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Gefühlte Momente und Emotionen Gedichte über Stimmungen und was euch innerlich bewegt.

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Alt 22.08.2016, 23:23   #1
männlich Heinz
 
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Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879

Standard Unter Tage (Begriffserläuterungen am Ende)

Mit dem Hobel, der an gespannt vibrierender Kette
Kohle zahnt, im Streb um die Wette kriechend,
verbissen des Pickhammers Spitze
ins Hangende treibend, wegen der Hitze
fluchend und schwitzend im Lampenlicht
malochend: Zuckerschlecken ists wahrlich nicht.

Lichtsignal: Halt!, der Panzer ruckt,
steht still - Futtsack! Es zuckt
flackernd die Lampe mehrmals Befehle.
der Steiger hetzt vorbei ,
aus heisrer Kehle brüllend,
wutverzerrt die Miene,
ansonsten: Pause im Flöz Karoline.

Zeit für ne Prise,
ich schnupfe, niese
die Nase staubfrei.
Blick auf die Uhr:
Zwanzig nach drei;
eine halbe Stunde nur
erst vorbei.
Noch fünfe rabotti,
dann ist die Schicht
geschafft,
Klamotten zusammengerafft,
Glück Auf! Hinauf zum Licht.

Immer noch Futtsack, weiter oben Rumoren,
von unten, vor Ort, des Bohrhammers lärmendes Bohren.
Ich atme jetzt ruhiger, erblicke,
von Kohlengrus ganz eingestaubt,
am Liegenden Tonschieferstücke.
Hab eines davon aufgeklaubt,
vom Staub befreit: Mit neuer Verwunderung
seh ich millionenjahralte Musterung.

Im sumpfigen Grunde die Wurzeln verkrallt
grünten einst Bäume, strebten zum Licht,
windgefächelt, regentrinkend,
wuchsen schnell und wurden alt.
Entwurzelt und fallend versinkend
starben sie. Für immer? Ich glaub es nicht.
Alles ertrank, erstickte, moderte, verkohlte,
jahrtausendalter Wald, von Schlamm und Sand
bedeckt - wer weiß noch, wo er stand -
bevor ich die steinernen Siegel nach Übertage holte.

Gepresst, gefaltet, verworfen, zu Kohle versteinten
die Wälder, weil Wärme der Sonne und irdische Kraft
im dauernden Wechsel zu einem Werk sich vereinten.
Ein ewiges Gesetz, ständig gebärend-verderbend, schafft
unentwegt, keines der Werke geht gänzlich verloren.
So wurden dem Bunde der Sonne und Erde
nach uraltem Gottwort: Es werde! -
aus fruchtbarsten Schoß Schwarze Diamanten geboren

Im Streb beginnen
die Lampen Signale
zu flackern.
Zuende das Sinnen,
Licht zuckt
zum zweiten Male:
Weiter ackern!

Mit Muskelkraft und neuem Eisens Spitze
wird weitermalocht trotz Staub und Hitze.
Nicht mehr denken an Sonne und Licht:
Kohle muss kommen - bis zum Ende der Schicht!

Ein Gedanke blieb zurück:
Es wäre doch ein großes Glück,
wenn unsre Taten, unser Sein,
prägend drückte Siegel ein
in eine Seele nur - ihr Götter! -
wie Schachtelhalm und Bärlapps Blätter
unvergänglich Zeugnis geben
von ihrem längst verloschnen Leben,
wär mir die Ewigkeit gewonnen,
erreicht die Sterne, die Sonnen,
zu denen stolpernd ich strebe
solang ich liebe, solang ich lebe.


Begriffserläuterungen
Hobel = Kohleabbaugerät
Streb = Ort der Kohlegewinnung
Hangende = bergmännisch oben (die Decke sozusagen)
Liegende = unten (der Boden)
Panzer = stählernes Fördermittel für die Kohle
Futtsack = Panne, Betriebsstörung
Flöz = Kohlelagerstätte
Karoline = Die Flöze bekommen zwecks Unterscheidung Namen
vor Ort = Vorderste Arbeitsstelle in der "Strecke" (umgangssprachlich Sollen)
Schwarze Diamanten = Steinkohle
Lampensignale = Verständigungsmittel (1 x = Halt, 2 x = vorwärts, 3 x = rückwärts)
Schachtelhalm und Bärlapp = Baumarten vor 80 bis 300 Mill. Jahren (Karbonzeit)
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.08.2016, 00:27   #2
männlich Nicholas Urfe
 
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Dabei seit: 08/2016
Beiträge: 14

Hallo Heinz,

als Neuling hier im Forum, so dachte ich mir nach einigen Augenblicken der Beobachtung, wage ich einige kritische Worte an den zu richten, der sie selbst bei anderen nicht scheut. Bei ihm, so mein Gedanke, sind sie gut aufgehoben.

Das Werk sucht nach meinem Leseempfinden eine Synthese zwischen dem Großen und dem Kleinen, zwischen dem Sakralen und dem Profanen, zwischen Natur und Naturbeherrschung. So kommen ja diese beinahe, (ich betone leider: beinahe) fließenden Übergänge zwischen der Sprache des Minenarbeiters, seinem Jargon, der sichtlich einem Arbeitermilieu entstammt, und im Gegensatz dazu der schwungvollen, vom Pathos erfüllten Naturbeschreibung, die zuweilen ins Mystische abdriftet, ja das Mystische sucht.

Dieses Gedicht beschreibt eine Welt, es hat einen Mikro- und Makrokosmos und lebt von seiner Ambivalenz der Bilder und der Sprache, doch die Grenzen sind noch zu starr, u.a. durch Strophen, abgegrenzt. Der Leser erkennt - ob gewollt oder ungewollt - nicht nur einen inhaltlichen, sondern auch einen formalen Dualismus, der das Werk durchzieht, und genau aus diesem Grund scheint mir die Synthese nicht zu gelingen. Der Minenarbeiter bleibt bei sich und seinem Schürfen, auch wenn die Naturbeschreibungen seinen Gedanken entspringen wollen, aber irgendwie nimmt man das dem Autor nicht ab.

Darum glaube ich, was dem Gedicht helfen würde, wäre ein stärkeres Ineinanderübergehen der Gegensatzpole. Denn diese Natur als solches gibt es nicht. Sie war schon immer eine Fantasie der kulturschaffenden und somit naturbeherrschenden Völker. Warum sollte sich die sperrige Mundart des Minenarbeiters nicht in die Naturbeschreibung einschleichen dürfen?

Ich gebe zu, meine Kritik setzt sehr grundlegend an, und es ist gut möglich, dass du all die geäußerten Gedanken lieber verwerfen möchtest. Aber ich hoffe, dass du ihr doch etwas entlocken kannst, worüber man gemeinsam nachdenken könnte.

Lieben Gruß

Nicholas Urfe
Nicholas Urfe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 23.08.2016, 08:13   #3
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.879

Standard Unter Tage

Hallo, Nicholas
ich freue mich, dass ein offenbar neues Mitglied unserer Foren"gemeinde" sich gleich mal ein Werklein von mir vornimmt. Ich werde mich heute Nachmittag an die Antwort machen, weil ich jetzt erst einmal zur Arbeit gehe.
Bis dann!
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.08.2016, 12:39   #4
weiblich C.Alvarez
 
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Ort: Mauritius, stella clavisque maris indici
Beiträge: 4.889

Hallo Heinz,

ich hatte ja schon mal bemerkt, dass ich deine epischen Gedichte sehr mag, du hast mir den Wunsch nach mehr davon erfüllt und ich komme aus dem Staunen über deine dichterische Kompetenz und Begabung gar nicht mehr raus. Ich habe mir dieses mal ausgesucht, mein Kommentar schliesst aber auch andere ein, die ich nicht einzeln kommentiere, weil, was ich zu sagen habe, eigentlich für alle gilt.
Deine Texte erinnern mich in ihrer Sprache, in ihrer detailreichen Komplexität an das Gilgamesch Epos. Wobei dieses wesentlich schwerer zu lesen ist, als deine Texte. Wer schleppt schon gerne Tontafeln und plagt sich mit sumerisch und akkadisch herum? Aber es lohnt sich in jedem Fall. Genau wie es sich auch lohnt, deine Texte zu lesen. Du hast ein grosses Einfühlungsvermögen, kannst Emotionen nachempfinden, sie präzise schildern und benennen, schreibst weder pathetisch noch theatralisch sondern immer authentisch. Die Bilder, die deine Texte malen besitzen eine Klarheit die aus ihrer schlichten Eleganz resultiert. Gleichzeitig verfügst du auch über einen feinsinnigen Humor, der mir sehr gefällt.
Bisher bedeutete Poetry für mich meistens "Disgusting People With Disgusting Motives", durch dich hat sich dieses Bild gewandelt.

Corazon
C.Alvarez ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.08.2016, 15:30   #5
männlich Heinz
 
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Ort: Reimershagen in Mecklenburg-Vorpommern, Nähe Güstrow
Beiträge: 7.879

Liebe Corazon,
ich bin erst einmal platt. Nach tiefem Durchatmen stelle ich fest - nee, so platt bin ich gar nicht, weil ich es immer "gewusst" habe, dass es noch eine Facette in Deinem Wesen gibt, von der andere nichts ahnen. Das Werklein, das Du Dir ausgesucht hast, gehört nun wahrlich nicht zu meinen Glanzleistungen, gelten lasse ich aber das "authentisch". Ich war tatsächlich mal Bergmann, habe als Berglehrling begonnen, war Knappe (im nicht bergmännischen Bereich entspricht das dem Gesellen), Hauer ( = Meister) und Schießmeister (der schießt nicht, sondern ist der Sprengmeister unter Tage). D.h., ich weiß, wovon ich in dem "Unter Tage" rede.
Dein Lob ist überschwänglich - aber der Gilgamesch ist doch eine ganz andere Hausnummer. (Die Mühe mit den Tontafeln habe ich mir erspart und das Gilgamesch-Epos in Form eines Taschenbüchleins erworben. Das war Gott sei Dank ins Deutsche übertragen; sumerisch beherrsche ich leider nicht. Wenn Sir meine "epischen" Sachen gefallen, werde ich Dir mein "Achantje" widmen - das ist aber noch im Entstehen und eigentlich soll es ein Hymnus für eine
Frau sein, die es fertig gebracht hat, mein Innerstes nach außen zu kehren.
Ich danke Dir sehr für Dein Lob!
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.08.2016, 15:31   #6
männlich Heinz
 
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Beiträge: 7.879

Hallo, Nicholas,
ich habe Dich nicht vergessen, bitte hab noch ein wenig Geduld.
Liebe Grüße,
Heinz
Heinz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.08.2016, 22:39   #7
Thing
R.I.P.
 
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Beiträge: 34.998

Standard Bevor mein Kommentar durch das Löschen des zweitn Threads ve

rloren geht...



Hallo Heinz,


ich würde das ganz und gar nicht als "Werklein" abtun, das wäre übertriebene Bescheidenheit, die ich ebensowenig mag wie ich Eigenlob mag.
Ein Text steht für sich und für den Autor.
Dieser Text hier ist Dir gut gelungen .ja, authentisch ist das allseits beliebte Wort für realistisch oder sachlich oder nah am Geschehen.
(Ich definiere authentisch anders).
Das Glossar ist nicht nur für Laien sehr hilfreich.
Ich weiß, wovon ich schreibe, denn ich war mir einem Bergmann verheiratet.
Er hat der Grube ein Bein geopfert und lebenslange Schmerzen in dem mehr schlecht als recht geretteten Bein zurückbehalten.
Aber er hatte noch Glück im Unglück gehabt.

Das passierte am Flöz, das weitaus lockerer hing als vermutet.



Deine "Story" ist sehr spannend, sie läßt den Leser nicht los bis zum Ende.
Und das ist mehr als man von vielen Stories, die von Handlung nur so strotzen, sagen kann.

Nun - überschwänglich will und kann ich nicht werden.
Mein Fazit: Großes Lob.

Freundlichen Gruß
von
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2017, 00:45   #8
männlich Heinz
 
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Hallo Thing,
beim "Blättern" in letztjährigen Gedichten stieß ich auf Deinen acht Monate alten Kommentar und sehe, dass ich darauf noch gar nicht geantwortet habe. Es ist wohltuend, eine sachliche Stellungnahme von Dir zu lesen und natürlich bin ich für ehrliches Lob durchaus empfänglich.
Merci!
Heinz
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Lesezeichen für Unter Tage (Begriffserläuterungen am Ende)



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