Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 09.01.2013, 08:52   #1
weiblich MuschelIch
 
Benutzerbild von MuschelIch
 
Dabei seit: 09/2012
Alter: 63
Beiträge: 309


Standard MAAT - Die Waage

MAAT - Die Waage

Eines Tages hatten sie beschlossen, die Klugheit zu messen. Nicht alle Einwohner des Landes, neinnein, auch nicht die Tiere und die Pflanzen. Die Mineralien und Steine waren es schon gleich gar nicht gewesen.
Wie immer, wenn etwas von besonderer Tragweite beschlossen worden war, war es ein menschliches Wesen gewesen. Wobei die besondere Tragweite nur auf das Ausmaß des Tuns hinweisen soll, nicht unbedingt auf seine Güte.
Der Mensch, der diesen weitreichenden Entschluß getroffen hatte war, wie oft, die Präsidentin gewesen.

Sie war mit der Leitung dieses Landes nun schon seit mehreren Jahrzehnten betraut. Und es war immer wieder eine große Herausforderung für sie diese vielfältigen Aufgaben zufriedenstellend zu lösen.

So gab es denn auch etliche, die mit ihrem Führungsstil durchaus nicht einverstanden waren und es kamen öfter Beschwerdebriefe beim Palast an.

Es wären noch viel mehr Beschwerdebriefe beim Palast angekommen, hätten nicht die Tiere, die Steine und die Pflanzen alles was in ihrer Macht stand, getan, um die teilweise verfehlte Politik dieser Präsidentin auszubügeln.

Die Bewohner dieser anderen Reiche taten dies aus Liebe und Erbarmen mit dem Menschenreich, über das sie nur den ganzen Tag den Kopf hätten schütteln können. Dazu waren sie allerdings zu kopflos - sprich: Sie lebten in erster Linie aus dem Herzen.

Wie dem auch sei : Die Präsidentin hatte eines Tages beschlossen, die Klugheit zu messen.

Da die Klugheit im Wasser gespeichert war, wurde zu diesem Zweck das Wasser des ganzen Landes benötigt. Es sollte gemessen werden an der ältesten Waage des Landes, die als unbestechlich galt.

Diese Waage hatte schon seit Erdengedenken dort gestanden und ihren treuen Dienst versehen ; sie war zusammen mit der Erde geboren worden; die beiden waren also in gewisser Weise Schwestern.

Sie hatte schon alle möglichen und unmöglichen Dinge gewogen. Anfangs war sie eine zuversichtliche, eine goldglänzende - ja eine ehrgeizige - Waage gewesen; eine Waage, die an den Sinn ihres Tuns glaubte, eine Waage, die einfach jung war und dynamisch.

Was sie schon alle gewogen hatte?

Einmal mußte sie einen Apfel gegen Erkenntnis aufwiegen.

Ein anderes Mal waren in der einen Waagschale drei Goldene Haare und in der anderen ein Menschenleben.
Sehr oft hatte sie Schuld gegen Sühne aufgewogen.

Einmal wog sie Männer gegen Frauen auf: das war eine der witzigsten Wägereien, die sich je erlebt hatte. In beiden Waagschalen war ein Jauchzen und Kreischen, ein verschämtes und belustigtes Gekichere und sehr viel Lust unterwegs gewesen.
Die Waage hatte Mühe ihre Aufgabe ordnungsgemäß zu erfüllen; sie mußte schmunzeln und des öfteren wäre sie fast in lauthalses Lachen ausgebrochen, weil dieses Gewusel in ihren Waagschalen sie so kitzelte.
Männer und Frauen hatten schlußendlich gleichviel gewogen , was die Waage schon gewußt hatte, als diese unbekleidet vor ihr gestanden waren. Aber diese Präsidentin wollte unbedingt alles schwarz auf weiß und skaliert.

Einmal hatte sie Länder aufwiegen müssen gegen Ehre. Das war ziemlich schwierig zu bewerkstelligen gewesen, weil die Ehre einfach nicht sitzen bleiben wollte. Sie war so unwahrscheinlich leicht gekränkt: Sie empfand es einfach als Zumutung, sich in eine solch kalte metallene Waagschale setzen zu sollen - das ging ihr gegen die Ehre. Dann wiederum war es ihr zu zugig in den luftigen Höhen. Schließlich hatte sie sich doch gesetzt und so konnte in letzter Sekunde ein Krieg verhindert werden.

Die älteste und unbestechlichste Waage des Landes also war ganz in Träumereien von alten Zeiten versunken und hatte auch noch nicht einmal ihren Morgenkaffee gehabt, als sie einen Trommelwirbel nach dem anderen hörte. Mürrisch öffnete sie ihre Augen und schaute in die Landschaft hinaus. Oh Du meine Güte - was sie sah erinnerte sie an ein Großwiegeereignis, das einige hundert Jahre zurücklag. Die Ebene entlang kam ein Menschentrupp - angeführt von einem Reiter . Der Reiter saß auf einem Rappen, der in den Farben der Präsidentin geschmückt war - grün und weiß. Hinter dem Reiter marschierte der Trommler mit einer ebenso grün-weißen Trommel und nach diesem kam der Herold mit einer Schriftrolle. Es folgte noch ein wenig Fußvolk mit Stempeln und allerlei amtlichen Krimskrams.

Bei der Waage angekommen bemühte diese sich, ein ärgerliches Grummeln zu unterdrücken. Sie hatte sich noch rasch die angegrauten Haare ein wenig gekämmt, um wenigstens einigermaßen diesem Aufmarsch gerecht zu werden.

Als Erstes nachdem dieser Trupp bei ihr angelangt war, gab es einen Trommelwirbel, der sich fürchterlich großtuerisch anhörte. Die Waage hielt wenigstens die Augen offen und versuchte nicht genervt zu schauen.

"Im Namen ihrer Präsidentin der Grün-Weissen von Innerland kündigen wir an, daß es zu einer Großen Hochpräsidentialen Meß- und Wiegeaktion kommen wird" - Trommelwirbel - "Ab sofort wird für unbestimmte Zeit die Klugheit in Innerland gemessen werden. Zu diesem Zwecke werden alle verfügbaren Kräfte zusammen die Wässer des Landes ausschöpfen und zu Ihrer Hochpräsidentialen Waage bringen" - Trommelwirbel - "Sollte sich herausstellen, daß die Klugheit klüger ist als die Präsidentin dachte, werden an dieser Aktion auch noch Ambulante Waagen aus allen Teilen des Landes beteiligt werden".

Es folgten die üblichen Formalitäten. Die Waage hatte zu unterschreiben, daß sie den Vertrag annehme und Stillschweigen über die Inneren Erkenntnisse der Klugheit des Landes wahren würde, die sie im Rahmen der Wiegeaktion erfahren würde.

Dann zog der Trupp wieder ab. Nicht ohne einen letzten wichtigtuerischen Trommelwirbel.

Erleichtert schlürfte die Waage ihren Morgenkaffee zu Ende: Da kam Arbeit auf sie zu - viel Arbeit!

Sie haßte Arbeit, denn je älter sie wurde um so mehr genoß sie es einfach, sich die Sonne auf ihre bauchigen Waagschalen scheinen zu lassen und die verschiedenen Tiere zu beobachten, wie sie ihren Tagesgeschäften nachgingen.
Insbesondere an diesem Vertrag haßte sie die Zusammenarbeit mit den Ambulanten Waagen. Das waren kleine flatterhafte Dinger in ihrer Verwandtschaft, die sich hier und dort als Saisonarbeiterinnen verdingten und eigentlich vom Sinn und Zweck des Wiegens nur oberflächliche Ahnung hatten:
Immer wieder kam es vor, daß eine dieser vagabundierenden Waagen sich heimlich bereichern wollte und etwas vom Wiegegut für sich abzwackte. Die Grosse Waage wußte dies und es erleichterte nicht gerade ihre Arbeit den untergebenen Cousinen und Basen auf die Waagschalen zu schauen.

Die Waage neigte sich bedenklich auf eine Seite - die Seite des Hochmuts. Gerade noch rechtzeitig bevor sie kippte, konnte sie dies erkennen und sprach innerlich ihre Schwestern von der Zunft der Ambulanten wieder frei von Schuld und sich ebenso.

Während nun also in Innerland alles für diese große präsidentiale Erfassung der Klugheit vorbereitet wurde, lag in einem anderen Land ein Mensch im Krankenhaus.

Er war vor einiger Zeit dort eingeliefert worden - es ging ihm sehr schlecht. Die Ärzte hatten genaue Diagnosen erstellt und dennoch stunden sie weiterhin vor einem Rätsel und konnten die passende Medizin nicht finden.

Der Mensch dämmerte die meiste Zeit des Tages vor sich hin. Er war bleich und ausgemergelt und helles Sonnelicht vertrug er sehr schlecht.
Die Ärzte fingen allmählich an, ihn aufzugeben. Zu rätselhaft war seine Krankheit.

Eines Vormittags lag der Mensch gerade im Bett und träumte vor sich hin.

Am Fensterbrett wohnte eine Elfe. Sie war dort vergessen worden, als die Elfen fortgezogen waren - vor Äonen an Jahren.
Damals hatte sie noch schnell ihre Schuhe binden wollen, die sie sich für die langere Wanderung an die Ufer der Zeit herbeigeblinzelt hatte. Da es sehr schöne und sehr spezielle Schuhe waren, hatte dies Binden einige Zeit in Anspruch genommen. Als die Elfe wieder aufblickte, waren die anderen sang- und klanglos verschwunden.

Sie war zwar sofort hinterher geflogen in Richtung von dort, wo das Licht am Leichtesten flirrte. Das wies normalerweise auf den Aufenthalt von Elfen hin ; allein in diesem Falle hatte sie gefehlt. Ihre Brüder und Schwestern blieben verschwunden.

Es blieb ihr also nichts andres übrig, als sich in dieser Ecke der Zeit einzurichten. Als sie wieder einmal erwachte, war direkt neben ihrer Zeitnische ein Krankenhaus errichtet worden.

Die Elfe vertrieb sich die Zeit damit, die Patienten und Patientinnen zu besuchen. Je nach Tagesstimmung spielte sie ihnen einen Schabernack oder heiterte die Kranken irgendwie auf, indem sie mit der Spitze ihre Finger kleine Lichtreflexe erzeugte, die keiner sich erklären konnte.

An diesem Vormittage nun, als sie am Fenster des Menschen lag, der dort seit Wochen vor sich hindämmerte, feilte sie sich gerade ihre Fingernägel. Sie wollte nachher ein bißchen Lichtzauber machen und da mußten die Fingernägel immer kurz sein.

Die Sonne schien herein und plötzlich wurde sie von einer Lichtreflektion geblendet. Als sie aufschaute, sah sie eine Träne im Augenwinkel des Menschen schimmern. Just in dieser Träne spiegelte sich die hereinscheinende Sonne.

"Das ist es", sagte die Elfe und flog schnell zu dem Menschen. Sachte landete sie auf seinem Jochbein und hob behutsam die Träne in ihren kleinen Rucksack, der aus feinstem Spinnweb geschaffen war.

Die Träne schillerte durch den Rucksack hindurch und die Elfe flog eilends davon. Plötzlich war ihr auch klar, wo ihre Brüder und Schwestern geblieben waren. Denn nun zeigte sich im milchigvioletten Dezemberlicht eine Spur aus flirrendem Schneeflock, gemischt mit Sternenstaub.

Die Elfe flog mit beflügeltem Herzen immer in dieser Spur. Die Luft um sie herum wurde immer dünner, wurde geradezu elfisch und leicht und erhebend.

Bis sie sich langsam wieder verdichtete. Ah - hier war es also - sagte ihr Inneres Wissen. Hier wurde sie gebraucht.

Sie setzte zur Landung an, flog durch die dicker werdenden Luftschichten hindurch und als sich die Schleier lüfteten, sah sie dort unten einen riesigen Menschenauflauf.

Menschen jeglichen Alters und jeglicher Statur, Männer, Frauen und Kinder, Greise und ganz junge Menschen.

Alle standen sie in einer schier endlosen Schlange vor einer mächtigen alten Waage an. Die Waage machte ein gelassenes Gesicht - jedoch die Elfe konnte sie sofort durchschauen und sah wie erschöpft die Waage war und daß sie nur mit Mühe ihre Gesichtszüge beherrschen konnte.

Die Menschen trugen alle ein Behältnis mit sich. Die Elfe sah Krüge, Eimer, Tonschalen - ja manche Männer hatten gar ganze Fässer dabei. Und in den Behältern befand sich Wasser - alles Wasser dieses Landes war ausgeschöpft worden, um sich hier in tagelanger Arbeit in die eine Waagschale der Alten Waage zu ergießen.

Die Elfe zwinkerte der Alten Waage kurz zu und sendete ihr einen Blinkestrahl direkt in ihr linkes Auge. Die Waage dachte, sie müsse niesen - blickte auf und sah ein Wesen, das sie an irgendetwas erinnerte - vor langer langer Zeit. Der kurze Trost machte ihr diese Hochpräsidentiale Wiegeaktion leichter und sie setzte wieder ihr Gelassenes Gesicht auf.

Nach einigen Tagen war die Wiegeaktion endlich beendet. Alle Klugheit von Innerland war in der einen Waagschale versammelt.

Der grün-weiße Präsidentinnentroß, den wir ja schon aus dem Anfang der Geschichte kennen, tauchte wieder auf und verkündete die Ergebnisse mit lautem Trommelwirbel.

Wirklich interessieren mochte sich für dieses Ergebnis eigentlich niemand. Es gab zwar eine große Feier mit Pomp und Brimborium und alle begaben sich dorthin und machten artig Smalltalk. Jedoch waren alle - vor allem die Grosse Waage - bis in die Knochen erschöpft und froh, daß dies nun endlich vorbei war.

Als das Ergebnis verkündet worden war, fühlte die kleine Elfe wieder diesen Sog, den sie ja schon kannte. Sie wurde gezogen und zwar direkt zu der zweiten Waagschale hin, die leer war und ziemlich weit oben in luftigen Gefielden.

Schnell öffnete die Elfe ihren Rucksack und holte die Träne des Menschen heraus. Sie legte sie behutsam in die leere Waagschale, nicht ohne sie zum Abschied sachte zu küssen.

Was nun geschah, hatte keiner erwartet. Selbst die Elfe nicht:

Mit einem lauten Knarren bewegten sich die arthritischen Gelenke der Alten Waage. Die obere Waagschale senkte sich allmählich nach unten und nach einigem Hin- und Herpendeln kamen beide Waagschalen genau auf gleicher Höhe zu stehen.

Die Menschen sprachen von einem Wunder.

In dem Krankenhaus aus dem die Elfe gekommen war, erwachte genau in diesem Moment der Mensch aus seinem Dämmerschlaf, rieb sich die Augen und verlangte - das erste Mal seit Wochen - nach einer Tasse Tee. Einige Tage später konnte er nach Hause gehen.
MuschelIch ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.01.2013, 09:32   #2
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
Alter: 67
Beiträge: 3.073


Hi, MuschelIch,

nur ganz kurz, ich muss gleich weg.

Ganz zauberhaft, deine Parabel, besonders der "leichte, augenzwinkernde" Stil.,
Schöne Morgenüberraschung. Wer hat da wohl die Feder geführt?
Danke,
schönen Tag, simba
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.01.2013, 09:35   #3
weiblich MuschelIch
 
Benutzerbild von MuschelIch
 
Dabei seit: 09/2012
Alter: 63
Beiträge: 309


Herzlichen Dank Frau simbaladung.

Ich mag die Geschichte auch sehr
und freue mich, daß sie Dir gefällt.

Die Federführung oblag tatsächlich einer "höheren" Macht als mir -
die Geschichte purzelte eines Morgens aus einer durchgeträumten Nacht
direkt in meinen Kopf -
ich mußte nur mitschreiben

Liebe Grüße

Muschel&Ich
MuschelIch ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für MAAT - Die Waage




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.