Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Forum durchsuchen Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Gedichte-Forum > Sonstiges Gedichte und Experimentelles

Sonstiges Gedichte und Experimentelles Diverse Gedichte mit unklarem Thema sowie Experimentelles.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 28.07.2011, 22:41   #1
männlich Wenholm
 
Benutzerbild von Wenholm
 
Dabei seit: 07/2011
Ort: Köln
Alter: 47
Beiträge: 7

Standard Dunkelheit

Es war mein zwölfter Geburtstag, da ich die Familie verließ und mich in den Wald begab. Was hatten sie mir alles erzählen wollen – von Liebe sprachen sie und von Wünschen und Neigungen, und Begriffe führten sie im Munde, wie Kind und Vater, Mutter, und stets glaubten sie in jener großen leeren Haut, die mir das Wort „Zuhause“ war, einen letzten Trumpf in Händen zu halten, mit dem sie mich auf alle Fälle in ihre schrecklich enge Welt zurückködern könnten, wenn sie sahen, dass ansonsten so gar nichts eine Wirkung zeigte.

Ich glaube, ich hätte mir einmal nur die Mühe machen müssen, ihnen mit Worten zu verdeutlichen, was in mir war und seitdem wuchs; sie hätten mich nicht halten wollen! – ich muss tatsächlich lächeln – oh nein, sie hätten mich nicht halten wollen.

Doch was ist mir ihr Wollen und ihr Nichtwollen! Ich ging, als der Zeitpunkt gekommen war, als Gott oder das Schicksal oder irgendein Geheimes in mir selbst es für angemessen hielt, – als etwas zur Reife gekommen war. Vielleicht stimmt ja doch ein wenig von dem Plunder, den das Tageslichtgesindel predigt. Vielleicht war da ein Körper, der sich entwickelte, ein Prozess, der auf unerklärliche Weise vom Fleische auf den Geist übergriff. Wohl scheint mir diese Möglichkeit jenes kleine Anhängsel meines einstigen Körpers ungebührlich zu erhöhen, und ich muss gestehen, ich verspüre Stolz bei dem Gedanken, dass ich diesen damals ebenso wenig achtete wie nun, da ich nichts mehr achte, was ich greifen kann, – da er zurück-geblieben ist, jenseits des Waldes, im Licht.

Der Wald – ich gebe es ungern zu, doch erzählten sie mir die reine Wahrheit über ihn. Es scheint, die Möglichkeit besteht, dass sie etwas wissen können – grundsätzlich. Es sei ihnen gegönnt. Hüte dich, riet mir jene, die sich Mutter nannte, der Wald ist bös, er ist finster – jaaa, finster ist er wohl –, dort geht es um, und keiner kommt dort mehr heraus. Und das Vatervieh, was hatte es zu brummen und gewichtig die Stirn zu runzeln? Ein Wildes haust dort, raunte er, und ich mühte mich, ihm nicht ins Gesicht zu lachen, wusste ich mich doch uralt neben ihm! Ein Wildes ist dort, ein Unersättliches und Wildes. Klauen, Hauer, Schnäbel, alles, was zerfleischen kann, – und Schlimmeres. Es nimmt die Seele, sagen die Leute. Man kann nicht alles glauben, was sie sagen – er sah mir ernst ins Gesicht, und ich wollte ihn bespucken –, doch gehe nicht dorthin. Gehe niemals dorthin!

Dies war der einzige Moment in meinem Dasein, da sich das Anhängsel bemerkbar machte. Es war da ein Zucken, gleichsam angenehm und unerfüllt, ich wusste kaum woher und dachte schon es sei der After – es war und ist mir fremd, das Fleisch, das elende! Wichtig und gewiss war nur das eine jenes Augenblicks: der Trotz, der mir eingab: Gehe in den Wald, eile in den Wald, reiß dir die Kleider vom Körper und spring hinein in die Finsternis, umarme nackten Leibes das rauhe Fell der Bestien und lass die anderen zurück im Licht, sprachlos vor Entsetzen! Nun, im Blick zurück erkenne ich, welch seherisches Auge mein Trotz an jenem Tage hatte.

Als nun mein Geburtstag war, da riss es mich noch nächtens aus dem Schlaf. Tränen standen mir in Augen, und ich war nur der eine Wunsch: niemals mehr das Taglicht sehen! Da stand ich auf, verließ mein Bett so wie ich war – tatsächlich nackt –, schenkte den Geschwistern nicht einen letzten Blick, ging achtlos zur Türe unsrer Kammer, ging hindurch, mochte nicht leise sein, mochte nicht laut sein, ging zur Stube, wo noch Glut im Ofen war – ich spuckte aus vor ihr –, da stand mit einem Mal der Vater vor mir, doch ging ich achtlos an ihm vorüber, wie es einem Dinge zustand, hörte sein Stammeln nur von weitem.

Nur einmal hielt ich inne. Ich hatte jenes lügnerische Andere erreicht, das sie „Spiegel“ nannten, und darin war ein Bleiches, und ich wusste, auch dies Bleiche war ein Anderes, und nur dies Andere war das Ziel des Stammelns und des Wütens. Und ich sah, wie etwas nach dem Bleichen griff, ein – Tastendes, eine Hand.

Da tat ich all den faulen Zauber ab, ich ging, und kein Hände-Ding war fähig, mich zu halten; wie Luft war ich, – wie Wasser.

Da war die Tür. Ohne Not wählte ich sie als Stelle, als Weg, das Haus zu verlassen – es war wie das bewusste und feierliche Öffnen eines zerbrechlichen Gefäßes, dessen Inhalt man vernichten will; ein ritueller letzter Akt des Beendens.

Draußen dann war alles gleich. Nur eines reichte bis zu meinem Selbst: das Lodern in der Ferne, – das Lodern der Sonne, der Feindin, die mich mir selbst entfremden, mich uneins werden lassen wollte.

Da eile ich ein letztes Mal. Die Richtung weiß ich wohl: dorthin, wo ich eins und alles sein kann, dorthin, wo es dunkel ist: hin zum Wald, hin zum Wald!
Ja, dort ragt er, geduckt und borstig wie ein wildes Tier, wie ein Körper, nur gewaltiger und meiner würdig.

Und ich habe Furcht!

Tatsächlich habe ich große Furcht und bin scheinbar doch noch ein Bewohntes aus Haut und Knochen: Angststuten meine Wirbel hinab; ein panisches Flattern meiner selbst, direkt hinter meiner Sicht.

Doch fluche ich der Furcht nicht; ich nutze sie, ich schände sie, ich verdrehe ihren Sinn gegen ihren Willen! Ich drücke sie nieder, erzwinge mir Zugang zu ihrer wundesten Stelle und gewähre ihr nicht einmal den Tod. Ich halte sie am Leben und mäste sie, zwinge sie zu kauen, meinen dunklen Saft zu schlucken, und sie bläht sich winselnd. Sie an den Haaren zerrend schleife ich ihren aufgedunsenen Wanst mit mir über die Grenze des Waldes – ein Köder –, und erst als ich spüre, wie Wärme mich verlässt, lasse ich sie gehen, öffne meinen Griff, breite die Arme aus und empfange die lüsterne Nacht.

Ich weiß wohl, wie sie mir nun nahe kommen, all die fratzigen Undinge, die Mäuler und Alptraumschnäbel. Ganz dicht sind sie an meiner Seite, an allen Seiten, und glauben, mich jetzt noch in den Wahnsinn treiben zu können, wie sie es mit Allen taten. Dann aber müssen sie erfahren: Ich kenne sie; ich verstehe sie; ich bin sie. Ein letztes Mal ist es mir körperlich; Wellen kalter Nadeln, Krämpfe, Nervenreize: ein stümperhafter Zwang des Endlichen, Erhabenheit auszudrücken.

Dann bin ich; bin ich ganz; bin ich Liebe; bin ich Neigung; bin ich Wunsch; bin ich Erfüllung; Kind, Vater, Mutter – alles.

Ich durchschwimme die Waldesschwärze wie ein monströser Fisch und bin gleichzeitig selbst die Schwärze, bin Fisch und Meer gleichermaßen, Betrachter und Bild, Gott und Schöpfung; alles, was ich liebe; alles, was ist. Erhebe ich die Stimme, erstickt sie allen Laut, breite ich die Arme, breiten sich schwarze Schwingen: Felder und Ebenen, darauf sich lieben und hoffen und schwatzen ließe, wäre da noch Raum für all dies, – wäre da noch Raum außer mir. So aber ist alles nur die dunkle Flut meiner selbst, endlich zu sich selbst zurückgekehrt und sich selbst genug.

Sich selbst genug?

Nun, – schon. Und doch: Warum nicht die angebotene Nahrung fressen? Keine Not treibt mich, kein Hunger zur Erhaltung meiner Existenz. Ich bin für immer satt! Nur reicht schon eine winzige Lust, meinen unendlichen Massen ein kleines Übergewicht zu verleihen und – welche Order hielte mich? – den gebirgehohen Turm meines Seins in eine Richtung kippen zu lassen, einer unwiderstehlichen Woge gleich. Wehe dem, der diese Lust erweckt. Abertausend Faden dunkler Wasser verdecken sein Schicksal. Jene, die mir diese Lust bereiten, sie mögen mir verwandt erscheinen, fanden sie doch ebenfalls den Weg in den Wald.

Nur suchten sie ihn nicht!

Und suchten sie ihn – sie fanden nicht das Ziel ihrer Absicht.
Sie fanden nur mich.

Und ich suche sie heim, wie mich jene heimsuchten, die nun ich bin. Tief tauche ich die Nüstern in die feuchten Gruben ihrer Ängste und weide mich daran. Doch nur bis zu jenem Punkt, da ich dieser Lust überdrüssig werde! Dann folge ich dem einen Gesetz, das ich kenne, und vernichte das, was nicht ich ist.

Und alle Antwort wird gegeben im Malmen meiner Hauer, im rhythmischen Knuspern meiner Kiefer an fremdem Knorpel.
Hässlich bin ich.
Heil mir!
Wenholm ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.07.2011, 08:18   #2
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Halli Hallo -


ich bin sprachlos.
Das ist der beste Prosatext, den ich je hier in diesem Forum las.
Da kommen gewaltige Erinnerungen auf:
An Mythen, an Sagen, an Überlieferungen, an andre Dichter (Narziß und Goldmund. Lemprières Wörterbuch. Ein Tropfen Zeit. Waldeinsamkeit... etc.)
Interpretieren kann ich den Text nicht, er ist zu gefüllt, vielschichtig.
Aber unglaublich beeindruckend ist er!

Und außer zwei Ausrufezeichen-Unsicherheiten ist er makellos!


Erschüttert:
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.08.2011, 10:52   #3
männlich Elysium
 
Benutzerbild von Elysium
 
Dabei seit: 07/2011
Ort: Siegburg
Alter: 43
Beiträge: 490

Ein Erlebnis. Ein rauschhafter Ritt, auf dem sich tiefe Psychologie, Biographisches, Unheimliches und Bestialisches vermischen. Zu einem ebenso authentischen wie unerklärlichen personalen Erzälstück, einem Text, der an viele Große der modernen Fantastik erinnert. Zu einem Text, der Eindruck macht und hinterlässt.
Elysium ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 16.08.2011, 13:42   #4
joerg
 
Dabei seit: 12/2005
Beiträge: 90

sprachlos beeindruckt....

Jörg
joerg ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.08.2011, 21:41   #5
Ex-Odiumediae
abgemeldet
 
Dabei seit: 07/2010
Beiträge: 1.151

Welch ein beneidenswerter Stil, ich bin begeistert!
Ex-Odiumediae ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 09.01.2013, 22:15   #6
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Dieser Text Wenholms liegt nun schon lange unter dem Eis des Vergessens. Ich denke, es ist Zeit, es abschmelzen zu lassen.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.12.2015, 18:39   #7
weiblich Kama Tanha
 
Benutzerbild von Kama Tanha
 
Dabei seit: 08/2015
Alter: 40
Beiträge: 125

Ein unglaublicher Text! Ich bin beeindruckt und tief bewegt! Selten etwas so Gutes gelesen.
Kama Tanha ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Dunkelheit

Themen-Optionen Thema durchsuchen
Thema durchsuchen:

Erweiterte Suche


Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
In der Dunkelheit Stella88 Düstere Welten und Abgründiges 0 22.12.2008 11:52
Dunkelheit TheVoiceWithin Gefühlte Momente und Emotionen 2 27.10.2007 23:04
Dunkelheit Sammael Düstere Welten und Abgründiges 0 10.09.2007 20:43
Dunkelheit mrHarper Düstere Welten und Abgründiges 0 30.05.2005 23:19


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.