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Alt 10.08.2012, 12:11   #1
GiantMueller
 
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Standard Der kürzeste Weg

I

Bernauer schleppte sich in seinen Sandalen über den weiten, gepflasterten Platz. Die Plastiksäcke mit den Einkäufen für die kommende Woche zogen schwer an seinen Händen. Bernauer drängte sich durch die wabernde Menschenmenge an diesem heißen Samstag Nachmittag. Er schleppte sich bis zu einem Betonmäuerchen, das ein schickes Blumenbeet umrahmte. Ein Blumenbeet, liebevoll betreut und gehegt vom international renommierten Gartenamt der großen Stadt. Seine Sandalen schmerzten, Bernauer ließ sich stöhnend auf dem kleinen Mäuerchen nieder und befreite vorsichtig seine überlasteten Hände von den schweren Plastiksäcken. Er wartete auf seine Geliebte und blickte um sich.

Bernauer war das, was man gemeinhin eine auffällige Gestalt nennen musste. Seine oberen Vorderzähne hatte er im Vorjahr bei einem Kampf eingebüßt, seine Haare hingen in dicken, aufmüpfigen Strähnen bis über beide Schultern. Bernauer wäre „Arier“ – so jedenfalls erzählte er es jedem, der das hören und vor allem aber auch jedem, der das nicht hören wollte. Überhaupt pflegte er verwirrende Anmerkungen in Gespräche einzustreuen; von wilden Exzessen, von Begegnungen mit weltberühmten Stars aus der Unterhaltungsbranche, vom leichtfüßigen Gebrauch von Geld und Drogen. Er liebte es, wenn seine Gesprächspartner ihn nicht einzuordnen wussten. Bernauer öffnete eine Dose Bier und dachte über das Leben nach. Er spürte unwillkürlich den tiefen Wunsch, seinen Körper augenblicklich verlassen zu wollen. Er wollte seine Haut ablegen wie einen Mantel, sich davonmachen ohne einer Vergangenheit im Nacken, ohne einer Erinnerung, ohne irgendwelcher Geschichten. Ächzend bückte er sich und streifte trotz seines beachtlichen Umfangs sehr flink und beinahe elegant seine Sandalen ab. Bernauer überlegte kurz. Dann traf er eine Entscheidung. Langsam erhob er sich und verließ barfuß den Platz in östlicher Richtung.

Die Plastiksäcke und Sandalen blieben einige Zeit scheinbar unbeachtet. Nach einer Weile näherten sich zwei gebückte Gestalten - vorsichtig, die Szenerie beäugend, unentschlossen. Zwei Männer in Jeansjacken, die von der Schuldnerberatung vor gut eineinhalb Jahren aufgegeben worden waren. Nun schlenderte der eine der beiden direkt auf Bernauer´s Einkaufsäcke zu. Gleichsam im Vorbeigehen nahm er die drei Bananen mit, die besonders einladend aus einem der Plastiksäcken hervorlugten. Als niemand aus der geschäftigen Menge davon Notiz zu nehmen schien, wurden die beiden allmählich dreister und selbstbewusster. Schwerbeladen brachten sie ihre Beute in Sicherheit.

Eine Frau näherte sich fragend und suchend den beiden Sandalen auf dem gepflasterten Platz vor dem Betonmäuerchen. Sie hätte Bernauers Schwester sein können. Wilde Haare; übergewichtig von zuviel Mehl-, Fleisch- und Biergenuss; ein Gebiss, das jeden Zahnarzt vor unlösbare Probleme gestellt hätte. Von all den Plastiksäcken ihres Einkaufs war nur noch einer zurückgeblieben; der mit dem Toilettenpapier, der Hautcreme und dem Geschirrspülmittel. Mit dunklen, unendlich traurigen Augen versuchte sie zu verstehen, was passiert war. Sie kannte Bernauer schon zu lange, um nicht ernsthaft besorgt zu sein.


II

Bernauer trottete barfuß die Straße entlang. Vor mehr als hundert Jahren war hier ein entzückender, kleiner Ort gewesen. Heute gehörte der ehemalige Dorfplatz zur großen Stadt, umringt von Molochen und Riesensauriern von Betonbauten, umkreist und durchfahren von einer wild hupenden Meute von tonnenschweren Karossen. Bernauer wurde es allmählich kalt ohne Schuhe. Er musste sich um eine neue Unterkunft bemühen. Er beschloss jemanden anzusprechen, jemanden der halbwegs vertrauenswürdig aussah. Da kam Koptschakt. Dunkle Haare, Mittelscheitel, Schnurrbart, dunkelbraune Knopfaugen. Koptschak nahm Bernauer mit und überließ ihm ein Zimmer in seiner Wohnung für die folgenden Wochen. Bernauer ging zum Friseur, eine Studentin der Zahnmedizin und ein Lehrling der Zahntechnik kümmerten sich einfühlsam um sein Gebiss (nie hätte er sich schönere Zähne träumen lassen). Er entdeckte sein Interesse für Geld, fürs Kalkulieren, fürs Jonglieren mit Zahlen und Beträgen. Eine Abendschule brachte ihm das Rüstzeug für das Finanzwesen. Es folgten zwei Ausbildungen mit Abiturabschluss. Alles schien ihm zu zufliegen – schließlich übernahm Bernauer die Leitung einer Bankfiliale. Er hatte insgesamt 35 Kilogramm abgenommen und heiratete eine zierliche Frau aus dem Mittelstand. Zwei Töchter wuchsen heran und kamen zur Schule.

Fast unbemerkt hatte Bernauer in dieser Zeit als Filialleiter begonnen, sich für Mode zu interessieren. Es kam nicht von heute auf morgen, es war mehr ein Prozess über viele Jahre. Er kramte die Nähmaschine seiner Frau aus dem Keller hervor, er abonnierte Frauenzeitschriften über Mode, über Stoffe und die Kunst der Schneiderei. Eines Tages begann er die Oberweite seiner Sekretärin in der Bank zu vermessen, die Breite ihrer Schultern, den Umfang ihrer Taille. Bernauer´s Frau ließ sich scheiden.


III

Sein kleiner Sohn aus zweiter Ehe saß am Boden. Mit einem kleinen Magneten fischte er die Stecknadeln aus den Ritzen im Parkett. Monoton surrte die Nähmaschine. Frau Schelakovsky setzte Bernauers Entwürfe mit engen und festen Nähten in die Realität um. Frau Schelakowsky kam aus Polen. Er hätte sich keine bessere Näherin vorstellen können. Dann und wann, wenn sich der Sohn mit den Stecknadeln in einen Finger stach, schrie er spitz auf und begann laut und markerweichend zu weinen. Bernauer musste den verletzten Finger dann in den Mund und den kleinen Bernauer in den Arm nehmen und ihn trösten. Dieselbe Szene wiederholte sich zwei bis drei Mal am Tag.

Bernauer trug eine dicke Hornbrille. Wenn er über das Leben nachdachte, überforderte das sein Gehirn. Versunken begann er sich dann am Kopf zu kratzen. Ein dichter Haarkranz umrahmte eine hoch aufgewölbte Glatze. Bernauer hatte sein Aussehen in den letzten Jahren so oft, und so tiefgreifend verändert, wie das sonst nur international gesuchte Terroristen tun. Oder Flüchtige aus der Finanzbranche. Bernauer dachte an Käfer – an den Bockkäfer zum Beispiel, oder den großen Hirschkäfer. Er dachte an Käfer, weil auch sie sich, wenn auch nur ein Mal in ihrem Leben, grundlegend wandeln mussten.

Bernauer blickte aus dem Fenster in den blauen Himmel. Hinter diesem blauen Dunst, so dachte sich Bernauer, verbarg sich ein ungeheurer, dunkler und leerer Raum. Das Universum kam ihm mächtig vor. Er sah sich selbst in einer Reihe stehen; hinter ihm sein Vater mit dem großen Wanst, dessen große, abstehende Ohren er nicht ausstehen konnte und die er doch ganz unvermeidlich von ihm geerbt hatte. Dahinter der tyrannische Großvater mit dem beinahe magyarischen Schnurrbart und der Vorliebe für die großen roten, scharfen Pfefferonies. Von ihm hieß es einst, er hätte mit seinem geradezu größenwahnsinnigen Selbstbewusstsein seine Mitwelt drangsaliert. Vor ihm in dieser Reihe standen seine Kinder, seine zwei Töchter und sein Sohn, die ihm so überaus lieb und in ihrem Eigenwillen doch auch so erstaunlich erschreckend in ihrer Unberechenbarkeit geblieben waren. Deren Nachkommen wiederum wandelten hinter weißen Schleiern in ungewisser Ferne. Ein Taubenschwarm durchkreuzte den Himmel. Bernauer fühlte sich als kleiner Teil eines großen Ganzen; vielleicht eines Großversuchs, eines ungeheuerlichen Experiments. Zärtlich glitten seine Finger über den samtigen Stoff einer eleganten Robe. Es war Ballsaison und die reichen Damen und Herren der guten Gesellschaft gaben einander die Türklinke in die Hand. Die Türklinke zu seinem Schneiderkunst Salon im Zentrum der großen Stadt.
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