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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt.

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Alt 19.05.2019, 16:38   #1
weiblich LittleBlueDagon
 
Dabei seit: 06/2018
Alter: 23
Beiträge: 80

Standard Ich bin ich

Ich bin Schülerin
Ich stehe Montags bis Freitags früh auf
Nehme meine Tasche, meinen Ordner und gelegentlich meine Sporttasche mit
Fahre jeden Morgen mit dem Bus zur Schule
Sehe jeden Morgen dieselben Menschen
Folge immer dem gleichen Stundenplan
Immer in den gleichen Räumen
Alles ist durch getaktet
Mein Kalender kennt jeden Test, jede Präsentation und jede Kursarbeit
Ich zähle die Sekunden bis zum Schulklingeln
Alles hat hier seine Ordnung
Etwas anderes kann ich nicht akzeptieren
So müssen in der letzten Stunde die Fenster geschlossen und die Stühle hochgestellt werden
So muss jedes Buch in der Bibliothek am Ende der Pause an seinem rechtmäßigen Platz stehen
Nur die Hausaufgaben, die müssen nicht erledigt sein
Und trotzdem
Stunde für Stunde
Tag für Tag
Woche für Woche
Monat für Monat
Jahr für Jahr
Bin ich doch dort um zu lernen
Nicht der Takt, nicht die Ordnung auch nicht die Freunde sind was mich dort halten
Es ist die kindliche Neugier, das Verlangen nach mehr Wissen
Süchtig nach der Erkenntnis
Wie eine verbotene Frucht nehme ich Bissen für Bissen
Kann es nicht zurücknehmen, nicht vergessen
Möchte für immer dort bleiben, niemals fortgehen
Doch werden sich die Tore des Paradieses bald hinter mir schließen
Aber ich sage euch: „Ich komme wieder!“

Ich bin Künstlerin
Berge von weißen Blättern vor mir
Jedes leerer als das andere
Ich halte einen Bleistift, einen von Tausenden
Eine Kerze neben mir
sie brennt, flackert, tanzt
Die Miene bewegt sich im selben Takt über das Papier
Verwandle die leeren Blätter in Spiegel meiner Selbst
Keiner sieht mich
bin in meinem Zimmer
vergesse wo meine Tür hinführt
als würde ich durchs Weltall schweben
Bin schwerelos
Unberührt
froh
Es ist still
Nur die sanfte Musik aus den Lautsprechern füllt den Raum
Spüre mein Herz schlagen
Ein kindliches Lächeln auf meinem Gesicht
Als ich den Stift zum letzten Mal anhebe falle ich auf den Boden der Tatsachen zurück:
Mein Rücken schmerzt
Die Augen brennen
Mein Handgelenk beschwert sich
Und die vorher noch so sanfte Musik dröhnt mir nun im Schädel
Ich schaue auf die Uhr
Waren es wirklich nur zwanzig Minuten gewesen?
Ich öffne das Fenster
Schließe die Augen und lasse mich von der frischen Luft erquicken
Doch als ich wieder auf das Blatt schaue
Entdecke ich eine groteske Gestalt:
weder Mensch, noch Tier, noch sonst irgendwas
Substanzlos, abschreckend
ein Schauer läuft mir über den Rücken
Ich nehme es, zerknülle es und werfe es fort
Nur Sekunden dauert es bis wieder ein neues, noch weiseres Blatt vor mir liegt
und das Spiel beginnt von vorn

Ich bin Zwilling
Eine große Schwester
Muss die Pflichten tragen
Mir sind diese zwei Minuten die Verantwortung wert
Sie sind wichtig, gehören nur mir, möchte sie nicht teilen
Nicht die auch noch
Nichts ist wirklich mir gewesen
Das einzige Possessivpronomen im Wortschatz war „uns“
Vom Spielzeug über Stifte bis hin zu Klamotten
Nichts war mir, nur „uns“
In der Schule waren wir gefährlich, gefährlich leicht zu verwechseln
Täglich wurde der falsche Name gerufen
Bis sich auf einmal immer zwei Köpfe gleichzeitig drehten
Diese Einheit aus zwei Schwestern zerbrach
Jeder wollte sich selbst sein und nicht „wir“, nicht ein Zwilling
Niemand hatte die Absicht eine Mauer zu bauen
bis sie auf einmal dort stand
Eingeteilt in Ost und West
Aus einem Zimmer wurden zwei
Freunde des Anderen waren nicht mehr die eigenen
Der Anblick der Schwester, wie ein Blick in den Spiegel
Wer ist echt, wer nur ein Trick des Lichts
Die Pubertät schleicht vorbei
Und wie Schuppen fällt es von den Augen
Das Geschenk wird erkennbar
Eine solche Person hat nicht jeder
Wir fallen uns in die Arme sind versöhnt, bleiben aber Menschen
machen Fehler, sind sauer, verzeihen, wie ein altes Ehepaar
Auf einmal wieder unzertrennlich
Die Eine ohne die Andere nicht denkbar
Will nicht mehr ohne meine kleine Schwester

Ich bin Mensch
Bin aus Fleisch und Blut
bin zerbrechlich
Besitze Emotionen
Auch die, zerbrechlich
Bin eine von 80 Millionen, von 7,5 Milliarden
In meinem Kopf so viele Fragen, so viele Zweifel
Wie kann ein Mensch sich bei so vielen Menschen doch so alleine fühlen?
Schuld sind nicht die anderen, es liegt an mir
Warum vertraust du auch anderen Menschen
Wenn du es nicht selbst machst macht es keiner
Wer vertraut, wer sich auf andere verlässt ist schwach, kann es selbst nicht
So sage ich es mir zumindest immer wieder
Wenn du Schwäche zeigst nutzt es nur jemand aus
Verputze deine Ecken und Kanten und lass niemand darunter sehen
Lass alles wie Wasser an dir abperlen
Dass du nirgendwo mehr anecken kannst
Für alle da mit einem Lächeln auf den Lippen
Ja, das ist es, was ich mir selbst einbläue
Und doch genieße ich Tag für Tag
Sperre die Zweifel weg
lasse das Leben an mir vorbeiziehen
Vertraue, liebe, falle und zerfalle immer und immer wieder
Es ist ein schrecklich schöner Kreis
der weder Anfang noch Ende besitzt
genieße mein Mensch-seien
Sauge alle Eindrücke um mich herum ein
Bis ein ehrliches, fast schon zu breites Lächeln auf meinen Lippen ist
Und jeder, der mich sieht wird angesteckt von meiner guten Laune
Kann nicht anders als mit mir zu Lächeln
Ich wünschte es ging immer
Nur wenn der Schmerz zu groß, die Freuden zu klein sind, kann ich das nicht
Mein Gesicht entspannt zu einem neutral-traurigen Ausdruck
Bis es vorübergeht und mein Lächeln keine Tonnen mehr wiegt
Bis sich meine Gedanken wieder beruhigt und die Schmerzen abgeklungen sind
Ich lache
Ich weine
Ich genieße das Leben
Ich denke an mein Ende
Ich vertraue
Ich behalte vieles für mich
Ich fliege
Ich falle
Ich wachse
Ich zerfalle
Ich bessere mich
Ich mache Fehler, doch
Ich bin ich

- LittleBlueDragon
LittleBlueDagon ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.05.2019, 11:47   #2
männlich Gylon
 
Dabei seit: 07/2014
Beiträge: 4.269

Liebe LittleBlueDagon,
ein Text, in dem viel drin steckt aber auf mich etwas sprunghaft wirkt. Von der Schülerin zur Künstlerin, dann zum Zwilling und zu Dir als Mensch zurück. Trotzdem hast du mich als Leser gut unterhalten und lässt mich nachdenklich zurück. Sehr gerne gelesen!

In deinem Nick fehlt wohl versehentlich ein r, lasse es doch von der Administration korrigieren.

Liebe Grüße Gylon
Gylon ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 26.05.2019, 14:15   #3
männlich Ex-Ralfchen
abgemeldet
 
Dabei seit: 10/2009
Alter: 77
Beiträge: 17.302

hallo dagon*) -

mag sein es fehlt kein r...? dieser text ist eindeutig in der falschen rubrik. es ist weder lyrik noch prosa sondern eher ein tagebucheintrag gemischt mit einer winzigen autobiografie.

vlg
r


*)
https://lovecraft.fandom.com/wiki/Dagon
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 20.07.2019, 20:35   #4
weiblich LittleBlueDagon
 
Dabei seit: 06/2018
Alter: 23
Beiträge: 80

Zitat:
Zitat von Gylon Beitrag anzeigen
Liebe LittleBlueDagon,
ein Text, in dem viel drin steckt aber auf mich etwas sprunghaft wirkt. Von der Schülerin zur Künstlerin, dann zum Zwilling und zu Dir als Mensch zurück. Trotzdem hast du mich als Leser gut unterhalten und lässt mich nachdenklich zurück. Sehr gerne gelesen!

In deinem Nick fehlt wohl versehentlich ein r, lasse es doch von der Administration korrigieren.

Liebe Grüße Gylon
Danke für das positive Feedback!
Ich wollte mit dem Text ein bisschen Identitätssuche betreiben und bin dann auf diese vier Themen gekommen. Ich hatte mir überlegt ob ich die Teile jeweils als einzelnes Thema hochladen sollte, aber da ich den Text schon einmal in seiner Gesammtheit vorgetragen hatte, habe ich mich dagegen entschieden.
Tatsächlich fehlt in meinem Benutzernamen ein r, da zum Zeitpunkt des Erstellens bereits ein gleichnamiger Nutzer existierte.
LittleBlueDagon ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 21.07.2019, 00:38   #5
männlich Ex-Ralfchen
abgemeldet
 
Dabei seit: 10/2009
Alter: 77
Beiträge: 17.302

Zitat:
Bis es vorübergeht und mein Lächeln keine Tonnen mehr wiegt
Bis sich meine Gedanken wieder beruhigt und die Schmerzen abgeklungen sind
der beste satz...als meine baby-geliebte vor ein paar tagen zu mir kam und ich sie anlächelte fiel sie zu boden.

"was ist jessi???"

fragte ich sie.

"Dein Lächeln wiegt ca 1,5 Tonne, das hat mich niedergelegt."

"Ok - dann trage ich dich gleich ins bett - nur: ich hab noch immer die nervenentzündung in der linken schulter, also bitte krabbel selbser rüber."
Ex-Ralfchen ist offline   Mit Zitat antworten
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