Die Frau die mich in den Schlaf sang

[Aporie]

Als Mutter zum ersten Mal ihr neues Zimmer betrat, war schon alles eingerichtet. Über dem Bett hing wie früher der gekreuzigte Heiland mit der weinenden Muttergottes. Die gab es auch noch in der Botticelli-Version, gleich neben dem Bauernschrank. Ich merkte, dass sie etwas Zeit brauchte, um die ihr vertrauten Möbel in die neue Umgebung einzuordnen.
„Und wo ist die Joseph-Statue?“ fragte sie, „und der Rosenkranz aus Muscheln, den er um den Hals trägt?“
„Vielleicht sollte man es nicht übertreiben“, sagte ich, „das hier ist ein protestantisches Heim, geleitet von den Neumünster Diakonissinnen.“
„Häh, Neumünster? Du bist im Neumünster-Spital auf die Welt gekommen, und es hat keine Diakonissin gestört, dass ich dir immer ein Kreuzchen auf die Stirn machte, wenn man dich mir gebracht hat.“
Ich schaltete beiläufig den CD-Player ein, den ich für Mutter mitgebracht hatte. Bis dahin hatte sie ihn geflissentlich übersehen. Ich hatte die alte Schellackplatte mit dem Walzer Kari und dem Geissbergchörli auf eine CD gebrannt.
Mutter hatte sich unterdessen, nicht ohne vorher die Matratze einer eingehenden Prüfung zu unterziehen, aufs Bett gesetzt, das leider nicht ihr eigenes war, sondern das vom Heim verordnete Gerät für den praktischen Umgang mit prospektiven Pflegefällen. Ich setzte mich neben sie und drückte sie ermunternd, als ihre junge, glasklare Stimme unvermittelt Besitz nahm von der neuen Welt, in der die alten Möbel für Ordnung sorgen sollten.
Dä mit em brune Huet diolodiodiololodi dä gfallt mer cheibe guet diololodidiololodidioliadiolidu
Mutter warf mir ein eiliges Lächeln zu und machte sich mit der Zunge die Lippen feucht, bevor sie sich mit einem kühnen Schwung auf ihre dürren Beinchen stellte und mitsang. Sich mit beiden Händen selbst dirigierend. wagte sie sich hinauf bis in die Kopfstimmlagen, wo die Vokale wild durcheinander kullerten, angetrieben von immer schneller werdenden Zungenschlägen, die jeden Ton mit einem L oder einem D in den nächsten schickten.
diololodidiololodidioliadiolidu
Und während sie sang, ließ sie keinen Blick von mir und schien mir mit jedem diololodidiololodi mehr zu vertrauen. Alles wird gut, man muss es nur nehmen, wie es kommt, sagten ihre Augen, und die Brosche am Hals und das Kreuz am silbernen Kettchen hüpften munter mit.
Wenn jetzt jemand in Tränen ausbrechen würde, dachte ich, könnte das nur ich sein. Andere Mütter lasen ihrem Kind vor dem Einschlafen vielleicht eine Gute-Nacht-Geschichte vor, meine Mutter sang mich in den Schlaf. Und wenn ich lange genug gebettelt hatte, holte sie nach dem Abwaschen oder nach dem Bügeln ihre Gitarre hervor und spielte mir mit einer Stimme, in der selbst ein übermütiger Jodel traurig klang, etwas aus ihrem früheren Repertoire vor. Ich war der einzige Zuhörer, der ihr verblieb. Vater war dagegen, dass sie weiterhin Auftritte hatte. Sie musste jetzt Mutter sein, weil der kleine Aporie da war.
Dä mit em grüene Huet diololodidiololodi dä gfallt mer cheibe guet diololodidiololodidioliadiolidu
Ich stand auf und umarmte sie. Sie ist meine früheste Erinnerung an Geborgenheit und an Körperwärme. Und an Frauenhaar, das über mein Gesicht streifte, wenn sie mir den Gutenachtkuss gab. Es war Zeit, die Cognacflasche zu holen.
„Ich werde jetzt auch alt“, sagte ich, als wir anstießen „wahrscheinlich nie so alt wie du, aber auch alt.“