aufsteigen, doch den meisten Gästen war wohl die Lust daran vergangen, die Blick auf die Umgebung zu werfen, als der Schneesturm begann, die Welt erneut in weiß zu hüllen.
Behutsam sog ich die, vor Kälte klirrende, Luft durch die Nase ein, und stieß sie mit einer heftigen Kompression der Lungen durch den Mund wieder aus. Einmal mehr umwaberte ein feiner Nebel mein Gesicht, der sich jedoch nur Bruchteile einer Sekunde hielt, nur um anschließend in die dunkle Nacht zu entschwinden. Ich trat an die Veranda, und überblickte gedankenverloren die nachtgraue Vorstadt. Bis an meinen Sichthorizont ergoss sich das Meer der Häuser und Schrebergärten, eines gleicher als das Andere, was den Fluten der Backsteine und des Putzes trotz vieler architektonischer und künstlerischer Unterschiede eine bestimmten eintönigen Grauton verlieh, den man nicht mit dem Auge, aber jedoch mit dem Herzen zu erblicken vermochte.
Am Horizont traf dieses Tal der Einöde schließlich auf den Sternenhimmel, der sich leuchtend hell um mich herum ausbreitete und mich in seinem Zentrum einschloss, mich als kleinen, unbedeutenden Menschen. Und dort oben, in Einklang mit dem Weltall, der Erde und den Sternen, zog der Mond einsam seine Bahnen um mich. Mein stummer Begleiter, der mich schon in meiner Jugend begleitet hatte. Damals, in meinem Zimmer unter dem Dach, das den Raum schräg an einer Seite begrenzte, hatte ich Nach für Nacht die Möglichkeit dem Mond auf seinem Lauf zuzusehen, immer im Schatten der Sonne stehend und dennoch so bereitwillig ihr Licht zur Erde sendend, wo es sich silberfarben in meinem Fenster brach und mein Zimmer erleuchtete. Es war als strahlte die Himmelspracht nur für mich. Und für sie. Sobald sich der Vorhang ewiger Zeit auf die Bühne der Erde senkte, und den Himmel schwarz färbte, und die Natur zu Schemen aus Fantasie und Wirklichkeit verlief, kam mit ihr die Erinnerung. Die Nacht setzte sie mir in Gedanken, schickte mich mit ihr Schlafen und Erwachen, nur um zu wissen, dass ich nur im Traum gelebt hatte. Ein Traum, der schöner war als das Leben. Und immer wenn ich den Mond sah, dachte ich an sie. Wo sie war, fragte ich mich, was sie tat? Und obwohl wir nur zwei Menschen waren, unter einer aberwitzigen Masse der Anonymen, zweifelte ich nicht daran, dass ihre Sehnsucht, und mein Traum, beim Wachen und beim Schlafen uns irgendwann wieder zusammenführen würden. Und der Zufall wollte es so. Der Mond, der ewig Scheinende, führte uns zusammen, indem er ging. Es war am Tag der Mondfinsternis, die bereits lange vorher durch die Sternenwarte in West Lake angekündigt wurde. Ich hatte gerade die Fahrerlaubnis erhalten und war heißblütig begierig darauf, den langen Weg auf mich zu nehmen um dieses Ereignis mit meinen Kommilitonen, Freunden und Bekannten zu feiern. Ich besaß nur ein kleines, gebrauchtes Auto, mit ein paar ordentlichen Dellen und Schrammen, verkrümelten Rücksitzen und einem halbfunktionellen Radioempfänger, der ab und zu in den Frequenzbereich von Hobbyfunkern abrutschte. Allerdings ließen sich die meisten dieser Probleme mit einem kräftigen Hieb auf das Armaturenbrett und etwas Ordnung beheben. An diesem Tag gerieten all diese Sorgen in den Hintergrund und aus dem Nebel der Ungewissheit trat die Frage, ob wir es überhaupt lebend und mit Auto nach West Lake schaffen würden. Zu sechst quetschten wir uns in meinen Wagen, der prinzipiell nur für 4 Personen zugelassen war. Dazu kam das ungeheure Schneechaos, das die Sicht dank Schneesturm auf wenige Meter eingrenzte und für vereiste Straßen sorgte. In jeder Kurve kam die Gefahr auf, dass die Sommerreifen unseres waghalsigen Gefährts ausbrachen und uns auf eine halsbrecherische Reise in den Straßengraben schickten. Trotz des Bewusstseins dieser Gefahr herrschte im Inneren des Gebrauchtwagens eine ausgelassene Stimmung. Zwei meiner Studienkollegen hatten bereits in ihrer Wohnung ordentlich vorgeglüht, und ich betete hinter dem Lenkrad nur stumm, dass niemand die beiden zu gewissen Dingen anstiftete, die sie, ich oder mein Auto später bereuen könnten. Lautes Lachen begleitete mich von der Rückbank die gesamte Fahrt über, und ab und zu drang ein gedämpftes Flüstern nach vorne, das wiederum mit unterdrücktem Kichern quittiert wurde, was meist wieder in wiehernden Lachanfällen ausartete.
Nach einigen Stunden umsichtigen Autofahrens und vieler Pinkelpausen für Damen und Angetrunkene sowie einem längeren Raststättenaufenthalt passierten wir endlich das große Holzschild am Anfang der aufstrebenden Stadt, das uns einen angenehmen Aufenthalt wünschte und herzlich Willkommen wünschte. Die nächste Hürde stellte die Suche nach einem Parkplatz da. Es schien als sei die Bevölkerung der gesamten umliegenden Dörfer zu diesem Fest erschienen, das zugegebener Maßen, vermutlich vor allem zu touristischen Zwecken, wie ein Neujahrsfest zelebriert wurde. Man muss nehmen, was man kriegen kann.
Ich fügte meiner beachtlichen Sammlung Dellen eine weitere hinzu, als ich gnadenlos, den sich kaum sichtbar unter der Schneedecke abzeichnenden Bordstein nicht erkannte, und mit dem Heck meines Wagens ebendort unsanft aufsetzte.
Entlang des Weges, der zum Ortsmittelpunkt führen sollte, einem leeren, mit Pflastersteinen ausgelegten Platz, der an Wochenenden als Umschlagplatz für die umliegenden Höfe genutzt wurde, begegneten wir vielen vermummten Gestalten, die, das Gesicht auf den Boden gerichtet, grußlos durch den immer höher liegenden Schnee stapften. Auf dem Platz hatte sich bereits eine mittelgroße Menschenmenge angesammelt, die sich trotz der fortschreitenden Zeit noch viel zu lange gedulden mussten, um den Ereignis der totalen Mondfinsternis beizuwohnen. Für die Tapferen Streiter, die trotz Wind und Wetter hier ausharrten, wurden viele Liter Tee ausgeschenkt, um sie bei Laune zu halten, und möglichen Erfrierungen vorzubeugen.
Allerdings stand uns kaum der Sinn danach, im kalten Wind eng zusammengedrängt zu stehen, daher kehrten wir für den Rest des Tages, so der Plan, in die Dorfschenke ein. Meine Kameraden sprachen dort deutlich dem Alkohol zu, um die einheimische Wirtschaft zu unterstützen, und verloren sich schnell in politischen Stammtischdiskussionen, und schienen mein Verschwinden entweder nicht zu bemerken, oder zu übergehen, da kein Einwand aufklang, als ich meinen Mantel überstreifte, meinen Kaffee bezahlte, und in die anbrechende Dunkelheit entschwand.
Wahllos streifte ich durch die Gassen, unbemerkt von meinen Freunden, von den Bewohnern der Häuser, wie ein Schatten in der Dunkelheit. Verlassen, alleine. Gerade als ich wieder um eine Ecke biegen wollte, stieß ich beinahe mit einem Ehepaar zusammen, das nur wenige Jahre älter als ich zu sein schien, und damit wohl grade mal frisch vermählt sein konnte. Ich murmelte etwas wie eine Entschuldigung und schlängelte mich an den beiden vorbei, um meinen Weg ins Ungewisse fortzusetzen, bevor ich nach wenigen Metern stehen blieb, wie angewurzelt in meiner Bewegung, und mich langsam umdrehte. Die beiden bogen grade um die Ecke, um die ich gekommen war, den Blick stur nach vorne gerichtet. Und grade als ich mich wieder umdrehen wollte, weiterhin nach vorne strebend, drehte die Frau ihr Gesicht, kurz bevor sie hinter der hohen, schneebedeckten Hecke, und damit aus meinem Sichtfeld, verschwand. Da war er wieder, der Dolch in meiner Brust, sorgsam verborgen vor den Augen der Umstehenden, und mit jedem weiteren Tag mehr und mehr mein Inneres vernichtend. Ich sah wieder in ihre Augen, blau, wundervoll. Auf einmal war ich wieder in jenem Jugendtraum. Ihr Gesicht schien immer näher zu kommen, und unwillkürlich wich ich zurück. Dann lächelte sie – doch ihre Augen waren voller Trauer.
Ich streckte meine Hand in ihre Richtung, vom Wunsch beseelt, die Zeit zurückzudrehen, ihr Gesicht wieder zu sehen, sie zum Bleiben zu bewegen. Doch nur Sekundenbruchteile war sie verschwunden.
Vorsichtig lief ich ihr nach, ein stummer Beobachter, der der Verfolgerin folgte. Doch sobald ich um die Ecke bog, waren beide, der Mann und Cécile, in einer der vielen Gassen verschwunden.
Gleichzeitig schüttelte ich mich vor dem Kribbeln, dass sie tief in meiner Magengegend auszubreiten schien. Es war, als ob der Schnee um mich herum im Geiste ihres Angesichts zu schmelzen begann.
Und wieder erstickte ich. Ein unlösbarer Knoten setzte sich in meiner Luftröhre fest, trieb mir Tränen in die Augen. Ich war glücklich, und zu Tode betrübt. Ein Augenblick, der mich den Wolken näher brachte, nur um mich im nächsten Moment unsanft zu Boden stürzen zu lassen.
Warum war sie traurig? Was verbarg sie in ihrem Abgrund, das ihrem Glück im Wege stand. War es das Monster der Einsamkeit, das unablässig an ihrer Seele nagte? Die Absurdität der Normalität, die sie in den Wahnsinn trieb?
Es war gleichzeitig Schatz und doch ein glückloses Leben. Die vielen unsichtbaren Mauern dieses Dorfes umschlossen sie, wie Gitter, sie nie mehr freizulassen. Soweit sie sich auch strecken wollte, es fehlte die Kraft, die letzten Sprossen zu erklimmen und wieder einmal frei zu sein. Wie automatisch blickte ich in den Himmel.
Ich war frei. Frei von moralischer Verpflichtung, frei von Vorurteilen, frei von Verantwortung, frei von Gesellschaft. Ein ruheloser Geist, eingeschlossen im Körper eines Menschen, dem es ein Gräuel war. Stets traf ich die Menschen in meiner Umgebung und sah nur ihre Ketten. Die Ketten der Freundschaft, die meine Kommilitonen, die wahrscheinlich die Mondfinsternis nicht mehr sehen würden. Sie hatten die Kettenglieder eng geschmiedet, und irgendwie beneidete ich sie darum, denn die Kette hielt sie zurück von der Flucht nach vorne, in die Zukunft.
Die Ketten der Liebe, die ich nie gespürt hatte. Die Fesseln der Vorurteile, die das Weltbild zur erträglichen Einfalt erzogen. Nein, mein Geist war frei und gleichzeitig in dieser Freiheit lethargisch versunken. Ich war Lehrer und mein eigener Schüler, wie Wasser rauschte ich um mich herum und ließ mich tragen, während ich gleichzeitig selbst in meinem Inneren zerfloss. Ketten, die wie Seile wirkten, mich zurückhielten, vom neugierigen Wirken, ohne Rückblick und Ausblick.
Und dann war sie da. Sie, die mich bewunderte, mich verstand, mich als Vorbild nahm. Sie, die mir das Gefühl gab, das Richtige zu tun, das rücksichtslose Wirken, das ich offen auslebte, gut hieß, es als das einzig richtige betrachte.
Und an diesem Abend, unter einer Straßenlaterne, die die Schneeflocken im ewigen Tanz zur Erde beleuchtete, schwor ich so zu bleiben. Nicht für mich, sondern für sie. Damit sie eine Welt vor sich sah, von mir geschaffen, an die sie glauben konnte. Und während ich im Schnee kniete, zog über mir der rote Mond seine Bahn, bedächtig als wäre alles im Universum in Ordnung – Aber das war es nicht. Zumindest nicht in meinem.
Eine Wolke zog vor den Mond und schwächte für einen Moment sein Leuchten ab, sodass nur noch der silberne Rand des Trabanten sichtbar war. Der Schnee stand mir nun bereits zu den Knöcheln, und meine Haut schimmerte blau in der Nacht, daher entschied ich mich dafür, wieder nach drinnen zu gehen. Urgewaltig spürte ich die Dezemberluft, die mit leichtem Pfeifen und Rauschen mich beinahe zu verhöhnen schien. Als ich den Vorgang beiseite schob, und mich wieder der, gefühlt infernalischen, Hitze preisgab, die innerhalb kürzester Zeit einige Schweißperlen auf meine Stirn zauberte, blickte mich der Page böse an, als hätte ich ihn in seiner Berufsehre beleidigt. Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, stieg ich die Treppe hinab. Von der vorherigen Eskapade mit Pièrre waren die Anwesenden bereits wieder abgelenkt, zu schnell war die Sache aus dem Ruder gelaufen, und hatte sich ebenso wieder zu schnell beruhigt. Seltsamerweise fühlte ich mich völlig losgelöst. Nur noch eine halbe Stunde, bis zum großen Countdown, kündigte eine große Uhr über den Köpfen der Menschen der Nordhalle an. Ich stellte mich in die Reihe vor dem Klo an, unschlüssig darüber, was ich hier überhaupt sollte. Eine große Leere erfüllte mich, und griff schnell über, auf meinen Verstand, der, plötzlich gelähmt, sich nur noch in einem Stadium gedankenlosen Dahinvegetierens befand.
Schließlich verließ ich die Ordnung der Reihe und ließ mich vom Menschenstrom davon treiben, erfüllte hier und da meine Rolle als zu unterhaltender Gast von guten Manieren, mal den Kritiker, den Theoretiker oder den Schweigenden, je nachdem, welche Rolle mir in der Diskussion zufiel. Ich fühlte mich wie der Takt einer einschlägigen Musik, ständig wiederholte ich abgedroschene Phrasen, hinter denen nichts, und doch alles stand, was mich zurzeit ausmachte. Nur eine große Bedeutungslosigkeit. Keine Ziele, keine Pflichten. Frei und gefangen im eigenen Käfig. Gold und Blei. Tausende dieser halbpoetischen Sinnvergleiche durchflossen wie Abfall meine Gedanken, während ich durch die zerbrechliche Porzellanmaske vor meinem Gesicht sprach. Worte, die so falsch in meinem Mund klangen, sobald sie sich von den Lippen lösten zu Sätzen formten, in denen Lüge und Selbstanklage mitschwangen, für den normalen Hörer unhörbar. Immer enger kamen die Wände auf mich zu, engten mich ein. Ein bisher nicht gekanntes Gefühl der Klaustrophobie befiehl mich und zwang mich dazu, mir Platz zu schaffen. Chaotische Ordnung – Den Schein zu wahren. Schließlich, als die Zeit endlich tickte, verging und mich alleine ließ, und der Minutenzeiger auf die neunte Stunde rückte, und der Viertelstundencountdown begann, stahl ich mich davon, in die Nacht. Nun wusste ich was es war. Das beklemmende Gefühl, zersplittert zu sein. Wie ein Selbstverrat klagte ich mich an. Oder anders gesagt, eines meiner Ichs. So war ich es doch nicht etwa, der damals diese Worte sprach. Im Wissen, dass sie nie ein Ohren zu hören bekäme? Oder war ich es nicht, der heute dorthin zurück blickte? Wer war ich überhaupt? Der, der dieses Schauspiels Hauptdarsteller ist? Oder der, der das manierliche Stück geschrieben, eh gedacht gehabt hat? Oder dachte ich es nur, und spiele jetzt nur den Gedanken, ohne einen Satz geschrieben zu haben? Oh wehe den, der wissen will.
Je mehr ich mich in diesen Gedanken verbiss umso mehr verzweifelte ich an ihm. Ich hatte mich selbst aufgelöst, zu dem gemacht, der ich sein konnte, ohne aufzufallen. Angepasst, Grau. Verschwunden die Freiheit, gebunden in Fesseln, die ich mir selbst angemaßt hab, im Glauben, mich befreien zu können. Doch Nein, denn in dem Moment in dem man diese Ketten annimmt, lebt man mit ihnen. Sie verschwinden aus dem Sinn, sobald man sich daran gewöhnt hat. Daraus entsteht das blinde Leben, dem man doch mit offenen Augen entgegentritt. Ich drehte mich nur im Kreis, durch die Autoreihen. Verloren unter dem Firmament.
Nun war ich von allem verlassen. Der Mond hatte sich hinter die Wolken zurückgezogen, der Schnee schien für einen Moment das Funkeln vergessen zu haben und die Sterne funkelten auch nicht mehr so hell wie zuvor. Es schien, als sei die ganze Welt von mir enttäuscht – Und sie hatten Recht. Ich elender Heuchler, der die ganze reiche Gesellschaft des Abends aufgrund ihrer Affektion verfluchte, fiel meiner eigenen Aufgeblasenheit zum Opfer, war ich doch nicht anders als sie und rettete mich in meine scheinbare Freiheit, nur um festzustellen, dass ich seit diesem Tag nur noch Gefangener war, mit in Ketten schlafen legend. Mein Leben war grau und geregelt, voll von Pflichten meines Berufs und meiner Bekannten. In einem stummen Stoßgebet an meinen Stern entschuldigte ich mich für meine Einfältigkeit. Dann endlich fand meine Wanderung ein Ende. Ich öffnete mit einem kurzen Klicken die Verriegelung meines Wagens und ergriff, ohne hinzusehen, den einzigen Gegenstand, den ich mitgebracht hatte. Eine einzelne Rakete, in dezentem Grau. Der Schnee knirschte vorwurfsvoll und gleichzeitig mitleidig unter meinen Stiefeln, während ich durch die Autoreihen ans Ufer der Seine stapfte. Zärtlich trug ich dabei den Feuerwerkskörper in meiner Hand, sorgsam darauf bedacht, die Lunte nicht feucht werden zu lassen. Die Uferböschung war ungefähr eine Mannslänge hoch, sodass ich vorsichtig an einer flacheren Kante hinabzusteigen versuchte. Trotzdem artete der Abstieg in eine mehr oder weniger schmerzhafte Rutschpartie aus, die auf dem harten, gefrorenem Boden des Strandes ein jähes Ende nahm. Ich strauchelte kurz, fing mich wieder und schlich vorsichtig zur Wasserkante, die bereits angefroren war, ein Hinweis auf die winterliche Temperatur, die mittlerweile auch nicht mehr vor fließenden Gewässern Halt machte. Behutsam steckte ich die Rakete in den noch weichen Sand unter dem klaren, eiskalten Wasser der Seine. Und wieder verschwamm meine Sicht, ich fiel. Und betrachtete plötzlich ein Bild von Neil Armstrong, dem ersten Menschen auf dem Mond. Das Zimmer um mich herum war klein, es ähnelte mehr einer Kammer, als einem wirklichen Raum, und besaß nur ein Fenster, das zum Garten hin ausgerichtet war.
Spärlich eingerichtet und dekoriert, erinnerte alles in diesem Raum an das Weltall. An den Wänden hingen Bilder von Sternen, Nebeln, Galaxien. Alte, vergilbte Zeitungsausschnitte stapelten sich in vielen Mappen auf der Anrichte, von einem Modell einer Raumkapsel vor dem Wind geschützt, der durch das offene Fenster hereinwehte und den zentimeterdicken Staub umherwirbelte, der sich auf der bizarren Menagerie angesammelt hatte. Ich sah mich gleichzeitig stumm da stehen und das Bild betrachten, und sah es dennoch ebenfalls durch meine Augen, während ich Tränen auf meiner Wange spürte. Es war jener verhängnisvolle Tag, an dem Cécile, die ewige Freundin und das ewige Mysterium, verstarb. Sie sei mit ihrem Auto von der Straße abgekommen, habe einen Baum gerammt, wurde mir von den Nachbarn berichtet. Ob sie diesen Tod geplant hatte, fand ich nie heraus. Und niemand dachte daran. Alle trauerten um die Cécile, freundliche Nachbarin. Oh welch grausame Schande. Sie trauerten um die falsche Tote. Für sie war sie eine junge Dame, die zu früh gestorben war. Ein Mädchen das glücklicher nicht hätte sein können. Wie hatten sie die Augen übersehen, die Trauer? War ich der Einzige, der sie kannte? Was war nach mir? Verlosch das Licht, das von ihr ausging?
Plötzlich überfiel mich das Bedürfnis, etwas zu sagen. Ein paar letzte Worte. Ein Paradoxon, in mehrfacher Hinsicht. So vermochte ich kein Wort zu sagen, das ihrer Größe ansatzweise gleichkam. Und dennoch schien es mir falsch, still zu bleiben. „Danke.“, murmelte ich in meinen Schal hinein. Ich wünschte, ich hätte mehr gesagt. Zu viele Dinge blieben ungesagt. Zuviel Geschehenes verschied in Stille.
10, 9, 8, 7, 6, 5, 4, 3, 2, 1 ... 0.
Die Lunte brannte, und die restlichen Überreste Céciles nahmen zischend Abschied, als sie Richtung Sterne flogen.
Ich erklomm die Böschung, und beobachtete die farbenprächtige Illusion der Freude, die ebenso schnell verblasste, wie sie gekommen war. Ein Spiegel des Lebens, das wir teilten und kaum kannten. Und dann folgte das Donnerwetter über der Stadt. Ein Lichtermeer, wie zu ihren Ehren, ergoss sich über Paris und ließ die Metropole für einen Augenblick taghell erleuchtet zurück. Plötzlich spürte ich einen Arm auf meiner Schulter. Ein leicht beschwipster Gast der Feier war mir gefolgt. Es sah mich mit geweiteten Augen an. „Und?“, fragte er lallend provokant.
„Gibt es etwas, was sie am vergangenen Jahrtausend bereut haben?“
Und dann ging mir, ähnlich wie der Stadt, für einen Augenblick ein Licht auf.
„Seit 50 Jahren liebte - verehrte ich dasselbe Mädchen“, bekannte ich bedächtig. Mein Gegenüber zog ratlos eine Augenbraue nach oben.
Ich lächelte, und mit einer einzigen Träne in den Augen sagte ich, gen Himmel blickend: „Ich wünschte sie hätte es gewusst.“
Sephoniel ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Frau Kopernikus



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
An die Frau AndereDimension Humorvolles und Verborgenes 5 01.12.2014 21:57
Frau Mai. Günter Mehlhorn Humorvolles und Verborgenes 5 22.05.2011 15:36
Frau K. Rivale Düstere Welten und Abgründiges 0 06.04.2011 20:49
Frau Mai... Günter Mehlhorn Humorvolles und Verborgenes 2 03.06.2010 15:58
Die Frau, die süß Blaui Liebe, Romantik und Leidenschaft 0 24.10.2006 20:18


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.