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Alt 11.04.2016, 00:51   #1
männlich MTH
 
Dabei seit: 04/2016
Beiträge: 6


Standard Eigenartiges Erlebnis

Eigenartiges Erlebnis. Ich saß in der U-Bahn, irgendwo zwischen Stephansplatz und Hauptbahnhof, auf dem Rückweg vom Auftakt einer dem aktuellen Zeitgeschehen geschuldeten Vortragsreihe an der Universität; vor mir, auf dem Schoß, das erste Kapitel aufgeschlagen, Heinrich Böll – Billard um halb zehn. Leonore, die Sekretärin eines der Protagonisten, hat einem Besucher im Büro wider Anweisung verraten, wo ihr Chef sich gerade aufhalte, worauf dieser, von der Suchaktion offenbar behelligt, via Telefon seiner Verärgerung Ausdruck verleiht, was sie indessen erst erleichtert – erlebt sie doch auf diese Weise die erste wirklich menschliche Regung seinerseits –, später, womöglich Verdrängtes hervorholend, nachdenklich werden lässt. Nur die ersten Seiten gelesen, das erste Werk dieses Autors überhaupt für mich, bereitete mir die Sprache, verwoben mit dem Inhalt zu einem Geflecht wahrhaftigen Stils, Wohlgefühl; bei Literatur, die der neueren Zeit angehört, eine für mich selten vorkommende Wirkkraft. Schrulligkeit? In rationalisierter Form: meine grundsätzliche Skepsis gegenüber Veröffentlichungen welchen Mediums auch immer in Zeiten unkünstlerischer Massenmanipulationen? Oder sonst so häufig: einfach nicht erfüllte Erwartungen? Auf jeden Fall doch hier: freudiges Ereignis!

Ich las also von einem Gedankenkaskaden auslösenden Erlebnis, als mir ein ganz anderes und innerhalb weniger Wochen wiederholt zuteilwerden sollte. Damals: Feierabend. Ich hatte gerade einige Lebensmittel im meiner Arbeitsstätte nahegelegenen Supermarkt eingekauft.

Wie auch immer. Ich sah im Moment des Anfahrens an einer Haltestelle vom Buch auf, da wurde meine Aufmerksamkeit in Richtung einer sich nähernden Person gezogen, und ich dachte – unmittelbar davor, die Zunge zu lösen: Welch Zufall, das ist doch… Weiblich-schlanke Erscheinung, nicht größer als einen Meter siebzig; die dichten, braunen Haare hinten locker zum Zopf gebunden, so dass das Spiel ihrer Wellen oben auf dem Kopf sich noch entfalten kann; das ebenmäßige, weil volle Gesicht von bronzefarbenem Teint mit Wangenknochen, die erst beim Lachen in lustig-anmutiger Formung sichtbar werden, ist allenfalls dezent, nur akzentuierend geschminkt; die Bekleidung, Garderobe für den Alltag, wirkt dennoch elegant mit einer hellbraunen Lederjacke, darunter ein beigefarbener Pullover, an den Beinen eine Hose enganliegenden Stoffs in Jeans-Look, Stiefelletten mit leichtem Absatz, diese cognacfarben; im vorhandenen, aber nicht tiefen Ausschnitt eine breite goldfarbene Modeschmuckkette. Ich, im ersten Moment gebannt von dem Nichtwissen, ob S. an so ungewohnter Stelle tatsächlich oder einer ihr zwillingsähnlichen Person begegnet, nehme jetzt das in etwa zehn Jahre höhere Alter wahr. Vielleicht Anfang dreißig. Dies jedoch allein, um kraft des Lichtes der so vertraut-bekannten Rehaugen weiterhin magisch festgehalten zu werden. Skurril! Erst einmal wegschauen, nicht als vermeintlicher Freak wahrgenommen werden… Blick ins Buch. Das Gelesene ergibt keinen zusammenhängenden Sinn, Buchstabenreihen, die tanzen – im Takt zu Bonamassas „Drive“: Let's drive into the night, into the light… Widersprüchlichkeit auch hier. Ich schaue nach rechts auf, sehe zunächst vorbeieilendes Schwarz des Tunnels, dann, die Augen auf weiter vorn sich Abspielendes einstellend, Finger mit Nägeln von schwarzer, nicht mehr ganz frischer Lackierung, in eifriger Tätigkeit auf dem Handy herumwirbeln. Das gibt mir Gelegenheit, Kopf und Blick nach links zu schwenken. S. war da und doch nicht da.

Vor einigen Wochen die Begegnung beim Einkauf, dort passierte beim Verlassen des Marktes jemand meine Wegstrecke. Zunächst in ganz demselben Maße der Glaube bei mir, es handele sich um jemand bestimmtes, in jenem Fall den Lebensgefährten einer lieben Freundin – bis ich einer fremden, wahrscheinlich gegenüber der im ersten Moment angenommenen um Jahre älteren Person gewahr wurde. Doch machten mich Augen und Blick, ungeachtet aller sonstigen Differenzen, sicher, dass aus Erzählung und Sprache ein identisches Kern-Ich oder Selbst sich verlautbaren würde. Zwar seltenes und doch in der Vergangenheit schon des Öfteren erlebtes Vorkommnis im Rätsel Leben, das mir eine Spielart von Ähnlichkeit offenbart, die weit mehr ist als bloße Typen-Ähnlichkeit. Ohne Zweifel würden Jahre, die sich fortschreibende Geschichte aus Erfahrungen und Erlebnissen bei der Komplementär-Manifestation in der Physiognomie anders sich einprägen, so dass jeweils beide, gleichen Alters einander gegenübergestellt, mit Sicherheit unterschiedlich auch dann aussähen.

Soll ich meinem mich ebenso verwirrenden wie tief berührenden Erstaunen Ausdruck verleihen, die Frau links gegenüber ansprechen? Kann ich dem sich mir darstellendem Kuriosum angemessen Worte verleihen? Oder würde dies als wenig kreative Anmache abgetan? Egal. Ich entschied mich dagegen.

Die Frage bleibt: Gibt es das, ist es möglich, dass ein und dieselbe Seele zeitgleich zwei Körper bewohnt?
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Alt 12.04.2016, 09:56   #2
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998


Standard Hallo, MTH -

ansprechender Duktus, da kommt keine Langeweile auf.
Der Verfasser scheint über einen geschärften Blick zu verfügen.
Die gestraffte Darstellung enthält zu meinem Ärger das unsägliche "in etwa", ansonsten habe ich nichts zu mäkeln.
Eine Zwei-in-Eins-Geschichte, der ich gerne nachgesonnen habe.

E i n e Seele in zwei Körpern? Quin sabe?


Freundlichen Gruß
von
Thing
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