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Zeitgeschehen und Gesellschaft Gedichte über aktuelle Ereignisse und über die Menschen dieser Welt. |
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23.11.2012, 22:16 | #1 |
Mattscheibenfuge
Bitterbrot in matter Sonne, Scheibe für Scheibe
Bissen um Bissen essen wir es, zu jeder Stunde des Tages. Blutige Kerben werden gezeichnet, mit giftigen Pfeilen, an unseren Fenstern, schwarz sind inzwischen die Scheiben. Kleine Hände spielen mit einem Skorpion, sie fürchten sich nicht, lernen zu stechen, von Sekund zu Sekund, trübt sich das Auge des Kindes. Bissen um Bissen essen wir es, Bitterbrot in matter Sonne, Scheibe für Scheibe, zu jeder Stunde des Tages. Die mächtigen Bäume verlieren ihr Obst, tanzend und in gebücktem Reigen, zertreten wird Samen und Frucht. Schnell, füll dir die Taschen mit all diesem Tand, schnell, leg ab dein Gewissen und deinen Verstand. Zu jeder Stunde des Tages essen wir es, Bitterbrot in matter Sonne, Bissen um Bissen und Scheibe für Scheibe. |
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23.11.2012, 22:29 | #2 |
Guten Tag Ganymeda, mich erinnert Dein Gedicht ganz stark an eines der bestürzendsten Gedichte,
die ich jemals gelesen habe: http://www.celan-projekt.de/ Die Todesfuge von Paul Celan. Da dieses Gedicht so einen starken Schatten wirft, kann ich das Deinige nicht kommentieren momentan. MuschelIch |
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23.11.2012, 22:34 | #3 |
ja, das ist auch kein Zufall.
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23.11.2012, 23:36 | #4 |
Hallo Ganymeda und herzlich willkommen!
Ich finde das Gedicht einerseits sehr gelungen. Auf der anderen Seite frage ich mich, ob man sowas eigentlich "darf": Die Todesfuge variieren und dieses einmalige Gedicht benutzen, um einen ganz anderen Inhalt zu transportieren. Das kommt mir irgendwie ein bisschen so vor wie ein unangebrachter Holocaustvergleich. Aber ich will hier nicht rummoralisieren, lieber zurück zu deinem Gedicht: Ich finde es schon faszinierend, wie aus den Brotscheiben und der matten Sonne die Mattscheibe aus dem Titel wird. Und wie die zunächst rätselhaften Bilder im Zusammenhang mit dem Fernsehen auf einmal einen Sinn ergeben. Besonders intensiv finde ich die Strophe mit dem Kind. Ich verstehe das als eine Beschreibung der Verrohung durch zu viel Fernsehkonsum. Am tiefsten jedoch beeindruckt mich, wie wenig direkt deine Bilder sind und wie treffend trotzdem. Sie lassen der Fantasie und den Gefühlen Raum. Ich verstehe sie nicht alle mit dem Kopf. Mit dem Herzen aber irgendwie schon. Gut gefällt mir auch die Wortschöpfung Bitterbrot, die ich hier als Bezeichnung für Fernseh-Inhalte verstehe. Die Ambivalenz zwischen guter Nahrung (=Informationen bzw. gute Unterhaltung) und dem bitteren Beigeschmack (= vergeudete Zeit, Abstumpfung, Flucht vor sich selbst und was noch alles...) kommt für mich schon in diesem einen Wort sehr gut zum Ausdruck. Ich freue mich schon auf weitere Gedichte von dir und bin sehr gespannt. ecken |
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23.11.2012, 23:57 | #5 |
Erstmal, vielen Dank für dein Statement und dein Lob, ich verstehe aber auch deinen Einwand, ich hatte mir selber schon Gedanken darüber gemacht. Allerdings bin ich zum Schluss gekommen, dass ich der Todesfuge keinen Schaden zufüge, wenn ich mich stilistisch danach orientiere um zum Ausdruck zu bringen, wie durch "Brot und Spiele" die wahren Werte verloren gehen, wie unser Denken programmiert wird, eigene Ideen und Gedanken vernichtet werden, wie wir hingetrimmt werden zu konsumieren und dadurch Vieles verloren geht, was eigentlich Wichtigkeit haben sollte.
Liebe Grüße an Dich. |
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