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Alt 05.03.2006, 17:48   #1
Elke K
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 31


Standard Hannah's Forum

Hannah’s Forum

Gluggernd, mit einem saugenden Geräusch verschwanden die letzten Reste des rosmarinparfümierten Wassers im Badewannenabfluss. Kleine Schaumbläschen zerplatzten durch den Druck des abfließenden Wassers. Hannah hatte es eilig. Kaum nahm sie sich Zeit, die vom Überwärmungsbad schwitznassen eisgrauen Haare mit einem verblichenen Frotteetuch zu umwickeln, den längst zu knapp gewordenen Bademantel über ihrem fülligen alten Körper zusammenzuraffen.

Sie eilte ins Wohnzimmer, schlurfte mit den vom Baden verschrumpelten Füßen über das abgewetzte Parkett. Nun fühle sich erfrischt, der Kopf war wieder frei. Der Schnupfen und kaum auszuhaltender Druck im Schläfenbereich hatten sich gemildert. Aber selbst das nächtliche Fieber hielt sie nicht ab, ihre Forum-Kontakte im Internet zu pflegen. Nach dem Bad konnte sie konzentriert weiter lesen und schreiben.


Die tief stehende Novembersonne blendete grell in die, durch Gegenlicht undurchsichtig verschmutzte Fensterscheiben: ein graues, zerschlissenes Sofa, zwei alte Kiefernstühle mit abgewetzten Polstern, ein wunderschön handgearbeiteter Teakholz-Tisch mit verstaubter Glasplatte. Er war mit Büchern, Zeitungen, Prospekten und handgeschriebenen Zetteln beladen. Hannah fiel dies lange schon nicht mehr auf. - Die in der Ecke stehende rotbraun gebeizte Wurzelholz-Vitrine stach aus dem angeschmuddelten Chaos heraus. Wunderschöne weinrote Überfangrömer, kleine sandfarbene Likörgläschen und mundgeblasene zarte Sektkelche funkelten im Sonnenlicht, übersichtlich angeordnet und liebevoll geputzt.

Gegenüber, an der Stirnseite des Raumes gab es noch eine Besonderheit, Hannah’s Schreibtisch. Ein kleines Sperrholzmöbel, davor ein dreh- und rollbarer Bürostuhl, wärmend mit einem Schaffell überzogen. Kein Stäubchen, kein Stift, weder Zettel noch sonstige Utensilien, die sich normalerweise auf Schreibtischen befinden. Nur das Laptop, aufgeklappt, bunte Bildschirmschoner-Motive vor sich hinwechselnd. Hannah’s Lebenselexier, Daseinsberechtigung, Kummerkasten und Freund. Immer im Einsatz, immer online. Auch des Nachts eingeschaltet, um das heiß ersehnte „Sie haben Post“ aus Traum und Schlaf heraus zu verfolgen.

Die alte Frau wuchtete ihren schweren Körper auf den durchgesessenen Drehstuhl und tippte auf das Notebookpad. Der Bildschirmschoner wechselte zu einer, mit vielen Menüs bedeckten gelben Seite: Hannah’s Forum, dessen Mitglied sie nun schon seit drei Jahren war. Durch Zufall, durch einen Link auf die Seite geraten, hatte sie sich angemeldet und registrieren lassen. Als eine der Ersten.Gründer und auch Administrator des Forums war eine andere alte, ihr unbekannte Frau; sie selbst die Dritte im Bunde. Mit den Jahren war das „Lebens-Forum“ auf nahezu fünfzig Mitglieder angewachsen. Die Gemeinschaft wuchs zusammen. Man tauschte sich aus, hatte Ratschläge und Tipps füreinander, schrieb sich gegenseitig wichtige Passagen aus interessanten Büchern, schob Zitate bedeutender Menschen ein, beantworte Lebens- und Glaubensfragen.

Ihre frühere Einsamkeit, ohne Freunde und Verwandte, die längst verstorben oder in Altersheimen vor sich hin vegetierten, war vorbei. Mit Rotwein ertränkte öde Weihnachtsfeiertage, langweilige Fernsehabende oder einsame, traurig zähe Spaziergänge, weit in die Vergangenheit gerückt! Das „Lebens-Forum“ war ihr neues Zuhause, Hannah’s bunte reale Welt.

Die Mitglieder des Forums bauten ihre angeschlagene, vereinsamte Persönlichkeit nach und nach auf. Sie beantwortete dies mit immer selbstbewussteren Ratschlägen und Proben ihres schriftstellerischen Könnens, schließlich wurde sie Mittelpunkt: Ihre eingestellten Gedichte wurden gelobt, jeder wollte seine Werke von ihr kommentiert und verbessert wissen, an allen Feiertagen hatte sie schon morgens Post in ihrem virtuellen Forums-Briefkasten. Täglich bekam sie Grüße und kleine aufmerksame Zeilen zugesandt. Unbekannte Menschen, meist ein bis zwei Generationen jünger als die Vierundachzigjährige, schrieben in Beiträgen, welch wichtiger Stellenwert ihr Engagement hatte und wie viel Hilfe sie ihnen geben konnte.

Hannah’s Leben war glücklich.

Die verhassten, nur der körperlichen Fitness dienenden Spaziergänge, Einkaufsbummel, Besuche im Altenzentrum zu den ewig gleichen samariterischen Kaffeetafeln, noch vor Jahren geliebte Zoobesuche, - all das war nicht mehr wichtig. Hastig erledigte sie des Morgens ihre Einkäufe, selten konnte sie sich durchringen, Staub zu saugen, das Bad zu wischen, aufzuräumen. Es gab jetzt „Essen auf Rädern“ und andere Fertigprodukte. Wochenlang benutzte sie dieselbe Tasse, den mit angetrockneten Essensresten bedeckte Teller, verbrachte Tag und Nacht, jede freie Minute, nur durch kurze wild träumende Schlafpausen unterbrochen, mit einem alten Bademantel bekleidet, in verfilzten Wollsocken, vor ihrem Notebook, in „ihrem“ Forum. Nur das mittägliche heiße Bad bildete einen weiteren Fixpunkt in ihrem Leben. Danach fühlte sie sich lebendig, frisch und wach, um wieder bis tief in den Abend hinein mit unbekannt-vertrauten Menschen zu plaudern.

So auch heute. Sie scrollte die Rubriken runter, wieder rauf. Ungläubig. Niemand hatte etwas Neues geschrieben. Keine Antwort auf ihr gestriges Thema „Winterreigen“. Hanna war entsetzt, verwundert und glaubte zuerst, ihr Online-Anschlus, ihr Draht zur Welt, sei gestört. Nein, die ewig blinkenden bunten Reklameblocks waren aktiv. Und das kleine Briefkastensymbol leuchtete rot. Post für sie! Ein Glück, mit noch vor Schreck zitternder Hand klickte sie auf den virtuellen Briefumschlag, eine kurze, in dicken blauen Buchstaben geschriebene Mitteilung öffnete sich:

„Liebe Frau Hanna! Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass meine Mutter gestern Abend einem Hirnschlag erlegen ist. Heute Morgen habe ich ihren Posteingang kontrolliert, den Computer durchsucht und anhand ihrer Notizen und Passwörter nach Hinweisen auf Freunde und Bekannte durchstöbert. Dabei habe ich Folgendes entdeckt: In den letzten Jahren, seit sie nach ihrem ersten Schlaganfall an einen Rollstuhl gefesselt war, hat meine Mutter dieses Forum aufgebaut, sich mit immer neuen Persönlichkeiten angemeldet. Damit hat sie Ihnen, liebe Frau Hannah und sich, gewiss auf sehr schöne Weise die Langeweile vertrieben. Nach ihrem Tod werde ich nunmehr dieses Forum schließen: Ich hoffe, dass Sie in den Weiten des Netzes neue Kontakte finden, nicht nur wieder eine, sich aus vielen Mosaiksteinchen zusammengesetzte alte Frau! Mit allerbester Hochachtung! Ihre Liselotte K.“

Zwielicht. Novemberschwaden durchwaberten den hereinbrechenden Abend. Hannah stand endlich vom Stuhl auf, klappte den Lapptop zu und zog den Stecker. Das lange Sitzen hatte sie ausgekühlt. Mühsam schlurfend, das Gerät unter den Arm geklemmt, ging sie über den Flur ins Bad und ließ sprudelnd heißes Wasser in die Wanne laufen. Sie stöpselte das Gerät an die Steckdose, schaltete es ein, und stieg mit ihm in das wohl duftende Schaummeer. Gemeinsam tauchten sie unter. Vorbei.
(C) Elke Kemna, 5.3.2006
Elke K ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 10.03.2006, 20:59   #2
Belgarath
Gast
 
Beiträge: n/a

Standard So, jetzt habe ich mir die Zeit genommen

und bin richtig beeindruckt, denn Du kannst offensichtlich eines auf jeden Fall, Geschichten erzählen, mit dem richtigen Tempo, den Schreibstil durchhaltend und sogar mit guter Textstruktur. Ob Du auch eine Lyrikerin bist, weiß ich jetzt aus dem Bauch heraus nicht, werde ich aber sicher früher oder später heraus finden.
Hier habe ich eine kleine Anregung:
>Gluggernd, mit einem saugenden Geräusch verschwanden die letzten Reste des rosmarinparfümierten Wassers im Badewannenabfluss. Kleine Schaumbläschen zerplatzten durch den Druck. des abfließenden Wassers. die Wiederholung braucht der Text nicht, denn das Wasser ergibt sich aus der Logik der Geschichte. Meine Empfehlung: ersatzlos streichen
Auch die Textstruktur lässt sich noch verbessern, besonders wenn du in der Erzählung die Bilder wechselst, wenn sich die Handlung ändert, wie z.B. hier:
>Gluggernd, mit einem saugenden Geräusch verschwanden die letzten Reste des rosmarinparfümierten Wassers im Badewannenabfluss. Kleine Schaumbläschen zerplatzten durch den Druck des abfließenden Wassers. denn allein Absätze machen noch keine Textstruktur aus. Hier verändert sich die Handlung, und das gibt dem Leser die Sekunde das Erzählte auf sich wirken zu lassen, - neue Zeile
Hannah hatte es eilig. Kaum nahm sie sich Zeit, die vom Überwärmungsbad schwitznassen eisgrauen Haare mit einem verblichenen Frotteetuch zu umwickeln, den längst zu knapp gewordenen Bademantel über ihrem fülligen alten Körper zusammenzuraffen.<
Ebenso verhält es sich hier, wo du perfekt mit wenigen Worten eine ganze Szenerie beschreibst:
>Sie eilte ins Wohnzimmer, schlurfte mit den vom Baden verschrumpelten Füßen über das abgewetzte Parkett. lass das Bild wirken, - neue Zeile. Keine Angst, der Text fällt deswegen nicht auseinander
Nun fühle sich erfrischt, der Kopf war wieder frei. Der Schnupfen und kaum auszuhaltender Druck im Schläfenbereich hatten sich gemildert. Aber selbst das nächtliche Fieber hielt sie nicht ab, ihre Forum-Kontakte im Internet zu pflegen. Nach dem Bad konnte sie konzentriert weiter lesen und schreiben.<
Wiederrum ähnlich ist es auch hier, wo du mit einem Gedankenstrich die neue Zeile praktisch schon in den Absatz geschrieben, aber nicht umgesetzt hast:
>Die tief stehende Novembersonne blendete grell in die, durch Gegenlicht undurchsichtig verschmutzte Fensterscheiben: ein graues, zerschlissenes Sofa, zwei alte Kiefernstühle mit abgewetzten Polstern, ein wunderschön handgearbeiteter Teakholz-Tisch mit verstaubter Glasplatte. Er war mit Büchern, Zeitungen, Prospekten und handgeschriebenen Zetteln beladen. Hannah fiel dies lange schon nicht mehr auf. - hier ist jetzt etwas Besonderes, das den behäbigen Sprachfluss bricht, das verdient eine neue Zeile
Die in der Ecke stehende rotbraun gebeizte Wurzelholz-Vitrine stach aus dem angeschmuddelten Chaos heraus. Wunderschöne weinrote Überfangrömer, kleine sandfarbene Likörgläschen und mundgeblasene zarte Sektkelche funkelten im Sonnenlicht, übersichtlich angeordnet und liebevoll geputzt.<
Hier ist es fast noch wichtiger, denn Du erzählst die Schlüsselszene der ganzen Geschichte, die Tragik eines Lebens, das nur noch im Internet, statt im wirklichen Leben stattfindet, eine lebensechte Szenerie, die bei vielen Usern zu beobachten ist, auch wenn man sie nicht persönlich, nur aus dem Internet kennt:
Gegenüber, an der Stirnseite des Raumes gab es noch eine Besonderheit, Hannah’s Schreibtisch. Ein kleines Sperrholzmöbel, davor ein dreh- und rollbarer Bürostuhl, wärmend mit einem Schaffell überzogen. Kein Stäubchen, kein Stift, weder Zettel noch sonstige Utensilien, die sich normalerweise auf Schreibtischen befinden. Nur das Laptop, aufgeklappt, bunte Bildschirmschoner-Motive vor sich hinwechselnd. Hannah’s Lebenselexier, Daseinsberechtigung, Kummerkasten und Freund. das ist eine Bekräftigung, wie ein Resümee, und sollte eine eigene Zeile bekommen
Immer im Einsatz, immer online.
Auch des Nachts eingeschaltet, um das heiß ersehnte „Sie haben Post“ aus Traum und Schlaf heraus zu verfolgen.<
Ich werde jetzt nicht alle auflisten, denn ich halte dich für durchaus fähig die anderen zu finden, die ich dir noch vorgeschlagen hätte, denn Du schreibst wie gesagt sehr gut. Trotzdem ist es deine Geschichte, und niemand wird dir nachtragen, wenn Du es genauso lassen willst. Aber es wäre m.E. erwägenswert, denn Du erzählst dann diese geschriebene Geschichte, wie Du sie wörtlich einem guten Freund erzählen würdest, - und so sollten gute Geschichten auch erzählt werden. Aber es gibt durchaus geschichten, wo eine gute Textstruktur absolut nicht zum Inhalt passt...
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Alt 10.03.2006, 21:48   #3
Elke K
 
Dabei seit: 03/2006
Beiträge: 31


Standard RE: So, jetzt habe ich mir die Zeit genommen

Hallo Belgarath! Ich freue mich, ich danke dir, ich bin beeindruckt! So, wie Du die Geschichte durch Absätze getrennt hast, wirkt sie!
Wenn ich schreibe, erzähle ich mir die Geschichte(n) dabei. Höre sie, lasse sie wirken - mit den Pausen, in denen ich denke, um sie weiterzuführen.
Diese Gedankenzeit - sind die Absätze. DAS habe ich aber nicht umgesetzt in die Formatierung des Textes. Stimmt! Dabei soll das Erzählte genauso wirken, wie Du es beschrieben hast. Nicht als Einheitsbrei aneinandergereihter Beschreibungen.

Danke, dass Du dir so viel Zeit genommen hast! Natürlich freue ich mich auch über das "dicke" Lob!

Vielleicht noch kurz etwas zur Entstehung: Eines späten Abends saß ich vorm PC und guckte in mein Lieblingsforum. Es sollte geschlossen werden. Nur ein Nichtregistrierter und ich befanden sich noch auf dem Board. Das war die "Geburt" von Hanna's Forum!
(dieses Forum besteht zum Glück weiter!)

Ich wünsche dir noch einen schönen Abend! Und euch Lesenden auch!
PS. Gedichte oder lyrische Verse "verunglücken" mir immer!
Elke K ist offline   Mit Zitat antworten
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