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Alt 11.10.2014, 08:53   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.103

Standard Im Vollzug

Der moderne Mensch versteht nichts mehr. Er ist unfähig geworden, sich einzufühlen, in jemanden hineinzuversetzen, etwas nach- oder mitzuempfinden, sich mitzufreuen oder mitzuleiden. Dem modernen Menschen fehlt es an der Vorstellungskraft, in die Gefühls- und Entscheidungswelt eines anderen Menschen einzutauchen. Er kann nur noch eins: „nachvollziehen“. Das allerdings tut er bei jeder Gelegenheit.

Da äußert zum Beispiel ein Mann: „Ich kann nachvollziehen, dass mein Nachbar seine Frau und seinen Hund regelmäßig prügelt.“ Das ist ein erschütterndes Eingeständnis der eigenen Machtfülle und Unbeherrschtheit, besagt dies doch nichts anderes, als dass der Sprecher dieses Satzes sich befähigt sieht, seinen Nachbarn nachzuahmen, also seine Frau oder sein Haustier zu malträtieren, wenn er nur übellaunig genug ist. (Komischerweise sagt aber niemand „vorvollziehen“, wenn er jemandem eine Handlungsweise vormacht oder erklärt oder ihm einen Tipp für sein Verhalten gibt – hier herrscht eindeutig Nachholbedarf, sonst ist für die Entwicklung der deutschen Sprache Gefahr in Verzug).

Aber auch ohne die Vorsilbe „nach-“ wird im deutschen Sprachgebrauch gerne „vollzogen“. So gehört es zu den Standardsätzen mancher für Vertragsabschlüsse zuständiger Bürokraten, in ihren Anschreiben darum zu bitten, „die Zweitschrift des unterschriftlich vollzogenen Vertrages zu meinen Händen zurückzusenden“. Schlicht darum zu bitten, „die Zweitschrift zu unterzeichnen …“ hört sich für Leute in gewichtigen Positionen eben zu schmalspurig an: Sie könnten für ungebildete Trottel gehalten werden.

Zum Ausgleich für diesen sublimen Sprachstil besinnen sich die Anwender der deutschen Sprache gerne dann auf markig-simple Ausdrucksformen, wenn es tatsächlich um einen „Vollzug“ geht, wie beispielsweise beim „Strafvollzug“. Ein solches Wort klingt natürlich über die Maßen amtlich und steril, fast schon inhuman, so dass man lieber zu volkstümlichen, leicht verständlichen Aussagen greift: „Der Gauner ist zu vier Jahren Knast verdonnert worden.“

Da soll mal einer sagen, unsere deutsche Sprache sei nicht reich an Ausdrucksformen und stilistischen Möglichkeiten!
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Alt 11.10.2014, 21:13   #2
gummibaum
 
Dabei seit: 04/2010
Alter: 70
Beiträge: 10.909

Ja, Sprache ist Spiegel und formt wiederum. Dieser "moderne Mensch" scheint mir egoistisch und seine Sprache glatt und verkümmert zu sein.

LG gummibaum
gummibaum ist offline   Mit Zitat antworten
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