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Alt 21.07.2006, 12:44   #1
S. Jeschke
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 4


Standard Demenz (Leseprobe aus gleichnamigem Roman)

Nun,
nach all den Jahren,
erwische ich mich dabei,
dass ich
aus dem Augenwinkel
den Ohrensessel betrachte,
oder
dass ich, auf der Lichtung
sitzend,
schweigend nach oben schaue;
doch da ist nur der Wind,
der meine Wangen streift,
sanft meine Hände streichelt,
und
die Stille,
die mir heute
lauter widerfährt
als je zuvor

Schon den ganzen Morgen lang hatte er ein eigenartiges Gefühl tief in der Magengegend: drückend, beklemmend, dunkel. Unruhe und Wachsamkeit begleiteten ihn durch seine routinemäßigen Arbeitsgänge; aber es geschah nichts. Es war ein langer Tag, grau und trüb trotz der Vielzahl bunter Baumkronen, umherwehender Blätter und des Geruchs der Tannen nahe dem Waldrand. Alles schien normal zu sein: im Büro nur die üblichen Vorkommnisse.

Er saß bei geöffnetem Fenster am Schreibtisch, lauschte dem Wind, der leise raunte, dem Rascheln der Blätter und den Rufen der Vögel, während immer wieder einmal das Telefon klingelte. Sich über einen Stapel Formulare beugend, griff er zum Hörer, immer und immer wieder, bis zum Feierabend. Dann, als er das Büro schon fast verlassen hatte, drehte er sich noch einmal um und blickte erleichtert auf die leeren Ablagen und das bezwungene Aktenchaos. Froh, einen weiteren Arbeitstag hinter sich gebracht zu haben, schloss er die Tür.
Dennoch zogen die alten Nebel auf bei seinen Gedanken an den bevorstehenden Abend und die Nacht. Dichte, schwere Schwaden, die einen auf den Boden drücken, mit dem Gesicht nach unten.
Er schlenderte noch eine Weile am Waldrand entlang, vorbei an hohen, starken Tannen, die aussahen wie Riesen, vorüber an dem plätschernden Bach, der spielend über spitze, kantige Steine und abgebrochene Äste hinwegeilte. An einer kleinen Lichtung ließ er sich unter einem alten, kräftigen Baum nieder und streckte die Beine weit von sich. Sein Rücken lehnte am Stamm, der von tiefen Rissen durchzogen war, seine Arme ruhten verschränkt hinter dem Kopf, während er nach oben schaute. Licht warf Lanzen, tanzte vor ihm her und zauberte märchenhaftes Funkeln.
Und so, in Gedanken versunken, wohlig der Stille lauschend, lag er da, bis ihn erneut die Unruhe packte, ihn zum Aufbruch drängte.
Als zuhause die Tür mit einem lauten Knall ins Schloss fiel, fuhr er zusammen.
Alles wirkte fremd, obgleich es beim Alten war. Unsicher betrat er den Salon; die Vorhänge waren zugezogen, wie so oft. Sein Blick schweifte hinüber zum Ohrensessel am Kamin, ihrem Lieblingsplatz.
Da lag sie, friedlich schlummernd in ihre Decke gewickelt, die sie so oft schon geflickt hatte. Die Lesebrille und ein altes, abgegriffenes Buch lagen in ihrem Schoß. Auf dem kleinen Beistelltisch standen noch die Medikamente vom Morgen und der Tee. Der Jasminduft lag noch immer in der Luft. Er kniete sich neben sie, um sie sanft zu wecken, und blieb mit seinen Augen an ihren Händen hängen. Stolze, kräftige und doch weiche Hände, die so oft schon die seinen gehalten, ihm Mut und Trost zugesprochen hatten. Sie wirkte so ruhig, zufrieden mit sich und der Welt; ein Lächeln zierte ihren Lippen. Vorsichtig nahm er ihr Gesicht in seine Hände, spürte die Kälte nicht gleich. Da entdeckte er die alten Fotos auf der Armlehne. Das rote Band, das sie zusammenhalten sollte, lag glattgestrichen daneben. Längst vergessene Bilder aus seiner Kindheit zeigten einen fröhlichen Jungen, der stets nur Flausen im Kopf hatte. Er musste daran denken, was er ihr damals alles aufgebürdet und wie oft er sie zum Weinen gebracht hatte. Ein Zerrbild der Vergangenheit zeigte die Lichtung: Sie und er lagen unter dem alten Baum, Arm in Arm, mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Damals waren ihre Nebel nur feine Schleier gewesen und er ihr Sonnenschein. Aber im Laufe der Jahre wurden sie undurchlässiger und erstreckten sich schließlich auch auf ihn: Vor zwei Jahren hatte sie rapide begonnen zu vergessen, und bald schon war er für sie nur noch ein Fremder, ein Eindringling, der ihre kleine, gebrechliche Welt gefährdete. Nicht dass sie eine Gefährdung für sich selbst gewesen wäre, nein. Sie hörte einfach nur auf, sich zu erinnern. Menschen, die sie geliebt, Orte, die sie besucht hatte, und Dinge, mit denen sie Persönliches verband, wurden einfach Stück für Stück getilgt. So als sei ihr Gedächtnis ein Fotoalbum, aus dem man nach und nach die Seiten entfernt. Weiß der Himmel, wie oft er ihr die Alben gezeigt hatte, in der Hoffnung, sie möge sich entsinnen. Doch irgendetwas in ihr hatte beschlossen, das Erlebte nach und nach auszulöschen, und dazu gehörte auch er. Manchmal gelang es ihm, sie zu einem Spaziergang am Waldrand zu überreden, manchmal schafften sie es sogar bis zur Lichtung, aber der Anblick entlockte ihr keinerlei Gefühlsregung. Er wartete immer auf ein Zeichen von ihr, eine Berührung, ein Lächeln, eine Zurechtweisung, ein Fluchen: eben das, was Mütter so tun. Lebte er mit einem Geist zusammen, der ihn zwar wahrnahm, aber ihn nur ertrug, so wie man einen streunenden Hund duldet, der einem um die Beine streift? Irgendwo in ihrem Labyrinth, tief drinnen, war sie aber noch die alte: Kleine Marotten verrieten sie, etwa das nervöse Zupfen an ihrem linken Ohr, wenn sie in Gedanken versunken ein Buch las. Nun aber war sie für immer von ihm gegangen. Nach all der Trauer, der Bewusstlosigkeit und der Jagd hatte sie ihn ein zweites Mal verlassen. Und nichts sollte ihm bleiben außer der schwülen Erinnerung und den Nebeln.


22.10.2003 - Patient Berentz, M. #2-07

Dr. A. Elters

Hin und wieder fällt es mir schwer, hier zu arbeiten!

Wie sehr er sie vermisst, sie und ihre Fantasiegebilde! Ihre bloße Anwesenheit würde ihn erfüllen, ihn vielleicht aus seinen Nebeln, herausführen, wenigstens für ein paar Augenblicke. Manchmal erzählt er wirres Zeug: von Riesen, schemenhaften Gestalten, die im Licht um ihn herumtanzten. Und dann sieht er wieder ganz klar. Doch die Abstände zwischen seinen Grauzonen und den hellen Momenten werden kürzer, und die Phasen, in denen er vertraute Menschen mit Fremden vermischt, werden intensiver.

Wenn es zuviel wird, lehne ich mich zurück in meinen großen, alten Ohrensessel, lege meine Lesebrille ab, schaue aus dem Fenster und erfreue mich am Duft der Tannen nahe dem Waldrand. In tiefer Sehnsucht nach dem baldigen Feierabend lese ich einige Notizen; ab und zu stoße ich dabei auf Zeilen, die ich inzwischen auswendig kann, und manchmal erinnern sie mich schmerzlich an Verblichenes. So wie diese:


Nun,
nach all den Jahren,
erwische ich mich dabei,
dass ich
aus dem Augenwinkel
den Ohrensessel betrachte,
oder
dass ich, auf der Lichtung
sitzend,
schweigend nach oben schaue;
doch da ist nur der Wind,
der meine Wangen streift,
sanft meine Hände streichelt,
und
die Stille,
die mir heute
lauter widerfährt
als je zuvor

Alfred, mein Freund, was ist nur aus uns geworden?
S. Jeschke ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.07.2006, 12:54   #2
Struppigel
 
Dabei seit: 05/2006
Beiträge: 1.007


Dies Beschreibung der demenzkranken Mutter hat mich begeistert. Nur kann mir gar nicht vorstellen, was da noch kommen soll. Und die beiden Teile wirken auf mich zusammenhanglos - was hoffentlich nicht so ist, wenn man den ganzen Roman liest.
Kannst Du eigentlich eine inhaltliche Zusammenfassung bieten? Das würde mich sehr interessieren.

Noch eine Kleinigkeit:

streunenden Hund duldet, der einem um die Beine streift?

Hier finde ich das Fragezeichen äußerst unpassend.
Struppigel ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.07.2006, 13:25   #3
S. Jeschke
 
Dabei seit: 07/2006
Beiträge: 4


Standard zu Struppigel

Lebte er mit einem Geist zusammen, der ihn zwar wahrnahm, aber ihn nur ertrug, so wie man einen streunenden Hund duldet, der einem um die Beine streift?

Diese Frage, die auch ein stilles Bekenntnis ist, stellt er sich in Gedanken. Demnach ist das mit dem? wohl ok.
Was die inhaltliche Zusammenfassung angeht da muss ich dich vorerst enttäuschen. Ich merke mir jedoch deine Anfrage und zu gegebener Zeit hörst du dies bezüglich von mir.

Was soll noch kommen?
Nun, der Text ist ein Auskopplung und sehr knappe Zusammenfassung der letzten beiden Kapitel.

Du wirst dich fragen; warum das Buch lesen wenn man den Ausgang der Story bereits kennt? Demenz ist durchweg dramatisch, halblaut und, nebenbei erwähnt, die Mutter hat fast schon eine Nebenrolle. In Demenz geht es nicht um die Demenz einer Person, sie ist nur eine netter und effizienter Nebeneffekt.
S. Jeschke ist offline   Mit Zitat antworten
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