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Alt 26.02.2012, 03:13   #1
weiblich empathy
 
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Beiträge: 63

Standard Nie gedacht

Ich hätte es nie gedacht. Nie erwartet. Mit allem gerechnet, aber definitiv nicht mit sowas. In meinen Augen wart ihr immer eine Bilderbuchfamilie. 2 hübsche Kinder, ein Mädchen und einen Jungen. Dazu einen Hund, einen tollen Garten und sogar einen Wintergarten. Du hast einen tollen Mann, dachte ich. Sportlich, gutaussehend, joggt jeden Morgen mit dem Hund zum Brötchen holen. Und du bist auch toll! Dachte ich. Eine starke Frau. Immer freundlich, verständnisvoll, irgendwie jung geblieben und eine tolle Mutter. Doch du bist alles andere als das.

Samstagabend, Kino war geplant. Nochmal schnell auf die Bank fahren, dann konnte es losgehen. Gerade wieder zu Hause angekommen, Autotür auf, dann stehst du da. Reisetasche in der Hand, weinend. „Du fährst mich jetzt nach Treysa.“ Das war eine Anweisung und keine Frage. Du hast dich bestimmt mit deinem Mann gestritten, war mein erster Gedanke. Und jetzt soll ich dich zu einer Freundin fahren. Wir sind Nachbarn, man hilft in der Not. Also war es selbstverständlich, dass ich nicht eine Sekunde überlegen musste, sondern sofort wieder ins Auto einstieg.

Ein kurzer Blick auf die Uhr – mir blieben 40 Minuten bis ich zum Kino abgeholt werde, das war zu schaffen. Du hast geweint, viel geweint. Ich bin nicht mal mehr vom Hof losgefahren, da fingst du auch schon an zu erzählen. Beim nächsten Parkplatz hielt ich erstmals an, zum einen um deine Arme vom Lenkrad zu lösen, in das du mir ununterbrochen hinein gegriffen hattest – ich war Fahranfängerin, wolltest du uns umbringen? – und zum anderen, um meinen Eltern und meiner Kinobegleitung Bescheid zu sagen, dass ich erstmal zu tun habe und es noch dauern kann, bis ich wieder komme.

Ja, du hast erzählt, und du hast viel erzählt. Du hast mir alles erzählt. Misshandlungen deiner Kindheit von deinem Vater, dein Selbstmordversuch zu Heiligabend vor ein paar Jahren, und dein Selbstmordversuch vor einer halben Stunde. Dein Alkoholproblem roch ich inzwischen längst. Nun war mir auch klar, wohin ich genau zu fahren hatte: Du wolltest dich selbst einweisen lassen.

Die Fahrt war die reinste Hölle. Ich war jede Sekunde froh, dass du noch bei Bewusstsein warst, dass du mir nicht wieder ins Lenkrad greifst und dass ich stark genug bin, nicht total zusammenzubrechen. Angekommen, es war inzwischen ungefähr zehn Uhr durch, dementsprechend wenig Ärzte und Schwester in der Klinik anzutreffen. Bevor wir rein gingen, machte ich dir Mut. Ließ mir deine Schlüssel geben, ich habe versprochen, sie noch heute deinem Mann vorbei zu bringen. Ich habe dir versprochen, täglich nach den Kindern zu sehen. Ich habe dir gesagt, dass du das schaffen kannst und dass deine Familie hinter dir stehen wird. Ich habe dich wiederholen lassen: „Ich will das, ich kann das, ich schaff das!“

Mit diesen Worten betraten wir die Klinik, suchten von Station zu Station, wurden immer weiter geschickt. Schließlich betraten wir die Station, auf der du aufgenommen wurdest. Ich redete mit den Schwestern – du konntest es ja nicht mehr wirklich – und füllte verschiedene Bögen für dich aus. Ich sollte dich auch ins Behandlungszimmer mit begleiten, da du ohne mich Angst hattest, hilflos warst.

3,2 Promille. Für mich der sichere Tod, für dich völlig normal. Erneut machte ich dir Mut, redete dir gut zu. Nahm dich in den Arm, trocknete deine Tränen. Ich ließ mir von den Schwestern einen Zettel mit Telefonnummer und genauer Station geben, welche ich gemeinsam mit dem Schlüssel versprach, deinem Mann zu geben. Er sollte am nächsten Tag noch deine Krankenkarte und andere Unterlagen holen.

Die Verabschiedung fiel schwer. Du wolltest mich nicht gehen lassen und ich war langsam auch selbst total am Ende – schließlich war es schon über zwei Stunden her, als ich dich vor meinem Auto traf. Zwei Stunden, in denen ich für dich da war, obwohl ich dich kaum kannte. In denen ich mir anhören musste, was dir alles widerfahren ist und wie schlecht du dich fühlst. In denen ich in gewisser Weise dein Leben rettete, da du ohne mich selbst gefahren wärst. Mit 3,2 Promille…das hätte ich mir nie verziehen.

Schließlich schaffte ich es, mich von dir loszureißen. Die letzten aufmunternden Worte, ein fragender Blick zu den Schwestern, ob noch etwas zu klären sei – war es nicht, und so konnte ich gehen.

Mit dem Schließen der Stationstür war es vorbei, die Tränen schossen nur so aus mir heraus. Viel zu viel für mein kleines Herz, viel zu viel passiert in den letzten Stunden. Wer ist eigentlich die Erwachsene von uns beiden? Und wer hätte gedacht, dass mein Abend so endet? Ich war in keinem Zustand, in dem ich hätte Auto fahren können, also ließ ich mich holen. Es dauerte eine Weile, um auch nur ansatzweise zu begreifen, was da gerade geschehen ist.

Im Nachhinein habe ich erfahren, dass du in der Zeit, als ich kurz Geld holen war, schon bei mir daheim warst. Mein kleiner Bruder musste dich in diesem Zustand sehen mit seinen 9 Jahren. Er war allein. Er hatte Angst. Ich erfuhr auch, dass dein Mann eben nicht der Superheld ist, für den er immer gehalten wird. Er ist nicht so, wie er sich darstellt. Er mag vielleicht oft mit den Kindern im Garten Fußball spielen und mit dem Hund joggend Brötchen holen - aber er steht kein Stück hinter dir und deiner Krankheit. Er hat mich angeschrieen, als ich ihm noch nachts die Schlüssel und den Zettel brachte. Kein einziges Dankeswort kam über seine Lippen, die Tür knallte er mir vor der Nase zu.

Es ist schlimm, was Alkohol mit den Menschen anrichten kann. Dass es eine Zuflucht ist, dass es scheinbar für den Moment hilft, aber eigentlich alles nur noch schlimmer macht. Es gibt Hilfe, die besser ist. Aber man muss sie auch annehmen können. Der erste Schritt ist der Schwerste, dachte ich. Dem ist auch so, aber dennoch sind alle weiteren genauso wichtig.

Du hast dich nicht geändert. Am nächsten Morgen bin ich fast vom Glauben abgefallen, als du auf einmal vor mir standest auf der Straße. Mich obligatorisch in den Arm genommen hast, dich bedankt hast. Ich war selten so negativ überwältig wie in diesem Moment. Was du hier machst, habe ich dich gefragt. Und was das soll. Du meintest nur, dass das alles so nicht ginge, den Kindern wegen. Und bist gegangen. Du hättest in der Klinik bleiben müssen, gerade der Kinder wegen. Es ist komisch, wenn ich dich jetzt noch manchmal sehe. Ernst nehmen kann ich dich seitdem nicht mehr. Jedes Mal läuft es mir eiskalt den Rücken runter, wenn ich dich mit dem Auto unterwegs sehe. Denn dein Problem ist natürlich alles andere als besser geworden.

Nein, du hast dich nicht geändert - aber ich mich anscheinend.
Jedenfalls denke ich das auf jeder Party, auf der ich mal wieder keinen Schluck trinke.
empathy ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.02.2012, 07:36   #2
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City, auf der richtigen Seite des Mains
Beiträge: 31.042

Liebe empathy,

das ist stringent und schnörkellos erzählt, das Interesse des Lesers bleibt bis zum Ende wach. An dieser Stelle konnte ich allerdings den zeitlichen Übergang nicht recht verstehen:

Zitat:
Im Nachhinein habe ich erfahren, dass du in der Zeit, als ich kurz Geld holen war, schon bei mir daheim warst.
Ein paar kleine Tipps:

In einem Prosatext die Zahlen ausschreiben, also nicht "2 Kinder", sondern "zwei Kinder" - ein literarischer Text ist keine Rechenaufgabe. Anders bei "3,2 Promille", da geht das in Ordnung.

Die Floskel "nicht wirklich" würde ich vermeiden, das ist Alltagssprache und weder chic noch intelligent.

"... daß ich stark genug bin, nicht zusammenzubrechen ..." scheint mir übertrieben dramatisch zu sein und kratzt ein wenig an der Glaubwürdigkeit der Geschichte, weil der Eindruck entsteht, der Schwerpunkt solle auf die Erzählerin statt auf Protagonistin = betrunkene Freundin verschoben werden. Kurz gesagt: Dieser Halbsatz ist entbehrlich.

Alles in allem aber ein sehr gut erzählter Text, direkt, klar und rund.

LG
Ilka
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.02.2012, 11:54   #3
männlich Ex-Peace
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Dabei seit: 11/2011
Beiträge: 3.449

Liebe Empathy,

jetzt hast du mich beeindruckt!
Du schreibst ganz starke Prosatexte.
Dieser Text ist unglaublich gut.
Hut ab!!!

Viele liebe Grüße
Peace
Ex-Peace ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.02.2012, 14:00   #4
weiblich empathy
 
Benutzerbild von empathy
 
Dabei seit: 01/2012
Alter: 30
Beiträge: 63

Liebe Ilka,

vielen vielen Dank für die Kritik und die Tipps!! Kann ich nachvollziehen und habe es auch schon (in meinem Dokument am PC, hier geht das nicht, oder?) geändert. Ebenso freut es mich, dass es dir dennoch ein wenig gefallen hat.

Beste Grüße,
Empathy
empathy ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.02.2012, 14:03   #5
weiblich empathy
 
Benutzerbild von empathy
 
Dabei seit: 01/2012
Alter: 30
Beiträge: 63

Oh Peace, du bringst mich ja ganz in Verlegenheit! DANKE!!

Leider gelingen mir gute Texte irgendwie nur, wenn ich das selbst auch so erlebt habe und es quasi nur noch "runter schreiben" muss..

Allerliebste Grüße,
Empathy
empathy ist offline   Mit Zitat antworten
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