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Alt 30.10.2006, 17:58   #1
FatLouie
 
Dabei seit: 08/2006
Beiträge: 61


Standard Ein Lebensende

„Tschüss, hab noch einen schönen Abend, wir sehen uns dann morgen.“ Er legte auf und ich starrte traurig auf den Telefonhörer.
Das waren seine letzten Worte, und wie ich hoffte, die allerletzten, denn in diesem Moment fasste ich einen Entschluss, der alles endlich ändern sollte. Heute Nacht, ja, heute Nacht wollte ich es tun, um dem ganzen ein Ende zu setzen.
Während ich die Straßenpläne nach hohen Brücken in der Umgebung durchsuchte, spürte ich dieses Gefühl der Endgültigkeit. Ich schaute auf meine Hände und vor meinem inneren Auge tauchte das Bild von weißen, eiskalten Händen auf, die leblos auf dem grauen Asphalt einer Straße lagen. Ich schauderte und vertrieb den Gedanken sofort wieder. Es ist besser so, dachte ich, und auf einmal fiel alle Unruhe, Verwirrung und Verzweiflung, die mich die letzten Monate nicht losgelassen hatte, von mir ab; und diese neue Klarheit bekräftigte meine Entscheidung.
Mit einem Anflug von Wehmut betrachtete ich meine Kleider, als ich mir warme Sachen für den kurzen Fußweg aus dem Schrank holte. Ich würde sie nie mehr tragen. Ich drehte mich um und betrachtete mein Zimmer. Was würde mit den Sachen geschehen? Würden meine Eltern sie unberührt lassen, oder vernichten? Vielleicht auch spenden, weil sie wüssten, dass dies mein Wille wäre? Da fragte ich mich, ob ich auch einen Abschiedsbrief schreiben sollte. Ich setzte mich an den Schreibtisch und begann zu schreiben. Strich wieder durch. Begann von vorne. Zerknüllte mehrere Briefbögen, bis ich aufgab; denn keine Worte der Welt könnten meinen Entschluss erklären, und schon gar nicht rechtfertigen.
Ich schlüpfte in meine Stiefel. An der Tür drehte ich mich noch einmal um, blickte auf mein Zimmer, das zu schreien schien: Geh nicht! Es könnte alles so schön sein! Doch ich hörte nicht auf sein stummes Flehen. Ich ignorierte auch den Anflug von Schuldgefühlen, als mein Blick am Telefon hängen blieb: Meine Freunde saßen jetzt zu Hause und ahnten nichts.
Ich schloss die Türe hinter mir und schlich aus dem Haus. Mein Vater schnarchte laut, als ich am Schlafzimmer meiner Eltern vorbeikam. Tschüss, dachte ich, ohne Mitleid.
Festen Schrittes führte mich mein Weg zur nahegelegenen Brücke über einem Fluss. Die Nacht war kalt, und jeder eisige Windhauch erinnerte mich knallhart daran, dass ich lebte.
Auf der Brücke angekommen begann ich zu weinen. Ich hatte Angst, das wurde mir in dem Moment klar. Angst davor, was danach kommen würde. Kamen Selbstmörder in die Hölle? War danach einfach Schluss, Leere, Nicht-Dasein, oder – schlimmer: Was, wenn ich auf unerklärliche Weise schwer verletzt überlebte?
Ich klammerte mich verzweifelt an das Brückengeländer. In meinem Kopf schrien tausend Stimmen: „Tu es! Befreie dich! Willst du etwa feige zurückgehen und deinen Kampf gegen dich selbst weiterführen? Willst du weiter leiden? Spring!“ auf der einen Seite, und: „Denk auch an deine Familie, deine Freunde! Du zerstörst nicht nur dein Leben, sondern auch ihres. Das kannst du ihnen nicht antun! Vernichte nicht mit einem Schlag das, was dir geschenkt wurde!“ auf der anderen. Die Stimmen schwollen an, zu einem gewaltigen Kanon, der sich wiederholte, verstärkte, unerträglich wurde – bis in einem schrecklichen Schrei der Befehl „Spring!“ aus der Masse der Gedanken hervorbrach.
Sie war sofort tot.
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