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Alt 04.01.2024, 15:06   #1
männlich Pe-Be
 
Dabei seit: 12/2023
Beiträge: 31

Standard Unterwegs

Loblied auf Henry

Von einem felsigen Hügel blickte man auf einen langen, weißen Strand mit ein paar verwais-ten Bretterbuden und von Winterstürmen zerzausten Schirmen aus Palmwedeln. Mehr grau als blau rollte und schäumte der Atlantik vor leeren Rängen. Die Touristen, für welche die Ferienkulisse aufgestellt worden war, kümmerten sich gerade irgendwo im dunklen Norden um ihre Weihnachtseinkäufe. Suchte man den Horizont ab, fiel der Blick auf die bläuliche Silhouette der afrikanischen Küste, davor die Umrisse von Schiffen, darunter, kaum wahrzu-nehmen, viele in Tarnfarben gehüllte Kriegsschiffe.
Südlicher Winterwind raschelte in Eukalyptusbäumen. In ihrem Schatten standen einige Kleinlaster, mehr oder minder geeignet, darin zu campieren, sowie ein paar Zelte. Die Be-wohner, dieser nomadischen Behausungen waren keine Touristen.
Touristen kaufen einen kurzen, von ‚Veranstaltern’ weitgehend vorbestimmten Aufenthalt im Schlaraffenland.
Sie waren auch keine Reisenden.
Reisende bewegen sich mit bestimmten Zielen und Absichten.
Die Menschen auf dem Hügel waren unterwegs.
Unterwegs zu sein entzieht sich vergleichbarer Eindeutigkeit.
Menschen die unterwegs sind, bleiben beieinander oder an einem Ort, weil sie Zeit und Lust dazu haben, und wenn sie nicht bleiben wollen, dann gehen sie weiter.
Unterwegs zu sein heißt auch: nur das Nötigste zu planen und auf den Rest gespannt zu sein.
Sich auf diese Weise auf sein Leben einzulassen, setzt eine Haltung voraus, die grundsätzlich Unerwartetes höher schätzt als Absehbares.

Unterwegs zu sein schien dennoch als Therapie für die zerrissenen Seelen junger Amerikaner zu taugen, denen ihre Ängste oder ihre Gewissen keine Ruhe ließen. Die Strategen der US-Army hatten auf einen leichten Sieg gesetzt. Aber sie hatten sich verrechnet und zigtausende junger Männer in einen verheerenden Krieg nach Vietnam geschickt. Es schien, als liefen die Wege äußerlich unversehrter, teils milchbärtiger ‚Veteranen’ hier, am Südzipfel Europas zusammen.
Zum Beispiel hatte Jeffrey zwei einsame Jahre im Turm einer verfallenen Festung bei Tetuan verbracht. Er kleidete sich mit einer marokkanischen Djelaba, lief barfuß und hatte sein Gesicht hinter Bart und Haaren verborgen. Irgendetwas hatte er in der Einsamkeit des Rif-Gebirges herausgefunden, das ihm erlaubte, seine Ansichten zum Weltganzen mit einer einfachen Botschaft unangreifbar zu machen. Wenn Gespräche ihn an der falschen Stelle be-rührten, beendete er sie geradezu militärisch: „I’m a writer - and I know!’“
Im Kreise von Menschen, die nicht vorhatten, einander mit Intellektuellen-Spielregeln zu langweilen, wurden daraufhin keine vielsagenden Blicke getauscht, keine Stirnen gerunzelt - von Widerworten ganz zu schweigen. Auch hat nie jemand gefragt, was genau er denn auf seinem Turm in den Bergen geschrieben habe. Nachts weckte Jeff manchmal alle auf, wenn er schreiend aus einem seiner Alpträume auffuhr.
Eine Familie aus Dänemark hatte in Kopenhagen ihren feinen Friseurladen alleine gelassen. Sie sagten, dass ihnen war, als fräße dort etwas ihr Leben auf. Ihren zehnjährigen Sohn unter-richteten sie selbst, und sie schienen es tatsächlich zu schaffen, Eltern und Lehrer zugleich zu sein, ohne den Jungen zu verderben. Der Junge seinerseits mühte sich, seiner Umgebung eini-ge Brocken dänisch beizubringen. Als Lehrbücher verwandte er Comics. Am erfolgreichsten war er mit den ‚Peanuts’ weil dort die Zeichnungen eindeutiger für sich sprachen als bei-spielsweise die in der Micky-Maus.
Fast ohne es zu bemerken lernte er dabei englisch.
Die Meisten, die hier einander begegneten, waren mit dieser Sprache aufgewachsen; nicht nur die Amerikaner, vorübergehend gab es auch Neuseeländer, Engländer, Iren und Kanadier. Dänisch sprachen nur Dänen, schwedisch nur Schweden, Skandinavier die reisten, konnten englisch weil sie mussten. Holländer und Franzosen blieben damals noch lieber zuhause und mancher reisende Deutsche hätte auch im eigenen Land lieber englisch gesprochen. Dass der allgemeine Konsens bezüglich der Lingua franca manchen ‚Tomis’ Erinnerungen an ihr Impe-rium auffrischte und den ‚Amis’ die Faulheit stärkte, wurde bei Bedarf weggelacht.
Ein junges Paar aus Kalifornien wohnte mit einem Deutschen Schäferhund und einer noch nicht ganz erwachsenen spanischen Ente in einem hellblauen Volkswagentransporter. Die Einrichtung des fensterlosen Lieferwagens bestand aus zwei alten Matratzen, einem zweiflammigen ‚Butagaz’- Kocher, ein paar Wasserflaschen, Töpfen und Tellern und der Ü-berzeugung der beiden Bewohner, dass es ihnen an nichts fehlte.
Der Schäferhund hatte das Entchen, nachdem es eine Weile vergeblich auf der Suche nach seiner eigentlichen Familie herumgeirrt war, an Welpen statt angenommen und auf seine Art großgezogen. Wenn der Hund den Eindruck hatte, sein Schützling entfernte sich zu weit oder riskierte überhaupt, angesichts von Katzen und Raubvögeln zu viel, nahm er ihn vorsichtig zwischen die Zähne und trug ihn zurück zum Auto. Die Ente hatte gelernt, sich wie ein klei-ner Hund zu benehmen, sie ließ den Kopf hängen und schwieg.
Die Herrin der Ente, des Hundes und eines stillen, langhaarigen jungen Mannes, der gerne ‚Gras’ rauchte und träumen durfte solange er wollte, hieß ‚Mary’. Sie nannte ihn ‚Joseph’. Unschwer zu erraten, wie der Hund hieß. Eigentlich aber hieß der Träumer John. Er hatte in Vietnam gelernt, dass das Verrückteste auf der Welt das Werk von Leuten ist, die von sich behaupteten, sie seien ‚normal’. Seine Freundin schützte John hinter einem Wall aus Zärtlich-keit und verstand sich auf die Zubereitung scharfer mexikanischer Gerichte. Am beliebtesten waren Marys Enchiladas; es gab sie in vielen Varianten, jedoch nie ohne Hundehaare. John konnte stundenlang irgendwelchen Ameisen bei der Arbeit zusehen, aber er schrie nicht im Schlaf.
Ein weiterer Amerikaner besaß einen fast neuen VW- Bus mit einer perfekten ‚Westfalia’ Campingausrüstung. Er hieß Henry Carlson, war Schwede von Geburt, seine Frau hieß Gladis. Die Beiden waren die bei weitem Ältesten auf dem Hügel, er ein knochiger, weißhaariger Riese, sie neben ihm grau, klein und zerbrechlich. Gladis Spezialität war ‚clam chowder’, eine milchig aussehende Muschelsuppe, die sehr appetitlich duftete und deren Geschmack hinter dem Duft nicht zurückblieb.
Henry und ich hatten einander auf den ersten Blick gemocht.
Er hatte in den USA ein Fuhrgeschäft gehabt, mit dicken Lastern für weite Wege, und das kernige Nageln meiner farbenprächtigen Wohnung hatte ihn sofort von seinem hüstelnden Volkswagen weggelockt. Gewöhnt an die Ausmaße mächtiger ‚eighteenwheeler’ fand er mein eigentlich ziemlich wuchtiges, ehemaliges Berliner Paketauto eher niedlich. ‚Nice little rigg’, sagte er.
Wir nahmen einander abwechselnd im Auto mit, wenn es im acht oder zehn Kilometer ent-fernten Algeciras etwas einzukaufen gab. Seine Firma hatte er in Prozessen gegen eine Mi-nengesellschaft verloren. Die Betreiber einer Kupfermine hatten, um das Erz aufzubereiten, giftige Chemikalien eingesetzt, und, um das gefährliche Zeug billig loszuwerden, hatten sie es jahrelang in den nächsten Bach gekippt. Dieser Bach aber floss durch Henrys weitläufiges Grundstück und war seine ganze Freude gewesen, bevor er eine schmutzigrote Farbe ange-nommen hatte und alle Fische kieloben schwammen.
Die Anwälte der Mine hatten den Streitwert derart in die Höhe getrieben, dass er schließlich aufgeben musste, obwohl er selbstverständlich im Recht war. Mit den Resten ihrer Habe wa-ren die beiden in Henrys alte Heimat zurückgekehrt. Dort hatten sie diesen besonders bei A-merikanern beliebten Westfalia-Volkswagen gekauft, und dann waren sie nach Süden gefah-ren, bis es nicht mehr weiter ging. Beide schienen entschlossen, mit ihrer Zeit ebenso umzu-gehen. Sie wollten sich mit diesem zwar kleinen, dafür aber ziemlich ausgeklügelten Camper herumtreiben, bis sie nicht mehr konnten.
Henry war trockener Alkoholiker und erleichterte sich den Verzicht durch den exzessiven Konsum von Bonbons. Als wir einmal gemeinsam in einem kleinen Supermarkt einkauften, hatte er sich eine durchsichtige Plastiktüte mit einem ganzen Kilo Bonbons füllen lassen. Die zog schon nach wenigen Metern eindeutige Blicke von in den Straßen spielenden Kindern auf sich. Er öffnete den Knoten, mit dem die Verkäuferin die Tüte verschlossen hatte und begann die Bonbons zu verteilen. Schon auf halbem Wege war die Tüte leer. Unverdrossen kehrten wir um und Henry besorgte eine neue Tüte. Erneut liefen die Kinder zusammen, aber diesmal wollten sie keine Bonbons. Henry zu mögen, war kinderleicht.
Ein junger Engländer faszinierte alle anderen dadurch, dass er tatsächlich völlig ohne Geld unterwegs war. Ihm gehörten ein kleines Zelt, das was er auf dem Leibe trug, ein paar selbst gebastelte Sandalen sowie ein Zeichenblock und ein ziemlich teuer aussehender Zeichenstift. Die Sohlen seiner Sandalen hatte er aus Autoreifen geschnitten, die Lederriemen mit denen er die Reifensohlen an seinen Füßen befestigte, hatte er von einem weggeworfenen Rucksack abgeschnitten. Er hieß Brian und hätte in einem anderen Leben eigentlich Postbeamter in Brighton UK werden sollen.
Wo er gelernt hatte, so wunderbar zu zeichnen, verriet er nicht. Aus sehr feinen Strichen ent-standen Blumen und Kräuter die Wanderstiefel anhatten, Rucksäcke trugen, oder auch auf zarten Flügeln unterwegs waren. Beliebte Motive waren auch weggeworfenes Zeug, Dosen, Flaschen, insbesondere auch Autoteile, Kolben, Pleuel, Kühler, Schläuche, denen er auf sei-nen Bildern Leben einhauchte, indem er sie mit menschlichen Gliedmaßen oder Gesichtern versah, um sie zu Akteuren von Tanzveranstaltungen, Raufereien oder auch von Kinderspie-len zu machen.
Auf der Suche nach inspirierenden Formen und Gegenständen waren wir gemeinsam auf ei-nem Schrottplatz fündig geworden. Zum Dank lud er mich in ein nicht sonderlich billig aus-sehendes Restaurant ein.
Brian hatte kein Geld. Brian verachtete, ja, er hasste Geld. Verstohlen begann ich in meiner Tasche zu kramen. “Listen“, erinnerte er mich, „you are invited“. Ich entschied, den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Wir gingen also ins Restaurant, bestellten à la carte, und unterhielten uns über Dieses und Jenes, als sei alles in bester Ordnung. So als gehöre das zu einem ordentlichen Restaurantbe-such dazu, holte er, nachdem wir unsere Teller leer gegessen hatten, seinen Block hervor, sah kurz zum Wirt hinüber und begann zu zeichnen. In wenigen Minuten war der Wirt auf dem Blatt, korrekt wie eine Fotographie, aber darüber hinaus mit dem besonderen Ausdruck verse-hen, für den einer Kamera gewöhnlich das Auge fehlt, gewissermaßen eine präzisierte, auf den Punkt gebrachte, eine geistreich kommentierte Fotographie. Als der Wirt vorbeikam, viel-leicht um zu kassieren, vielleicht auch weil er neugierig geworden war, schenkte ihm Brian sein Portrait. Der Wirt wurde ein bisschen rot, mir schien, eher weil er sich durchschaut fühlte als geschmeichelt. Dennoch gab es noch einen feinen Nachtisch und reichlich Wein. Vom Bezahlen war keine Rede.
„That’s the way it works“, sagte Brian als wir wieder an der frischen Luft waren, räkelte sich und grinste. Ich grinste zurück obwohl er mich ein Bisschen scheu und verlegen gemacht hat-te, wahrscheinlich war auch etwas Neid dabei. Als wir ein zwei Wochen später auseinander gingen, schenkte er mir ein Bild auf dem zwei Fahrradlampen Schach spielten.
Brian hatte sich einer Gruppe Iren angeschlossen die mit schrottreifen Fahrzeugen durch die Sahara und danach so lange durch den beträchtlichen Rest von Afrika fahren wollten, bis sie im aparthen Kapstadt ankämen.
Ich hatte zwei Jahre am Rande der Sahara gearbeitet und mit angesehen, wie selbst nagelneue Fahrzeuge von den kurzen, harten Sandwellen der Wüstenstraßen nach wenigen hundert Ki-lometern zugerichtet wurden. Sogar die Flaggschiffe mobiler Überlegenheit, die legendären britischen Landrover, hatte ich mit gebrochenen Federn dahinhinken sehen.
Die Maßlosigkeit des Vorhabens, getragen von souveräner Ahnungslosigkeit, mit zwei klap-perigen, rostigen Veteranen und einem lächerlich wackeligen Anhänger einen solchen Trip zu wagen, erschien mir derart erhaben, dass ich nicht wagte, dieser sangesfrohen Truppe mit Einwänden zu kommen. Ich beruhigte mich mit der Überzeugung, dass ihre Autos zusam-menbrechen mussten, bevor sie so weit in die Wüste vorgedrungen wären, dass ihr Scheitern wirklich gefährlich würde. Andererseits ist an der Behauptung, nach der Glaube Berge ver-setzt, viel Wahres. Falls Brian längere Zeit in der Wüste aufgehalten würde, hatte er wenigs-tens besonders schönen Schrott dabei, denn selbst ein ziemlich zugerichteter britischer ‚Hum-ber’ macht immer noch etwas her. Er hatte mich zum Abschied im souveränen Gestus uralten Adels aus seinem zerschlissenen Lederfauteuil gegrüßt.
Zu Autos und Motoren habe ich ein geradezu emotionales Verhältnis. Ich leide mit ihnen, wenn sie kränkeln und freue mich, wenn sie behaglich schnurren. Henrys Volkswagen sprang schlecht an und lief unruhig.
Gladis hatte mich zum clam chowder eingeladen, und ich revanchierte mich damit, mein Werkzeug auszupacken, um den vertrauten Motor hier im fernen Spanien ein Bisschen deut-scher einzustellen. Der Winter am Atlantik war empfindlich kühl, hatte aber auch freundliche-re Tage. Die Sonne schien, ich lag bequem unterm Auto, ein Bisschen warmes Öl lief mir in den Ärmel, über mir wirtschaftete Gladis an der Vorbereitung ihrer Muschelsuppe, und Henry hockte neben mir im Sand und freute sich auf die paar ‚extrahorses’, die vor sein Auto zu spannen, ich ihm versprochen hatte.
Wenn man unterwegs ist, braucht man die Zeit für sein Tun nicht zu stehlen; sie gehört einem ja ohnehin. Man klemmt sich beim Lösen der Ventildeckel nicht die Finger, stößt sich unterm Auto nicht den Kopf, lässt kein öliges Werkzeug in den Sand fallen, kurz, man nimmt sich alle Zeit für diejenige Sorgfalt, die man jedem Tun schuldet, für das man sich aus freien Stü-cken entschieden hat.
Schließlich wusch ich mir die Hände mit Sand und Seife und Henry startete sein Auto. Es sprang tadellos an, lief rund und zufrieden, und zufrieden stippten wir kurz darauf Weißbrot in Gladis’ clam chowder.
Gewissermaßen als Dessert kredenzte Henry ein zerlesenes blaues Taschenbuch. ‚The Walden Pond’ war der Titel und der Autor hieß Henry David Thoreau. „This is my Bible“, sagte Hen-ry und tippte mit dem Zeigefinger auf den Buchdeckel, „dieser Mann hat uns beide gerettet“, sagte er, „ Gladis und mich.“
Er schlug das Buch auf und ich konnte sehen, dass er nicht nur oft darin gelesen, sondern sich auch Vieles unterstrichen hatte. Nach kurzem Blättern hatte er die für ihn offenbar entschei-dende Stelle gefunden. „Hör dir das an“, sagte Henry und las vor: „Für den Weisen ist cha-rakteristisch, dass er nichts Verzweifeltes unternimmt“. Er sah auf und suchte meinen Blick. „Nachdem ich diesen Satz endlich verstanden hatte, habe ich keine Advokaten mehr bezahlt. Wir haben einem lausigen Vergleich zugestimmt, alles verkauft und uns davongemacht“, er blätterte zerstreut in seinem Buch. „Und?“, fragte er zu Gladis gewandt, „Geht es uns heute nicht gut?“ Sie lächelte Zustimmung, schränkte diese aber vorsichtig ein: „Gut genug“, sagte sie.
Das Buch, ein Büchlein eigentlich nur, würde schneller und leichter zu lesen sein als die dicke Bibel mit dem Kreuz. Ich empfand allein das als großen Vorzug.
Die angestrichenen Textstellen las ich mehrmals. ‚Als ob es möglich wäre, die Zeit totzu-schlagen ohne die Ewigkeit zu verletzen…’ Was musste Henry alles durch den Kopf gegan-gen sein, wenn er tage - und nächtelang mit seinem Vierzigtonner auf den Horizont zurollte? Dabei nicht d i e Zeit totschlagend, sondern, viel schlimmer, s e i n e Zeit, sein eines, einzigar-tiges Leben in dieser dröhnenden, schaukelnden Kiste verschleudernd, für ein Bisschen Geld, für Grundstück und Bach - und wo war das alles jetzt? Schalten, kuppeln, rollen, steuern - müde und zuverlässig sein für anderer Leute Fracht und Profit, für Ziele die ihm nicht nur gleichgültig, sondern vielleicht sogar zuwider waren…
Henry schlug niemandes Zeit mehr tot.
‚Carpe diem’, in ihre jeweiligen Sprachen übersetzen können viele, Henry aber erfasste den Geist dieser Idee und übersetzte ihn in Wirklichkeit.
Ich war stolz, dass so einer mich ernst nahm, mich einweihte.
Das nächste Zitat, das er hervorgehoben hatte, wollte ich mir unbedingt merken und deshalb schrieb ich es ab: ‚Wenn ich irgendetwas bereue, so ist es aller Wahrscheinlichkeit nach mein anständiger Lebenswandel. Was für ein Dämon beherrschte mich, dass ich mich so gut betra-gen habe?’
Warum hatte nicht ich das als erster geschrieben? ‚Du sagst es, Thoreau’, dachte ich, ‚du sagst es!’
Mit Grausen dachte ich an die verhasste Schulzeit, in der es nur ausnahmsweise darum ging, was ich oder überhaupt irgendjemand lernen wollte. Letztlich ging es darum, Kinder entweder für die Belle Étage der Gesellschaft zu formen oder ihnen den Zutritt zu verweigern. Wie würden die Schüler damit umgehen, wenn man sie zwang zu lernen, was sie nicht wissen wollten? Würden sie brav sein? Würden sie aufgeben? Bekamen sie Magenschmerzen? Wur-den sie renitent? Musste man sie von der Schule werfen? Bis zu den Eltern reichte der lange Arm der Unterdrückung: Machten die beim Be-und Verurteilen mit? Durfte man die zur Ord-nung rufen oder war es klüger, sich für ‚Schwamm drüber’ und ‚Nichts für ungut’ zu ent-scheiden?
Jetzt tat es mir wirklich leid, dass ich damals zumindest über weite Strecken so getan hatte, als sei ich brav. Meine einzige Waffe in dieser Zeit war, absichtlich Fehler zu machen, oder absichtlich Aufgaben nicht zu lösen, damit wenigstens ich wusste, wann die Beurteiler im Dunkeln tappten.
Henry David Thoreau war auch ‚Lehrer’, hatte diesen Beruf aber an den Nagel gehängt, der Vorschrift wegen, dass er seine Schüler körperlich zu züchtigen habe.
Weil so vieles für diesen Autor sprach, las ich das ganze Buch zu Ende, obwohl es auch arge Längen hatte und für meinen Geschmack bisweilen ziemlich selbstgerecht daherkam.
Zwei Jahre lang hatte der Mann dort eine Art experimenteller Philosophie ausprobiert, er hatte gelebt wie ein Diogenes des neunzehnten Jahrhunderts.
Ein Freund hatte ihm erlaubt, auf seinem Grundstück, an einem im Wald gelegenen Teich, ein einfaches, kleines Haus zu bauen. Er nutzte dazu die Bretter einer verlassenen Hütte und eini-ge Tannen der Umgebung. Sein Ehrgeiz war, dort weitestgehend von dem zu leben, was er selbst herzustellen vermochte.
Als Maß dafür, wie viel ein Mensch wirklich zum Leben braucht, legte er die Menge an Nah-rung, Kleidung und Wohnkomfort fest, die notwendig ist, ihm seine siebenunddreißig Grad Körpertemperatur zu erhalten. Über den dazu notwendigen Aufwand führte er Buch und fand heraus, dass er unter den von ihm gewählten Bedingungen, höchstens ein Drittel seiner Le-benszeit gebraucht hatte, um reich genug zu sein, in Ruhe über sich und die Welt nachzuden-ken. Das Geschick, mit dem Menschen den Erhalt ihrer Körpertemperatur organisieren, ent-schiede demgemäß über den Teil der Lebenszeit, den sie dem Erwerb opfern müssten.
Wie unsinnig in seinen Augen Luxus und Aufwand waren, versuchte er einem Freund zu be-weisen, der ihn zu einer Fahrt mit der Eisenbahn überreden wollte. Thoreau rechnete ihm vor, warum er sogar eher am Ziel sein würde, wenn er zu Fuß ginge: Um eine Eisenbahnfahrkarte zu kaufen, müsse er seinen Garten aufwändig bearbeiten, Bohnen pflanzen und schließlich die Karte mit dem Erlös verkaufter Bohnen bezahlen. Sein stärkstes Argument jedoch war, dass der mit dem Zug Gereiste und derjenige, der zu Fuß gegangen war, am Ziel nichts mehr mit-einander anfangen könnten, denn der eine hätte ein Stück Leben hinter sich und der andere nur ein Stück Schiene.
Mit dem größeren Teil ihrer Zeit, das wollte er mit seinem Versuch belegen, stand es vielen Amerikanern seiner Zeit frei, zu tun was sie wollten. Was sie wollen sollten, schien Thoreau als selbstverständlich vorauszusetzen: Die Welt, und ganz besonders die Natur, sorgsam beo-bachten, aus diesen Beobachtungen Schlüsse ziehen und zusehen, dass und wie die Welt im eigenen Kopf wächst und Früchte trägt. Zu vermuten ist, dass er auch hundert Jahre bevor ich selbst ähnliche Erfahrungen machen konnte, mitbekommen hatte, dass Fleiß, zu dem man sich überwinden musste, moralisch höher bewertet wurde, als Fleiß der Freude machte. Die Wut darüber mochte die Ironie befeuert haben, mit der er Menschen bei schwerer Arbeit beschreibt. Ich hätte den Männern, die mühsam ihre Ochsen fütterten, um mit dem Pflug hinter ihnen her laufen zu können damit das Ochsenfutter besser wachse, zugute gehalten, dass an-dere ihnen die Köpfe mit ‚Ora et labora’ verkeilt hatten. Ich fand, dass Thoreau die Möglich-keit, dass ihnen gerade die schwere, dumme Arbeit als frommer Dienst am Glauben gedeutet worden war, zumindest hätte erwähnen sollen. Andererseits sagte ich mir: ‚Was soll’s - aus heutiger Sicht war es nicht wirklich unwahrscheinlich, dass er auch damals schon von einem Haufen materialistischer Esel umgeben war.’
Was er, seiner Versuchsanordnung wegen, nicht herausfand war, wie sich die Relation seiner Lebensökonomie verschoben hätte, hätte er zum Beispiel in einer Familie Kinder großziehen müssen. Aber ich akzeptierte die für jeden Versuch geltende Einschränkung, dass dessen Er-gebnisse nur unter vereinfachten und definierten Bedingungen gelten – Was Thoreau als Handwerker, als Farmer und auch als Schriftsteller berichten konnte, waren die Ergebnisse in der von ihm gewählten Situation und keine Lösung für alle denkbaren Probleme des Lebens. Dennoch war ihm gelungen, eine Art Kritik der Selbstverständlichkeiten, der gedankenlosen Hinnahme vermeintlichen Sinnes, zu schreiben, die jeder verstehen konnte der verstehen wollte.
Für diejenigen, die keine Lust hatten, Henrys ‚Bible’ zu lesen, fasste ich das Offenkundigste zusammen: ‚Der Mensch lebt nicht, um zu arbeiten, sondern arbeitet um zu leben.’
Dass die noch nicht überwundene Sklaverei mit einer solchen Idee nicht vereinbar war, liegt auf der Hand, und so war der Hinweis im Klappentext wenig überraschend, dass Henry Da-vid Thoreau für deren Abschaffung stritt. Konsequent verurteilte er auch die in seinem relativ freien Land beobachtete Selbst-Versklavung.
Dass er die Frage, was genau denn mit der Zeit, die mit dem Verzicht auf Luxus gewonnen war geschehen sollte, weitgehend offen ließ, kam mir entgegen.
Die Antwort würde für jeden Menschen und für jede Situation anders ausfallen, es gab keine andere Lösung, als sich fortwährend den Kopf zu zerbrechen um selber darauf zu kommen.

Jeffrey kannte die Bedeutung einiger indianischer Worte.
Massachusetts, der Staat in dem Thoreau lebte, hieß so etwas wie ‚auf Hügeln’.
Dem Gedanken, den ‚Hügel’ auf dem wir uns befanden, ‚sorgsam zu beobachten und Schlüs-se zu ziehen’ war kaum mehr zu entgehen.
In einem alten, gebrauchten Lastauto zu wohnen, war in unserer Zeit wahrscheinlich die öko-nomischste Art des Wohnens überhaupt. Wir hatten es warm, bequem und trocken, ohne für ein oder zwei Jahre Leben mehr Geld zu brauchen als wir für ein halbes Jahr Miete für eine Wohnung hätten ausgeben müssen; für eine Wohnung die auch nicht mehr gewesen wäre als warm und trocken, und die nicht einmal fahren konnte.
Unser Prinzip, zu bleiben oder zu gehen wann und wohin wir wollten, die Art uns zu kleiden, zu essen, selbst zu reparieren, was kaputt ging und den Rest des Tages für Betrachtungen oder Tätigkeiten offen zu halten, von denen wir wollten, dass sie uns Freude machten oder uns wesentlich waren, glich in so vielem dem Selbstversuch Thoreaus, dass zumindest sein Geist sich eingeladen fühlen durfte, sofern der sich mit unseren Fortbewegungsmitteln abzufinden vermochte.
Bevor ich nach Marokko aufbrach, brach ich eine meiner Regeln. Henry und ich schrieben einander auf, wo wir einander wieder treffen könnten. Ich habe den großen alten Henry Carl-son nicht wieder gesehen, aber das war auch nicht nötig, weil ich ihn nicht vergessen habe, ihn nicht und auch nicht diesen anderen Henry, diesen bockbeinigen Denker an seinem Teich im Wald.

Nachwort
Die kalte, dumme, die eigentliche Hölle, vor der sich zu fürchten jeder Grund genug hat, ist ein verkehrt gelebtes Leben. So ist vom Großen Goethe beispielsweise überliefert, dass er nicht nur mit achtzig ein blutjunges Mädchen heiraten wollte, angeblich weil er es liebte, son-dern auch, dass er in der Stunde seines Todes verzweifelte und panische Angst hatte. Von Henry David Thoreau habe ich gelesen, dass selbst seine Freunde kaum begreifen konnten, wie gelassen und bereit er mit vierundvierzig an Tuberkulose starb.

Geändert von Pe-Be (04.01.2024 um 16:41 Uhr)
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