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Alt 02.04.2012, 18:05   #1
weiblich Windfängerin
 
Dabei seit: 04/2012
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Beiträge: 6


Standard Engelsgleich

Engelsgleich. Wie ein verbotenes Verlangen, das die Brust zum Bersten bringt und den Kopf zum Explodieren. Immer und immer wieder fragte ich mich, warum keiner sah wie schön sie war. Oder warum alle sahen wie schön sie war. Nur sie selbst gehörte zu denen, die blind für ihre Schönheit waren. Ich beobachtete sie nicht. Okay, vielleicht ein bisschen. Meine Augen schweiften wie von selbst zu ihr. Ich genoss es, wenn ich sie sehen konnte. Wenn ich ein paar ihrer Gesten sah, die sie unbewusst machte. Wenn sie sich durch ihr langes dunkles Haar strich, oder lächelte, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Ich sah sie, wenn sie auf ihn zuging und er sie küsste. Wenn er sie im Arm hielt, lachend neben seinen Freunden, die ihre Freundinnen in ihren Armen hielten. Ich sah sie. Sie mich nicht.
Sie hatte nur Augen für ihn. Ihn, den blonden, großgewachsenen Sportler. Ihn, den Tennisspieler. Ihn, ihren Freund. Sie schienen das perfekte Paar zu sein. Er verteidigte sie gegen Männer, die ihr Leid zufügen wollten. Nur gegen ihn selbst verteidigte er sie nicht.
Ich wusste nicht, ob sie mich überhaupt wahrnahm. Gegen ihn war ich nichts. Mein Haar war dunkel, jedoch eine Farbe, die jeder dritte hatte. Nichts Besonderes, wie sein strahlend blondes Haar. Meine Augen waren von einem trüben grau. Ich war nicht groß, ich war durchschnittlich. Ich war in allem nur durchschnittlich. Nicht perfekt, so wie er. Warum also sollte ich es verdienen von einem perfekten Wesen, wie sie eines war, beachtet zu werden?
Sie war oft sehr ruhig, wenn sie mit seinen Freunden zusammen war. Er redete, sie lachte über Witze, die sie erzählten und manch einer hätte vielleicht glauben können, sie fühlte sich wohl unter den Beliebten, den Sportlern.
Ganz anders war es, wenn sie mit ihm alleine war. Da blühte sie auf, wenn er sie küsste und sie die Arme um ihn schlang und ihm etwas ins Ohr flüsterte, worauf er lachte und sie erneut küsste. Sie waren unzertrennlich, immer zusammen. Bei den Feiern am Fluss und danach, wenn sie gemeinsam zu ihm nach Hause fuhren. Ich kam mir vor wie ein Stalker wenn ich ihnen folgte. Dabei wohnte ich einfach nur in der gleichen Richtung und hatte den gleichen Weg. Ich versank nicht in Selbstzweifel oder schmiedete Racheakte gegen ihn, nur weil er das haben konnte, was ich so gerne wollte. Ich hatte mich damit abgefunden, es war auch unrealistisch, dass sie mich sah, geschweige denn ihren Freund für jemanden wie mich verließ.
Warum sein Blut trotzdem an meinen Händen klebt? Weil er ihr das Licht genommen hat. Weil er sie hat verwelken lassen. Weil er sie zerstört hat.
Keiner konnte sie sehen, die blauen Flecken, die sie unter ihren Kleidern versteckte. An ihren Armen und ihrem Körper. Keiner konnte die Blutergüsse sehen, die sie unter der Schminke verbarg, an den Stellen, wo er sie geschlagen hatte. Doch wer hätte geglaubt, er würde so etwas tun?
Er, der Perfekte, den sie so liebte und der auch sie zu lieben schien?
Vielleicht liebte er sie wirklich. Vielleicht zu sehr.
Es war ganz zufällig, dass ich die beiden sah, wirklich. Ich stand auf dem Balkon meines Zimmers und genoss die Dunkelheit, genoss die Freiheit der Nacht. Ich genoss ihr Lachen, das aus seinem Haus zu mir herüber drang. Ich sah ihre Schatten hinter den weißen Gardinen, hörte ihre Worte und Liebesschwüre. Ich sah ihre Liebe als Schattenspiel, sah wie er sie auszog und sie ihn streichelte. Ich hörte ihn lachen und sie schlucken, als sie gemeinsam den Wein tranken, den er als Prämie für den ersten Platz im Tennis erhalten hatte.
Natürlich tat es weh. Doch gönnte ich ihr das Glück. Weil ich sie liebte, so wie sie ihn.
Als das Licht hinter den weißen Gardinen erlosch verließ ich den Balkon und legte mich in mein Bett. Schlafen konnte ich jedoch nicht. Immer wieder sah ich sie vor mir, ihr Lächeln. Wie ihr Freund sie küsste, an Stellen, die meine Vorstellung mir verbieten sollte. Sie war es, die mich wach hielt. Und sie war es, die mich wieder aus meinem Bett springen ließ.
Es war ein Schrei. Doch klang er anders, als die Schreie, die sie ausstieß, wenn sie ihn liebte. Der Schrei klang nach Schmerzen. Ich stürmte wieder auf den Balkon und sah ihn, wie er sich über sie beugte, die Gardinen herab gerissen von ihr, als sie versucht hatte sich an ihnen festzuklammern. Ich hörte ihn lallen, wie sehr er sie liebte und das sie ihn doch auch liebte.
Ihre Stimme klang so verloren, als sie es bestätigte. Noch verlorener aber klang sie, als sie ihn bat aufzuhören. Eine Stimme, die die Hoffnung längst aufgegeben hatte. Gewaltsam hielt er sie fest an den Armen und schließlich hörte sie auf sich zu wehren. Kein Schluchzen entstieg ihrer Kehle, doch ich meinte sogar aus der Entfernung ihre Tränen im Mondlicht glitzern zu sehen. Ich drehte mich weg, denn ich wollte nicht sehen, wie er sie verletzte. Ich hörte trotzdem das Klatschen seiner Hand auf ihrem Körper als er sie schlug. Ich hörte seine Stimme, schwer von Wein, als er sie beschimpfte ihn nicht zu lieben und ihren Körper an andere zu verkaufen. Irgendwann war es still. Und die Stille war schlimmer, als alles was davor gewesen war.
Ich hielt es nicht aus. Stundenlang wälzte ich mich in meinem Bett hin und her und wieder hatte ich nur sie vor Augen. Schließlich rannte ich hinaus. Ich rannte, bis ich keine Luft mehr in den Lungen hatte. Ich rannte, bis ich sie einsam am Fluss stehen sah, die Arme um ihren Körper geschlungen, zitternd. Sie trug nur ein weißes Hemd, das ihr zu groß war und ihm gehörte. Lautlos blieb ich stehen, doch trotzdem drehte sie sich um, die Augen aufgerissen.
„Was machst du hier?“ Ihre Stimme klang tränenschwer und ich musste ihrem Blick ausweichen. Ja was machte ich dort?
Ich zuckte die Schultern.
„Ich könnte dich das gleiche fragen.“ Sie nickte kurz und drehte sich dann wieder dem Fluss zu.
Ich wusste nicht was mich dazu trieb näher an sie heranzugehen und mich neben sie zu stellen.
„Schön nicht?“
Ich wusste, dass sie den Fluss und die Nacht meinte. Die Sterne und die ganze Welt. Und ich antwortete:
„Ja. Du bist immer wunderschön.“
Für einen kurzen Moment war es still, dann sah sie mich an mit ihren traurigen Augen, die den Schmerz zeigten, den sie vor den Menschen verbarg.
„Warum sagst du so etwas?“
„Weil es die Wahrheit ist. Du siehst sie nur nicht.“
Sie senkte den Kopf und ich sah, dass sie weinte. Ganz sachte ergriff ich ihre Hand, doch sie zog sie weg.
„Lass...“
Ich seufzte, doch ließ ich ihre Hand gehen. Sie setzte sich ins Gras und ich setzte mich neben sie. Wir betrachtete die Lichter der Stadt, die aufgehende Sonne und sagten nichts. Jeder war in seinen Gedanken versunken. Als die ersten Vögel zu singen begannen stand sie auf.
„Ich muss gehen. Er wartet auf mich.“
Für einen kurzen Augenblick flackerte Wut in meinem Blick auf und sie wich zurück.
Wie konnten ihre Augen noch vor Liebe strahlen, wenn sie über ihn sprach, nach all dem, was er ihr angetan hatte.
Ich zuckte jedoch nur die Schultern.
„Ich muss auch gehen.“
Wir sprachen nicht, sie ergriff nur flüchtig meine Hand und für ein paar Sekunden strich sie mit ihrem Daumen über meine Handfläche, wie der Schlag eines Schmetterlingsflügels.
Dann drehte sie sich um und ging in Richtung der Stadt, die Ärmel des großen weißen Hemdes schwangen hinter ihr, wie zwei Flügel eines gefallenen Engels.
Sie war wie immer. Sah mich nicht an, lachte mit ihm und küsste ihn. Sie verbarg die Wunden unter der Spitze ihres Kleides. Die Wunden in ihrer Seele aber konnte sie nicht verbergen. Oft sah ich zu ihr hinüber, doch der einzige, der meinen Blick erwiderte war er. Spöttisch sah er mich an und legte einen Arm um sie, als wollte er mir zeigen, dass sie nur ihm gehörte.
Er trank und nachts hörte ich ihre Schreie, die leiser wurden, kraftloser.
Oft fragte ich mich wie sie es aushielt und ihn trotzdem lieben konnte. Es gab Dinge, die ich wohl nie verstehen werde.
Ich überlegte nächtelang, wie ich ihr helfen konnte. Wie ich ihn von ihr fernhalten konnte. Doch immer kam ich zu dem Schluss, dass sie mich hassen würde. Sie liebte es, wie er sie zerstörte, weil sie ihn liebte.
Es regnete und ich verfluchte mich für meine eigene Dummheit, den Schlüssel im Haus vergessen zu haben. Ich war erst spät nach hause gekommen von einem Billardabend mit meinen Freunden, alles Loser, wie ich einer war. Gerade wollte ich durch das Fenster, das ich für solche Fälle immer offen ließ, ins Haus steigen, als ich sie sah. Sie rannte und ich hörte seine Flüche, die er ihr hinterher brüllte, bis seine Stimme schließlich erstarb und ich nur noch Schnarchen hörte.
Irgendetwas in mir brachte mich dazu ihr zu folgen. Diesmal bemerkte sie mich nicht. Sie saß am Fluss, den Blick über die Stadt schweifend und mit den Händen eine Pistole haltend.
Ich sog scharf die Luft ein. Wo hatte sie die Waffe her? Und vor allem, was hatte sie damit vor?
Sie musste mich gehört haben, denn sie drehte sich ruckartig um.
„Was...?“ begann ich, doch sie setzte sich die Pistole an den Kopf und meine Stimme erstarb.
„Komm nicht näher.“ Ihre Stimme war ruhig und gelassen.
„Lass den Scheiß! Nimm die Waffe weg!“ Ich fühlte mich so hilflos wie noch nie in meinem Leben. Ich machte einen Schritt auf sie zu. Ihre Finger schlossen sich um den Abzug.
Ich knurrte hilflos, blieb aber wo ich war.
„Warum machst du das?“ meine Stimme spiegelte meine Hilflosigkeit wider.
Sie lachte leise.
„Ich weiß nicht. Vielleicht, weil ich es nicht verdiene weiterzuleben. Weil ich alles falsch mache und die verletze, die mich lieben.“
Sie hatte die Waffe von ihrem Kopf weg genommen, doch als ich einen Schritt auf sie zumachen wollte hob sie sie drohend wieder an.
„Was erzählst du da. Er ist es doch, der dich verletzt, der dich schlägt. Wie sollte er dich lieben?!“
Ich schrie nun fast. Ihre Augen riss sie auf vor Erstaunen.
„Du weißt...?“
„Natürlich weiß ich es.“ Ich ging auf sie zu und als ich ihr sanft die Waffe abnahm leistete sie keinen Widerstand.
Ich drehte ihren Arm so, dass man die blauen Flecken sehen konnte, die seine Finger auf ihrer Haut hinterlassen hatten. Sie versuchte mir den Arm zu entwinden, doch ganz plötzlich brach sie zusammen und ihr Kopf senkte sich auf meine Brust. Sie trommelte mit ihren Fäusten auf meinen Rücken und ich hielt sie. Sie schluchzte, ich strich ihr beruhigend über den Rücken. Der Regen umschloss uns beide wie ein graues Tuch.
Irgendwann trat sie einen Schritt zurück.
„Aber ich liebe ihn doch.“
Ich nickte nur.
„Ich weiß.“ Und mit diesen Worten nahm ich ihre Hand und gemeinsam gingen wir zurück, raus aus dem Regen und hinein in die Stadt. Kurz drehte sie sich zu dem Haus um, in dem ihr Freund schlief, bevor sie mir in das meine folgte.
Sie setzte sich auf mein Bett und ich gab ihr trockene Kleidung und etwas heißes zu trinken.
„Warum tut er das?“ fragte ich sie. Sie zuckte die Schultern.
„Er hat Angst. Angst, dass ich ihn betrüge oder verlasse.“
„Und deshalb schlägt er dich?! Eine komische Art dir seine Liebe zu zeigen.“
Sie seufzte und zog die Knie an ihren Körper.
„Ich könnte ihn nie verlassen. Weißt du, ich liebe ihn mehr, als ich mich selbst jemals lieben könnte. Er zeigt mir, dass ich liebenswert bin. Und wenn ich dafür leiden muss, nehme ich es in Kauf. Das verstehst du nicht.“
Sie drehte sich von mir weg und ich ging auf den Balkon, um sie alleine zu lassen.
Als ich wieder hinein kam schlief sie.
Sie war so wunderschön, wie sie da lag, in meinem Bett, ihr langes Haar neben ihrem Kopf ausgebreitet. Die Augen geschlossen, ihre Wimpern warfen lange Schatten auf ihre Wangen.
„Wenn du dich doch nur einmal selbst sehen würdest wie wunderschön du bist.“ Ich seufzte und legte mich neben sie, darauf bedacht sie nicht zu berühren. Ich war fast eingeschlafen, als sie den Arm um mich schlang und ihren Kopf auf meine Brust legte.
Ich strich ihr durchs Haar. Und bevor mich der Schlaf übermannte hörte ich sie leise im Schlaf meinen Namen flüstern.
Als ich erwachte war sie fort. Nur ein kleiner Zettel lag auf meinem Tisch.
„Danke“ stand darauf.
Ich seufzte und stellte dabei fest, dass ich dies sehr häufig tat in letzter Zeit.
Als ich in meine Jacke schlüpfte fiel mit einem dumpfen Schlag ein schwerer Gegenstand heraus. Die Pistole lag dort, wie eine schwarze Schlange. Ich hob sie auf, unwissend, was ich mit ihr machen sollte. Ich verstaute sie neben meinem Bett in der Schublade, bevor ich das Haus verließ.
Das Leben ging weiter, tagsüber sah ich ihre Liebe, nachts hörte ich ihre Schreie. Sie wurden häufiger, er schlug sie öfter.
Eines Tages kam sie in die Schule mit einer Platzwunde über dem Auge. Als ich sie darauf ansprach zuckte sie nur die Schultern und sagte sie wäre gefallen. Kurz darauf drehte sie sich wieder fort von mir und küsste ihn, während er grinste.
Der Hass in mir wuchs. Wie eine schwarze giftige Blume pflanzte er sich in meine Brust und verschlang alles andere.
An dem Tag, an dem ich nach vielen Jahren mal wieder in ein Krankenhaus musste, schien die Sonne.
Der Zufall wollte es und ich begegnete ihm alleine. Es war hinter der Schule und er stieß mich an.
„Ey Kleiner, du stehst im Weg.“
Ich war nicht wirklich kleiner als er, doch empfand er es wohl als ultra cool mich so zu nennen.
„So?“ Ich sah ihn an.
„Und was willst du jetzt machen. Willst du mich schlagen, genau wie sie?“
Das überhebliche Grinsen verschwand aus seinem Gesicht.
„Was hast du gesagt?“ knurrte er.
„Du hast mich schon verstanden. Ich weiß, woher die Flecken auf ihren Armen kommen, auf ihren Beinen und...“
Weiter kam ich nicht.
Seine Faust traf mich in den Magen und ließ mich zusammenklappen.
„Du Bastard! Du wagst es sie anzufassen! Was hast du mit ihr gemacht, hm? Hast du ihr deinen kleinen Freund gezeigt?! Hast sie zum stöhnen gebracht, die kleine Schlampe! Aber ich sag dir was , Freund: Sie. Ist. Und. Bleibt. Meine. Freundin. Kapiert?!“
Mit jedem seiner Worte trat er mir ins Gesicht, das ich verzweifelt mit meinen Armen zu schützen versuchte. Ich hörte mein Handgelenk brechen und mich vor Schmerzen schreien.
Trotzdem brachte ich die Worte hinaus, die ich ihm schon vor so langer Zeit sagen wollte.
„Selbst wenn du ihren Körper besitzt, ihre Seele gehört dir nicht. Die Seele eines Engels kann ein Wichser wie du niemals besitzen! Du bist ein dreckiger ...“
Der Tritt der folgte ließ meine Zähne splittern und ich schmeckte Blut im Mund.
Ich sterbe.
Der Gedanke war unvermeidbar und es erschien mir wie ein Wunder, als plötzlich ein Lehrer kam und ihn von mir wegzerrte.
Ich sah sein wutverzerrtes Gesicht und hörte seine Stimme, die mich immer noch beschimpfte. Doch eigentlich sah ich nur sie. Wie sie ihren Kopf schüttelte mit Tränen in den Augen und sich von mir abwandte. Ein Engel, der fortflog, um sich die Flügel abschlagen zu lassen.
„Ich liebe Dich.“ flüsterte ich, unwissend, ob sie es gehört hatte. Dann versank ich in einer Bewusstlosigkeit.
Ich blieb nicht lange im Krankenhaus. Zwei Tage. Ich hatte drei Zähne verloren, zwei angebrochene Rippen und ein gebrochenes Handgelenk. Jedoch tat dies alles nicht so weh, wie mein gebrochenes Herz. Das klingt furchtbar kitschig. Doch es ist die Wahrheit. Herzen können wirklich brechen. Und das meine war es durch ihren verachtenden Blick, bevor sie wieder zu ihm gelaufen war.
Ich trug eine Schiene um den Arm und hatte deshalb Probleme meine Tür aufzuschließen.
„Kann ich dir helfen?“
Ich drehte mich um und sah in ihre Augen, die zu strahlen schienen.
Ich gab ihr den Schlüssel und sie schloss auf.
„Danke.“ murmelte ich.
Ich erwartete, dass sie ging, doch folgte sie mir in den dunklen Hausflur.
Sie trat von einem Bein aufs andere, bis ich ihr meinen Blick schenkte.
„Was ist los?“
„Das...Was du gemacht hast also das...War sehr mutig.“ Sie lächelte, doch ich zuckte nur die Schultern.
„Völlig idiotisch wäre wohl passender.“
Sie hörte auf zu lächeln und sah mich an.
„Ich habe gehört was du gesagt hast.“
„Was habe ich denn gesagt? Das dein Freund ein mieser verlogener...“
Wieder konnte ich die Worte nicht zu Ende sprechen, denn sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt und mich auf den Mund geküsst.
Völlig perplex hatte ich nicht einmal Zeit den Kuss zu erwidern. Sie hatte sich schnell wieder von mir gelöst.
„Entschuldige ich...“
Doch auch sie sollte ihren Satz nicht vollenden, denn ich nahm ihr Gesicht in meine Hände und berührte mit meinen Lippen die ihren. Sie seufzte und öffnete ihren Mund, sie erwiderte den Kuss. Meine Hände strichen durch ihr Haar, das weich war, wie Federn. Sie strichen ihren Rücken hinab, über die Wunden und ich wünschte mir sie wegzuwischen. Ihre Tränen waren salzig, ich schmeckte sie in meinem Mund, küsste sie fort mit meinen Lippen.
„Ich liebe dich.“ ich flüsterte die Worte, die ich ihr solange sagen wollte.
„Ich weiß.“ Und obwohl sie meine Liebe nicht erwiderte war sie jetzt hier. Knöpfte mein Hemd auf und fuhr mit ihren Fingern über meine Brust. Ließ mich ihren Körper erkunden und folgte mir zu meinem Bett.
Obwohl sie mich nicht liebte blieb sie die ganze Nacht und liebte mich mit ihrem Körper, zeigte mir einen Teil ihrer Seele.
„Vergibst du mir?“ flüsterte sie irgendwann nachts, als sie in meinen Armen lag, nackt, und mein Körper den ihren wärmte.
„Was sollte ich dir vergeben?“ fragte ich sie und küsste ihr Haar.
„Das ich nie gesehen habe wie schön du bist. Das ich dir so viele Schmerzen bereitet habe und es immer wieder tun werde. Und das ich nicht erkannt habe, wer du bist. In einem anderen Leben vielleicht...“
Sie ließ den Satz unvollendet.
„Ich brauche dir das nicht zu vergeben. Alle Schmerzen, die ich je wegen dir hatte, sind durch diese Nacht ausgelöscht worden. Du bist so wunderschön. Siehst du es jetzt?“
Sie nickte auf meiner Brust und ich spürte ihre feuchten warmen Tränen.
„Es tut mir so leid.“
Ich verschloss ihre Lippen mit einem Kuss und genoss die letzten und zugleich ersten Stunden, die ich mit ihr hatte.
„Danke“ flüsterte sie mit roten Wangen, am nächsten Morgen, als ich ihr einen Kaffee reichte.
„Danke für alles.“
Ich nickte nur. Und sie drehte sich um und rannte aus dem Haus.
Ich musste noch nicht wieder in die Schule, was mir ganz recht war. Ich hatte nicht das Verlangen ihn wiederzusehen. Trotzdem fragte ich mich, ob meine Worte, ob unsere Nacht irgendetwas verändert hatten. Die Antwort bekam ich in der folgenden Nacht.
Ich hörte ihn wütend schimpfen, noch lauter als zuvor. Ich hörte sie schreien und ich glaubte ihn zu hören, wie er gewaltvoll in sie eindrang. Ich hörte den Schlag, als sie zu Boden fiel. Ich sah, wie er sie an den Gardinen vorbei in Richtung Balkon schleifte. Ich roch den Alkohol bis zu mir herüber, oder ich bildete es mir ein.
„Weißt du eigentlich wie sehr ich dich liebe?!“ er brüllte es in die Dunkelheit und schlug sie.
„Ich hätte alles für dich getan und was machst du, kleine Schlampe?! Du betrügst mich! Wenn ich deine Seele nicht bekomme, warum bekommt er sie dann, hm ?! Antworte, Drecksstück!“
Ich hörte sie wimmern.
„Jetzt winselt sie um Gnade, die kleine Hure! Aber es wird ihr nichts nützen und das weiß sie, nicht wahr, das weißt du!“ Er lachte irre und ich war mir sicher, dass sich in seinem Blut weit mehr als nur Alkohol befand.
„Ich bin gespannt wie der kleine Wichser dich nehmen will, wenn ich erst mal mit dir fertig bin. Ja ich weiß, dass du da stehst du Spanner! Sieh gut hin!“
Ich wusste, dass er mich nicht gesehen haben konnte. Doch er wusste, dass ich hier stand. Und ich sah wirklich alles.
Ich sah, wie er seine Hose herunterriss und wie er sie über das Balkongeländer legte, wie einer seiner Finger gewaltsam in sie eindrang und sie schrie.
„Na das gefällt dir wohl, hm?! Da hab ich noch mehr von!“
Er ließ sie los, um mit seinen Händen nach „mehr“ zu greifen.
In dem Moment fiel sie.
Sie sah aus wie ein Engel als sie fiel, das weiße Nachthemd wie zwei Flügel. Sie fiel rücklings vom Geländer des Balkons.
Ich hörte mich schreien. Ich hörte ihn schreien. Ich sah mich die Treppe hinab rennen. Ich hörte, wie sie auf den Boden aufschlug, wo sie sich nicht mehr bewegte. Ich spürte die schwere Pistole in meiner Hand. Ich sah das Blut, das sich auf seiner Brust ausbreitete, wie eine rote Blume, sah die rauchende Pistole und hörte den dumpfen Aufprall, als er zu Boden sank, wo ich ihn keines Blickes würdigte.
Ich sah, wie langsam die Farbe aus ihren Augen und Wangen wich.
„Ich Idiot. Ich Idiot!“ Ich schrie, weinte, schlug mich, streichelte sie.
„Komm zurück. Komm zurück zu mir, oder zu ihm oder KOMM EINFACH ZURÜCK!“ Ich schrie und weinte, es war, als würde mein Herz zerreißen vor Trauer. Ihre Knochen standen in unnatürlichen Winkeln aus ihrer Haut, überall war Blut. Ich brach weinend auf ihrer Brust zusammen, streichelte sie und schluchzte.
Sie flüsterte meinen Namen und es erschien mir wie ein Traum.
„Du..Du lebst?“ Ich strahlte sie an, doch mein Strahlen erlosch, als ich sah, dass ihr beim Sprechen Blut aus dem Mundwinkel lief. Sie versuchte den Kopf anzuheben ich drückte sie sanft zu Boden.
„Pssst.“
„Ist er...“ Ich nickte nur kurz und deutete mit dem Kopf auf die Pistole.
Sie lächelte schwach.
„Ich habe es nie geschafft. Was uns befreit muss stärker sein, als wir es sind. Du bist stark. So stark. Du schaffst es ohne mich. Wenn ich fort bin...“
„Sag das nicht.“ Ich nahm ihre Hand und versuchte ihr alle Wärme zu geben, die ich hatte.
Sie lächelte schwach.
„Lüg nicht. Schau mich an. Ich spüre die Knochen, die meine Lungen durchbohrt haben. Ich bin nicht mehr lange hier. Und doch bin ich glücklich. Weißt du warum ich glücklich bin? Weil du bei mir bist. Ich liebe Dich.“
Sie lächelte noch einmal, dann hustete sie und aus ihrem Mund schoss ein Schwall Blut.
„Halte durch.“ Ich flüsterte die Worte, während ich versuchte irgendwie das Blut zu stillen.
Sie schüttelte schwach den Kopf.
Dann beugte sie sich ein Stück zu mir, so dass sie meine Lippen erreichen konnte.
„Nimm mir den Atem, wenn du mich küsst...“ sie flüsterte und dann küsste ich sie, bis die Wärme aus ihren Lippen wich und ihre Augen trüb wurden.
„Nein.“ Die Tränen rannen mir über die Wangen und ich konnte sie nicht loslassen.
Der Krankenwagen kam und mit ihm die Polizei. Ich wurde gewaltsam von ihr getrennt und schmeckte noch ihr Blut in meinem Mund.
„Ich liebe dich.“ flüsterte ich, als man sie in einen großen schwarzen Wagen schob, neben ihrem Freund, den sie geliebt hatte.
Mich führte man in Ketten ab.

Auf den Prozess wartend sitze ich auf dem Friedhof vor ihrem Grab. Ich genieße die letzte Freiheit, die mir bleibt. Ich habe einen Menschen getötet. Ich werde lebenslänglich bekommen. Mein Anwalt wird versuchen eine Strafmilderung zu erreichen, doch ich weiß, wie sinnlos das alles ist. Hinter mir steht ein Polizist, der auf mich aufpassen soll. Was sollte ich an ihrem Grab denn tun? Wohin sollte ich denn fliehen ohne sie?
Ihre Namen stehen übereinander. Sie wurden miteinander begraben. Eine einzelne Träne rinnt aus meinem Augenwinkel und ich verscheuche sie mit der Hand.
Noch immer hat er das, was ich nie haben werde. Und wieder bin ich allein. Ob sie mich je wirklich geliebt hat werde ich niemals erfahren.
Doch ich habe nun viel Zeit darüber nachzudenken.
Ich lege eine weiße Feder auf ihr Grab, wie die Flügelfeder eines Engels.
Denn ein Engel ist sie immer gewesen.
Und ich werde sie in meinem Herzen bewahren, all die Jahre, die ich nun die Sonne nicht mehr sehen darf. Und irgendwann werde ich zu ihr zurückkehren. Um sie nie wieder zu verlieren. Ich werde in ihre Arme zurückkehren und wir werden irgendwann zusammen sein. Nur sie und ich.
Engelsgleich.
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