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Alt 04.07.2021, 18:43   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard 1 Cent für 1 Stück Kafka (und vice versa)

„Schönes Wochenende,“ kam es routinemäßig aus dem Mund der Kassiererin, ohne die Kundin anzuschauen, die vor mir an der Reihe gewesen war. Kaum hatte diese ihren Kassenbon vom Checkout Counter genommen und sich angeschickt, ihren Caddy wegzuschieben, wandte sich die Supermarktangestellte wieder dem Förderband zu. Nächster Kunde, nächster Durchgang - Fließbandarbeit. Jetzt war ich dran.

Doch die Kundin blieb abseits stehen, um ihren Kassenbon zu prüfen. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie damit durch war, dann kam sie zurück und hielt der Kassiererin den Papierstreifen vor die Nase. „Den Cent will ich zurückhaben.“

Diesmal sah sich die Kassiererin veranlasst, der Kundin ins Gesicht zu schauen. Sie zog die Augenbrauen hoch, kam aber offensichtlich nicht auf Idee, nach dem Wieso-Weshalb-Warum zu fragen. Die Kundin half ihr auf die Sprünge: „Den Beutel habe ich von zu Hause mitgebracht. Der war bereits bezahlt.“ Sie kramte in ihrem Caddy und hob den hauchdünnen Kunststoffbeutel, der ein paar Möhren enthielt, demonstrativ in die Luft. „Muss man doch sehen, dass der schon gebraucht war.“

Die Kassiererin blickte auf den Beutel, als handele es sich um eine bisher unentdeckte Tierart. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie bereit war, dieses seltene Exemplar auf den Wahrheitsgehalt der behaupteten Beschaffenheit zu überprüfen. Sie nahm es der Kundin aus der Hand, legte es auf den Checkout Counter und strich die Stellen um die Möhren herum glatt, um sich ein Urteil bilden zu können, ob das Material wirklich Gebrauchsspuren aufwies oder ob sie das Opfer des Sparsamkeitssyndroms einer Kundin zu werden drohte, durch deren Kreislaufsystem möglicherweise das Blut schottischer Vorfahren lief.

Hinter mir begannen die Kunden von einem Bein aufs andere zu treten und zu stöhnen. Ich stellte mir vor, welcher Lärm ausgebrochen wäre, wenn ihre Caddies allesamt mit Hupen ausgestattet gewesen wären. Mich amüsierte die Szene eher, und ich konnte mir nicht verkneifen, mich einzumischen: „Das ist sowieso total lächerlich.“ Womit ich nicht das Begehren der Kundin kritisieren wollte, sondern das Geschäftsgebaren der Supermarktkette, mit dem angeblich symbolischen Wert von einem Cent pro Hemdchenbeutel ihre Kundschaft zum Verzicht auf den Gebrauch von Plastikprodukten zu erziehen.

Mein Kommentar schien der Kassiererin den Rest gegeben zu haben, denn sie reichte der Kundin den Beutel zurück, jedoch mit der Bemerkung, einen Moment warten zu müssen, weil sie den nächsten Einkauf – das war meiner, mit dem sie bereits begonnen hatte – erst zu Ende bringen müsse, um die Geldschublade öffnen zu können. Ich erbot mich, der Kundin den Cent vorzulegen und ihn mit meinem Einkauf verrechnen zu lassen, um ihr die Wartezeit zu ersparen. Schon hatte ich mein Portemonnaie gezückt und den Roten herausgekramt, da kam der ernüchternde Einwand: „Das ist technisch leider nicht möglich.“

Manchmal überfallen das menschliche Gehirn die absonderlichsten Assoziationen, und deshalb wunderte ich mich nicht darüber, dass mir in diesem Augenblick die Übertragungsbilder von der ersten Mondlandung in den Kopf schossen, die ich vor fast genau zweiundfünfzig Jahren im Fernsehen gesehen hatte.

„Achtundzwanzig Euro und …“

Den Rest überhörte ich, zog zwei Scheine aus meinem Portemonnaie und bezahlte meinen Einkauf. Inzwischen war der Kundschaft über Lautsprecher versichert worden, man dürfe ab sofort auch an der Nachbarkasse auflegen, eine Kollegin sei bereits dorthin unterwegs. In der Schlange hinter mir, die mittlerweile einer Anakonda glich, begann augenblicklich ein hektisches Ausscheren und Geschiebe.

Kafka hätte an dem Dramolett seine helle Freude gehabt. Charlie Chaplin ebenfalls. Der eine als scharfer Beobachter seiner Zeit, der andere als Visionär.

04.07.2021
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Alt 04.07.2021, 19:27   #2
männlich Ex-Ralfchen
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Ein sehr feiner Text aus dem Leben gegriffen.


ich habe das Glück immer dann zu der Kasse zu gehen wo ich am längsten dauert, abgesehen davon dass die wenigsten Personen vor mir sind.
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Alt 04.07.2021, 19:49   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Ralfchen Beitrag anzeigen
Ein sehr feiner Text aus dem Leben gegriffen.
Bedauerlicherweise keine Erfindung.

Wir haben es mit absurdem Theater zu tun, weil ein paar Leute mit dunkelgrünem Anstrich mal wieder ein am Reißbrett erkünsteltes Modell nicht zu Ende gedacht haben.

Die erste Frage, die ich in meinem Bekanntenkreis gehört habe, lautete: "Wieso schafft man die Beutel nicht ganz ab und nimmt lieber Papiertüten?"

Das ist natürlich auch nicht sonderlich weit gedacht. Wenn man kleine Teile (z.B. Erdbeeren, Aprikosen usw.) lose kauft, müsste man die Tüten oben zuknüllen, damit nichts herauskullern kann. Die Kassierer müssten sie wieder öffnen und reinschauen, was drin ist. Zu umständlich und zeitaufwendig. Außerdem kostet Papier wahrscheinlich auch mehr als die Hemdchenbeutel.

Also verzichten viele Kunden darauf und kaufen die Ware lose ein. Das muss man sich mal an der Kasse anschauen, wie dann z.B. zwei oder drei Pfund Tomaten auf der Waage aufgeschichtet werden müssen, damit alle draufpassen. Dann kullern welche runter, also einfangen und wieder draufsetzen. Funktioniert nicht - also in zwei Schichten wiegen. Dann einzeln rüberschieben und warten, bis die Kundschaft die Dinger eingesammelt und in den Wagen gelegt hat.

Viele Kunden machen das trotzdem so, weil sie diese 1-Cent-Geschichte trotz des Minimalbetrags als Gängelei und als ungerecht empfinden. Kundschaft will nicht wie Kleinkinder erzogen werden. Außerdem stellen sich bestimmt viele die Frage, ob so eine Maßnahme überhaupt sein darf, denn bisher wurden die Kosten für die Beutelchen und die Halterungen dafür ja auch schon auf die Ware umgelegt - der Kunde hat sie also bereits bezahlt. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass die Supermarktketten sie auf ihre Kappe genommen haben.

Es stimmt auch nicht, dass die Beutelchen schnell kaputtgehen und nicht zum mehrmaligen Gebrauch taugen. Und das größte Problem beim Plastikverbrauch sind sie auch nicht.

Im Grunde gibt es dafür nur ein Wort: bekloppt.
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Alt 04.07.2021, 20:54   #4
männlich Ex-Ralfchen
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wir haben jetzt die Beutelchen aus Biokunststoff und ich verwende die weiter für das aufheben vom Obst im biofreshsafe vom Liebherr und dNN für die Entsorgung von fett, dass ich immer in den Abfall - also trennmüll gebe...aber ist natürlich richtig wie du es betrachtest. da stimme ich voll überein
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Alt 04.07.2021, 21:10   #5
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Ich gehe folgendermaßen vor bei dem Discounter, der den Cent zu erheben geruht: den Beutel mit Obst (oder Gemüse) lege ich immer als Letztes auf das Band. Dann sage ich sofort beim Beginn des Kassiervorgangs, dass ich den Plasikbeutel mitgebracht hätte. Damit habe ich die letzten Male immer den einen Cent erspart. Wobei mir im Endeffekt, ehrlich, die Plastikersparnis sogar wichtiger ist als dieser eine Cent.
Aber es stimmt schon: beklopptes Vorgehen des Discounters. Personal hier außerdem im Allgemeinen unfreundlich und kaum ansprechbar...
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Alt 04.07.2021, 21:23   #6
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von Kurt Beitrag anzeigen
Aber es stimmt schon: beklopptes Vorgehen des Discounters. Personal hier außerdem im Allgemeinen unfreundlich und kaum ansprechbar...
Natürlich ist es bekloppt. Die Leute, die diese Gängelei nervt, kaufen eben nichts mehr lose, sondern gleich das verpackte Zeug. Ergebnis: noch mehr Plastikmüll. Übrigens ist der Verbrauch der Obstbeutelchen enorm angestiegen.

Das Personal kannst du vergessen. Diese Leute können nix für solche Regelungen und sind deshalb die falschen Ansprechpartner. Die stehen zwischen den Linien von Bossen und Kunden und sind von solchen Theman nur genervt.
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Alt 04.07.2021, 21:43   #7
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Zitat:
Zitat von Ilka-Maria Beitrag anzeigen

Das Personal kannst du vergessen. Diese Leute können nix für solche Regelungen und sind deshalb die falschen Ansprechpartner. Die stehen zwischen den Linien von Bossen und Kunden und sind von solchen Theman nur genervt.
Stimmt natürlich. Ich nehme mir von der Rolle immer 10-15 Stück von diesen Beutelchen mit. Ich bin mit allen Verkäuferinnen beziehungsweise den Kassendamen per du und gebe jedes Mal fünf Euro für die Personalkassa. Ich kann mir so viele Plastik Säckchen gar nicht nehmen. Wobei ich sagen muss ich werde extrem verwöhnt und habe jetzt zwei Kisten DOM PERIGNOT Um 125 € pro Flasche bekommen. Das ist sensationell
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Alt 05.07.2021, 00:45   #8
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Es gibt doch auch diese weißen Netzbeutel.
Das absurde an der Sache ist ja eher das ganze Plastikspielzeug für Kinder, was keiner anprangert. Das ist etwas wo man mit dem Verbot sofort Unmengen an Plastik sparen könnte, die wirklich keiner braucht. Oder die ganzen Motorverkleidungen die es neuerdings gibt, mit denen man nirgends rankommt.
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Alt 05.07.2021, 06:41   #9
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Zitat:
Zitat von dr.Frankenstein Beitrag anzeigen
Es gibt doch auch diese weißen Netzbeutel.
Das absurde an der Sache ist ja eher das ganze Plastikspielzeug für Kinder, was keiner anprangert. Das ist etwas wo man mit dem Verbot sofort Unmengen an Plastik sparen könnte, die wirklich keiner braucht. Oder die ganzen Motorverkleidungen die es neuerdings gibt, mit denen man nirgends rankommt.
Das kann man nicht vergleichen, Frankie. Kein Marktteilnehmer wäre so verrückt, Menschen mit dem Entzug von Produkten erziehen zu wollen, die Umsatz bringen. Es sind die kleinen Dinge, auf die der Kunde verzichten soll, weil ihr Verschwinden den Unternehmen Kosten spart . So lässt man z.B. seit einiger Zeit die transparenten Plastikdeckel weg, mit denen man früher die großen Yoghurt-Becher oder die kleinen Schmand-Becherchen nach dem Öffnen wiederverschließen konnte. Jetzt muss der Verbraucher den Inhalt umfüllen oder die Becher mit Alufolie abdecken. In Wahrheit geht es nicht um die Schonung der Umwelt, sondern um einen Vorwand, die Herstellungs- und Vertriebsaufwand drücken zu können.

Alternativprodukte herzustellen und anzubieten ist deshalb auch nur dann attraktiv, wenn sich damit neue Märkte erschließen und Umsätze erzielen lassen. Billiger und sauberer wird dadurch nichts.
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Alt 05.07.2021, 09:41   #10
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Also die Ferrero Methode.
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