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Sonstiges und Experimentelles Andersartige, experimentelle Texte und sonstige Querschläger.

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Alt 23.02.2006, 18:57   #1
TobiL.
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280

Standard Wie jedes Mal

Langsam öffnet sie die Augen. Nur ein kleiner Strahl des Lichtes aus dem Flur sucht sich seinen Weg in ihr Zimmer. Sie riecht kalten Rauch.
Jetzt weiß sie es. „Oh nein, bitte nicht!“ flüstert sie leise in ihr Kopfkissen. „Bitte alles, nur das nicht!“ Ihr läuft der Schweiß in Perlen über das Gesicht und brennt in den Augen. Sie versucht den Zigarettenqualm zu ignorieren, doch zu viele Erlebnisse haften an diesem Geruch. Zitternd nimmt sie ihr Lieblingskuscheltier, Äffi, ein kleiner, brauner Affe mit langen Armen und Beinen unter ihre Decke und presst ihn an sich. Ihr einziger Schutz, ihr einziger Halt, ihre einzige Zuflucht. Ein Stofftier.
Sie hört das Quietschen ihrer Zimmertüre. Sie riecht den Rauch intensiver. Sie riecht den Alkohol. Sie spürt die Anwesenheit. Sie spürt die Angst in sich hoch steigen.
Und schon ist es so weit. Die Sicherheit, der Schutz, Alles. Ist weg.
Die Bettdecke wird nach hinten gezogen. Sie merkt, wie sie eine Gänsehaut bekommt. Nicht von der Kälte, die sie nicht spüren kann, sondern von Gewissheit.
Es ist wie jedes Mal. Sie presst sich an die Wand. Sie weiß nicht warum, wohl, weil sie sich dort sicherer fühlt. Doch eine raue, grobe Hand nimmt sie, wie jedes Mal, am Arm und zieht sie in die Mitte. „Es wird dir auch gefallen. Ich merke, wie es dir jedes Mal besser gefällt. Du wehrst dich ja fast nicht mehr.“ Raunt es in ihr Ohr. Der Atem stinkt nach Alkohol und Rauch, während er ihr Nachthemdchen auszieht. Sie stirbt. Wieder einmal. Wie jedes mal.

Ja, sie wehrt sich nicht mehr. Aus Angst…?Aus Resignation…? Aus Hilflosigkeit…?

Ein Lamm auf dem Opfertisch. Ein einsames Mädchen, vergessen und verloren. Sie liegt nun nackt vor ihm auf dem Bett. Das Gesicht nach unten. Er will nicht, dass sie ihn anschaut, sie ist froh darüber. Sie spürt, wie er zärtlich ihre langen, blonden Haare aus dem Nacken streift und ihr gefühlvoll mit den schweren Fingern den Rücken hinunter streift. Die Gänsehaut und das Zittern steigern sich ins Unermessliche.
Sie hört das kalte Metall seines Gürtels, wie es aneinander reibt und sich löst. Sie zuckt kurz zusammen als die kühle Gürtelschnalle ihren zarten Po berührt. Nein, sie kann nichts empfinden, sie kann nichts fühlen, sie kann gar nichts. Sie denkt sich an einen Ort, wo Frieden ist, wo sie Liebe empfängt, wo sie eine Familie hat. Sie denkt sich einen Weihnachtsabend mit ihrer großen Familie. Der ausladende Tannenbaum leuchtet in allen Farben und bringt warmes Licht in die Welt. Ihre Eltern haben die Geschenke mit Liebe ausgesucht… Nein! Nein! Nein! Der Schmerz lässt ihren Körper beben. Jegliche Muskeln krampfen sich zu einem Knäuel zusammen. Sie ist nun nicht mehr in der Lage zu denken. Sie spürt nur noch das Gewicht auf ihr, in ihr. Schweiß und warmer Dunst umgibt sie. „Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft…“ schallt es aus den Kindermündern. Sie darf die Blockflöte spielen und ihre Brüder und Schwestern begleiten.
Dann ist er fertig. Schwer lässt er sich auf sie nieder. Der Atem und die Wärme seines Körpers erdrücken sie. Sie ist nicht in der Lage, sich zu rühren, sich zu wehren, sich zu befreien, jetzt da es erstmal vorbei ist. Er richtet sich auf und schließt seine Hose. „Siehst du. Das war doch schön. Das machst du schon ganz gut.“ Nein! Nein! Nein! Sie will nichts gut machen! Sie will nur schlafen… nur schlafen… Müdigkeit überall in ihrem Körper… und in ihrem Geist.
Er geht aus dem Zimmer, lässt die Tür offen, doch die Tür ihrer Seele weiter in die Ferne rücken.
Sie bewegt sich vorsichtig. Sie spürt warme Flüssigkeit zwischen ihren Beinen in das Laken fließen. Es ist ihr egal. Sie dreht sich um und erblickt ihre Mutter. Sie lehnt in der Tür. Tränen laufen ihr die Wangen herab und perlen vom Kinn. Ihre Augen blicken hoffnungslos und stumpf, als sie sich neben ihre Tochter auf den Opfertisch setzt.

„Du bist so stark, mein Liebling.“ Sagt ihre Mutter und möchte sie streicheln.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.02.2006, 21:08   #2
Janina
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 9

ich würde sehr gerne etwas dazu fragen...
doch vielleicht später, wenn ich das etwas auf die reihe bekommen habe

beim lesen schon habe ich diese geschichte gesehen, anders... und doch gleich... lauter und doch tonlos... schlafend und doch noch immer nicht schlafen könnent nur abdriften abdriften in eine Zeit vor meinem leben.

Janina... eine von vielen von vielen in einer
Janina ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.02.2006, 21:18   #3
TobiL.
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280

Danke, dass du deine Gefühle weitergegeben hast, die du beim Lesen empfunden hast.

Du kannst bei Fragen entweder posten, oder mir eine Nachricht schreiben. (unten rechts)

Liebe Grüße, Tobi.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.02.2006, 23:29   #4
Idat
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 21

Bemerkenswert, wie mit einer einfachen und geordneten Sprache ein Bild von solcher Groteske erzeugt werden kann. Besonders hervorzuheben sind die disparaten Verhältnisse zwischen Geschehen und Traum, sowie die latenten Andeutungen zur Handlung hin, welche einen leichten Schauder erzeugen. Kompliment..
Idat ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.02.2006, 23:41   #5
TobiL.
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280

Ich dedanke mich bei dir, Idat. Genau so wollte ich es.

Übrigens, ich sehe gerade, dass du neu hier bist... Du kannst im Off-Topic Thread dich vorstellen und mal "hallo" sagen Dann bist du uns ein Begriff. Also, Herzlich Willkommen.

LG, Tobi.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 24.02.2006, 00:55   #6
U-hEXe
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 353

Standard RE: Wie jedes Mal

triggert!...Du sagst es! kommt heftig rüber!
U-hEXe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.03.2006, 00:42   #7
witness
 
Dabei seit: 12/2004
Beiträge: 81

Ich finde es echt bemerkenswert wie man sich in eine Situartion rein versetzten kann, ich kann es immer noch nicht, zumindestens nicht in einer in der ich nie war.

P.S Danke du hast mir geholfen zu verarbeiten.
witness ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.03.2006, 10:20   #8
Yve
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 756

Ich muss dir auch ein Kompliment machen. Die Geschichte hat mich sehr erschüttert, vor allen Dingen, weil du dich einfacher und recht trockener Worte bedienst und trotzdem damit solche Gefühle erzeugst. Obwohl ich nie in einer solchen Situation war, kann ich es wirklich gut nachfühlen, soweit das eben möglich ist. Wirklich gut gemacht.
Yve
Yve ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.03.2006, 10:36   #9
Ex Mondsüchtig
abgemeldet
 
Dabei seit: 10/2005
Beiträge: 265

ich möchte treten, in die fresse hauen, den schwanz abschneiden, die mutter schütteln, ihr ins gesicht schlagen...schön kann man deine geschichte nicht nennen...schön kann das nicht sein...es ist brutal, ekelhaft und widerlich. zum kotzen...zum schreien...ich glaube du hast genau den richtigen nerv getroffen...und man ist so hilflos...
Ex Mondsüchtig ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.03.2006, 11:20   #10
TobiL.
abgemeldet
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 280

Hey ihr drei.

Danke, dass ihr meine Geschichte gelesen habt. Ich habe zwar so etwas nie erlebt, wofür ich sehr dankbar bin, trotzdem konnte ihr mir die situation vorstellen und mich in dieses Mädchen hinein versetzten.
Ich finde auch, dass durch eine "simple" Sprache manchmal mehr erzielt werden kann, als durch einen verschnörkelten, mit Metaphern vollgepackten Text.

Danke, dass ihr ihn gut findet. Und mich freut es natürlich, wenn er bei der Aufarbeitung von Erlebnissen und Gefühlen helfen kann.

Lieben Gruß, Tobi.
TobiL. ist offline   Mit Zitat antworten
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