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Alt 26.07.2006, 15:04   #1
Swanbone
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 4


Standard Die blaue Holztür

Die blaue Holztür

Der U-Bahnhof Sophie-Charlottenstraße in Berlin Charlottenburg sieht im Herbst nicht anders aus als jeder U-Bahnhof Berlins. Oben ist die Welt von kräftigen Farbtönen in gelb, feuerrot und Organe geprägt, hier unten ist sie dunkel und feucht. Auf dem mattgrauen Gelb der Wände sind Bilder von großen Maschinen in, inzwischen verblasster, schwarzer Farbe gemalt worden - antiquierte Zeugen der Vergangenheit: Sie zeigen den U-Bahnhof so wie er früher einmal gewesen sein musste. Die Bahnsteige sind dreckig.
Sarah, eine Studentin von 25 Jahren und hagerer Statur sitzt auf einer der kleinen schwarzen Bänke. Ihren Rucksack hat sie auf die Knie gelegt, die Hände neben den Hüften aufgestützt, so dass ihr ganzer Körper angespannt ist. Ihr dünnes Gesicht wirkt abwesend, ihre Augen sind grau und traurig.
Ein Zug fährt ein, eine Gruppe Menschen steigt aus, andere steigen ein. In dem Gedränge ist es unmöglich einzelne Gesichter zu unterscheiden. Die Menschen rempeln sich an, stoßen, man hört Gesprächsfetzen, ein lautes Konzert verschiedenster Stimmen schwillt an und durchbricht die Stille des Bahnhofs. Sarahs Augen blicken ohne Interesse auf das Knäuel Menschen. Das Chaos ordnet sich, die Türen schließen sich hinter denen, die eingestiegen sind, die anderen steuern geschlossen auf die Treppe zu und verschwinden im trüben Licht des Herbsttages. Sarah steht auf. Sie geht langsam zum Rand des Bahnsteiges, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Die Bahn ist abgefahren; die Stille ist zurückgekehrt. Sie blickt auf die Gleise, zwischen denen sich der Unrat stapelt. Zigaretten, Getränkedosen, Zeitungsfetzen - dort unten kann man ein Sammelsurium der verschiedensten Dinge entdecken. Sarah ist von dem Anblick schnell gelangweilt, sie dreht sich um und betrachtet flüchtig die anderen Menschen, die auf die nächste Bahn warten. Manche von ihnen stehen, andere haben sich auf die kleinen Bänke niedergelassen, von denen die Farbe abblättert. Die Uhr an Sarahs Handgelenk zeigt viertel vor zwölf. Ihr Blick wandert noch einmal ziellos umher und bleibt an einem Kiosk hängen, der sich genau neben dem Ausgang der Station, direkt neben dem Treppenaufgang befindet. Der Verkäufer ist ein fetter kleiner, gelangweilt aussehender Mann; in der einen Hand hält er eine Zeitung, in der anderen eine Tasse Tee. Die Auslagen sind wenig interessant, neben Süßigkeiten und Zeitungen verkauft er dort nur Handykarten und Getränke.
Sarah geht auf den Kiosk zu. Der kleine fette Mann blickt sie schwerfällig an. Für einen kurzen Moment kommt sie sich wie eine Ruhestörerin vor. Eine Dose Cola hätte sie gerne. Der Mann macht sich nicht die Mühe zu antworten, er dreht seinen fetten Rumpf zur Seite und kramt von irgendwo unter ihm eine Getränkedose hervor. Das mache einen Euro. Sarah zahlt. Die Dose ist warm. Eigentlich hat sie gar keinen Durst. Während sie von dem Stand zurücktritt, lässt sie die Cola in ihren Rucksack gleiten. Sie dreht den Kopf nach links und erblickt einen kleinen Papierkorb neben dem Kiosk. Einige Seiten Papier aus ihrer Tasche herauszerrend, tritt sie an ihn heran und stopft den Abfall in den hoffnungslos überfüllten Mülleimer. Eine leere Dose fällt scheppernd zu Boden, Sarah ignoriert sie. Es ist nun zehn vor zwölf.
Sarah blickt in den Schatten neben der Bude. Ungefähr zwei Meter neben dem Kiosk endet der Bahnsteig und eine graue Wand wächst dort aus dem Boden. Sie ist schmutzig, genau wie alles andere dort unten. Ihr unterstes Drittel liegt in dem tiefen Schatten des Verkaufsstandes. Staub türmt sich dort in diesem Schatten, die Wand ist übersät mit klebrigen Flecken.
Fast automatisch geht Sarah auf diese dunkle Stelle des Bahnsteiges zu. Ihr Blick sucht die Ecke ab, bis er an etwas hängen bleibt, das in der Dunkelheit blau schimmert. Es ist eine kleine Holztür.
Sarah bleibt stehen. Die Tür wirkt inmitten von diesem Trübsal merkwürdig fremd. Das Blau ist kräftig, es scheint geradezu aus dem Schatten herauszustrahlen und Sarahs Schritte erst unmerklich, dann immer stärker zu sich hin zu ziehen. Sie geht an dem Kiosk vorbei - der kleine Mann schaut nicht von seiner Zeitung auf. Sie steht vor der Tür. Wie merkwürdig. Wozu soll diese Tür denn gut sein? Anscheinend ist sie kein Bedienstetenzugang, kein "Betreten verboten" Schild ziert sie. Des Weiteren ist sie in der Wand, die sich hinter ihr meterweit in den U-Bahntunnel hineinerstreckt vollkommen nutzlos. Hinter ihr konnte sich kein weiterer Raum befinden. Und doch war sie da. Sarah tritt näher, bis sie nur noch wenige Zentimeter von dem blauen Holz trennen. Ihre Fingerspitzen streichen über die Tür, sie fühlt sich rau an. Die metallene Klinke dagegen ist kalt und hart, als ihr Handgelenk sie zufällig streift. Sie scheint wirklich real zu sein. Unschlüssig betrachtet sie die Tür einige Sekunden lang. Dann wirft sie erst einen verstohlenen Blick zur Seite und presst dann, nach einem kurzen Zögern, vorsichtig ihr Ohr gegen die Tür. Anfangs kann sie nichts hören, doch dann drückt sie ihren Kopf stärker gegen das Holz, schließt die Augen und konzentriert sich. Weit entfernt kann sie nun ein Rauschen erahnen, das mal anschwillt, dann wieder abnimmt.
Ein starker Luftzug streift ihr Gesicht, eine weitere Bahn fährt ein. Sarahs Uhr zeigt nun fünf vor zwölf. In dem Lärm, den der Zug macht, kann sie das Rauschen nicht mehr wahrnehmen. Beschämt tritt sie schnell zurück, als sie bemerkt, dass eine Gruppe Menschen auf die Treppe zusteuert und sie in ihrem merkwürdigen Benehmen genau erkennen kann. Gesprächsfetzen ziehen an ihr vorbei, niemand bleibt stehen um zu schauen. Ein junger Mann mit schwarzen Haaren kauft sich eine Zeitung am Kiosk. Die Menschen gehen die Treppe hinauf und verschwinden abermals. Der Zug fährt ab.
Sarah kommt sich wie eine Irre vor, die ihre Nase in fremde Geheimnisse steckt. Doch die Tür ist, ungerührt von dem Chaos, das sie eben noch umgeben hat, noch immer da und ihr Blau strahlt nun stärker als zuvor. Warum hat denn nur niemand Notiz von ihr genommen? Sarahs Gesicht nähert sich ihr ein weiteres Mal. Sie presst das Ohr an die Tür und kann nun wieder das entfernte Rauschen wahrnehmen. Gleichzeitig steigt ihr ein seltsamer Geruch in Nase, er ist frisch und salzig. Sarah atmet ihn tief ein. Er gefällt ihr. Auf der anderen Seite der Tür kann sie nun plötzlich einen merkwürdigen Schrei hören. Er klingt schrill, kurz und abgehackt. Auf jeden Fall ist er nicht menschlich. Erschrocken fährt sie zurück.
Plötzlich wird sie sich darüber im Klaren, was für ein komisches Bild sie abgeben muss, wie sie gedankenversunken an einer blauen Tür lauscht und sich seltsam benimmt. Verstohlen dreht sie sich um.
Auf der Bank die ihr am nächsten ist, direkt auf der anderen Seite der Treppe, sitzt ein alter Mann mit einem faltigen, grotesken Gesicht. Er hat eine Plastiktüte mit alten Flaschen neben sich gestellt, seine rechte Hand umklammert krampfhaft eine Wodkaflasche, sein Blick geht leer in die Unendlichkeit. Weiter hinten ist eine schwangere Frau gerade im Begriff sich schwerfällig hinzusetzen, ein Mann mittleren Alters liest stehend ein Buch, eine Mutter ruft, mit einem hässlichen Ton in der Stimme, ihr vierjähriges Mädchen zu sich , das zu nah an die Gleise geraten ist. Keiner dieser Menschen nimmt Notiz vor Sarah, die sich - den Rucksack krampfhaft umklammernd - mit einem schüchternen Blick davon überzeugt, dass niemand ihr zusieht. Nein, jeder von ihnen ist viel zu sehr mit seinem eigenen Schicksal beschäftigt.
Sarahs Uhr zeigt nun eine Minute vor zwölf. Noch einmal lässt sie den Blick wandern, dann ist ihr Entschluss gefasst. Sie lässt den Rucksack auf den Boden gleiten und streckt ihre Hand nach der Klinke aus. Das Metall fühlt sich noch immer so kühl an wie vorhin, als sie es zufällig gestreift hatte. Sie drückt die Klinke herunter. Es geht leicht, stellt sie überrascht fest, sie hatte mit einem größeren Kraftaufwand gerechnet. Die Tür öffnet sich, ohne zu knarren. Sarah tritt hindurch. Hinter sich hört sie gerade noch, wie eine weitere Bahn im Begriff ist einzufahren. Dann schließt sich die Tür mit einem dumpfen Klang und verschwindet.
Erstaunt erkennt Sarah nun endlich, was das Geheimnis der blauen Holztür gewesen ist. Ihre Füße fühlen die feinen Sandkörner eines Strandes. Sie blickt auf das Meer. Irgendwo oben in der Luft kann sie die Möwen schrill, kurz und unmenschlich schreien hören. Als sie sich umdreht, ist die Tür verschwunden. Sarah sieht grüne Dünen, die sich bis zur Unendlichkeit fortziehen. Auch der Strand erstreckt sich auf beiden Seiten bis zum Horizont und darüber hinaus.
Sarah blickt auf ihre Uhr. Sie zeigt noch immer zwölf. Sie hält das kleine Ziffernblatt an ihr Ohr; die Uhr hat aufgehört zu ticken. Sie nimmt sie ab und lässt sie achtlos im Sand liegen.
Sarah hebt einen Fuß aus dem warmen gelben Sand um einen Schritt zu tun, überlegt es sich dann jedoch anders und verharrt regungslos.
Und wie sie da steht – es mögen Stunden, Tage oder Wochen gewesen sein – bemerkt sie eine seltsame Veränderung in ihrem Körper. Sie schlingt die Arme um sich und presst den Kopf auf ihre Brust, so als ob sie Schmerzen hätte. Und während sie das tut, beginnt der Strand sich auszudehnen: Die Dünen wachsen in die Höhe, bis sie ihr gesamtes Blickfeld ausfüllen, gleichzeitig kommen ihr die Sandkörner immer näher. Und da begreift Sarah, dass sie kleiner wird.
Immer weiter und weiter schrumpft sie und rollt sich zusammen, bis sie nur noch die Größe eines Sandkornes hat. Eine angenehme Wärme erfüllt ihren Körper und gibt ihr zu verstehen, dass sie jetzt schlafen muss. Sarah schließt ihre kleinen Augen und gibt sich der Müdigkeit hin, ohne einen Gedanken an heute, gestern oder morgen zu verschwenden.
So schläft sie ein, eingewiegt vom Rauschen des Meeres. Und so liegt sie dort noch immer, zwischen den tausend Milliarden Sandkörnern dieses wundersamen Strandes.

Im U-Bahnhof Sophie-Charlottenstraße blickt nun der alte Mann mit dem grotesken Gesicht in die dunkle Ecke neben dem Kiosk. Er lässt die Wodkaflasche aus der Hand gleiten, sie fällt klirrend zu Boden und rollt auf den Rand des Bahnsteiges zu. Mit unendlicher Mühe gelingt es ihm endlich aufzustehen und er schlurft, langsam und ein Bein hinter sich herziehend, auf eine kleine blaue Holztür zu, die ihm inmitten der schmutzigen Dunkelheit aufgefallen war.
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Alt 26.07.2006, 15:31   #2
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Hallo Swanbone,

wieder eine schöne, schaurige, fantastische Geschichte. Und gut geschrieben - es wird nie langweilig. Ich hoffe, in der Richtung kommt noch mehr von Dir.
Die ganzen Sandkörner des Strandes - wenn man sich vorstellt, dass sie alle mal Menschen gewesen sein könnten - das ist schaurig.
Auffällig: Es trifft anscheinend nur traurige Menschen. Solche, die man vielleicht als selbstmordgefährdet bezeichnen könnte.

Das einzige, das ich nicht so empfinde beim Lesen, ist die Zeit. Für mich vergeht da nicht eine Viertelstunde, höchstens 10 Minuten. Aber das ist eine Kleinigkeit, über die andere vielleicht anders denken mögen. Ich würde diesbezüglich auf weitere Kommentare warten.
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
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