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Alt 29.09.2012, 19:38   #1
weiblich Ilka-Maria
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Dabei seit: 07/2009
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Beiträge: 31.080

Standard KinoKino

Wer in Offenbach seine Kindheit und Jugend erlebte, konnte nicht anders, als filmverrückt zu werden.

In den fünfziger und sechziger Jahren gab es neun Kinosäle, fünf in der Innenstadt, zwei in direkter Nähe vom Hauptbahnhof, einen etwas abseits in der Bieberer Straße und einen weiteren im Starkenburgring gegenüber dem Stadtkrankenhaus. Für eine Stadt mit weniger als einhunderttausend Einwohner – Offenbach erreichte den Status einer Großstadt erst Anfang der siebziger Jahre – waren das ungewöhnlich viele Kinos.

Mein Vater brachte mir schon vor meiner Einschulung das Lesen bei, meine Mutter kaufte mir Bücher, aber daß ich für Kinofilme versaut wurde, ging eindeutig auf das Konto meiner Großmutter.

Es fing im Kleinkindalter mit Märchenfilmen an, die damals, als Fernsehgeräte noch Luxus waren, sich großer Beliebtheit erfreuten. Sie wurden im sogenannten „Matinée“ angeboten, also zwischen elf und zwölf Uhr, so daß die Kinderchen pünktlich zum Mittagessen wieder zu Hause waren. Darauf spezialisiert waren das „Gloria“ in der Großemarktstraße und das „Astor“ am Marktplatz. Manchmal kam Großmutter mit in die Vorstellung, manchmal lieferte sie mich aber einfach nur vor dem Kino ab und hieß mich, nach Filmende postwendend zu ihr zu kommen, sie wohnte ja gleich um die Ecke in der Frankfurter Straße. Unvergeßlich „Die Heinzelmännchen“, „Schneeweißchen und Rosenrot“ und vor allem „Rotkäppchen“, bei dem mir der Wolf gehörig Respekt abgenommen hatte.

Meine Mutter sah das nicht gerne, aber in puncto Kino hatte sie schnell jeglichen Einfluß über mich verloren: Ich war mit einer unheilbaren Krankheit infiziert und zu jeder Notlüge bereit, um mir Zeit und Geld für mein höchstes Vergnügen zu beschaffen. Wobei es schwieriger war, meine zweistündige Abwesenheit zu erklären, als das Geld für eine Kinokarte zu bekommen, denn dazu genügte es, meine Großmutter verträumt anzuseufzen und ihr zu bestätigen, wie hinreißend Sophia Loren in ihrer neuen Rolle als „Madame Sans-Gêne“ aussah. Schließlich ging Großmutter auch mit großer Vergnügungslust regelmäßig ins Kino.

Den größten Saal und die breiteste Leinwand hatte das „Universum“ in der Kaiserstraße. Hier wurden die Monumentalfilme wie „Ben Hur“, „Die zehn Gebote“, „Cleopatra“ und „Vom Winde verweht“ aufgeführt. Mein Geschichtslehrer hatte einen guten Draht zu dem Kinobesitzer, so daß wir klassenweise für den Sonderpreis von einer D-Mark pro Person diese Filme sehen durften (der reguläre Preis wäre drei D-Mark gewesen). Aber bei „Cleopatra“ – ausgerechnet, denn für diesen Film über eine völlig verdorbene, männerfressende Person musste sich mein Lehrer mächtig ins Zeug legen, weil unser Schuldirektor uns nicht reif genug für den Stoff fand – hatten wir uns dermaßen rüpelhaft im Kino aufgeführt, daß die Presse am nächsten Tag darüber berichtete und mein Lehrer bis auf die Knochen blamiert war. Damit war das Thema „Bonus für Schüler“ für alle Zeiten erledigt. Das Gebäude, in dem dieses Kino einst lebte, ist seit Jahren eine Ruine.

Das „Capitol“ in der Frankfurter Straße zeigte Filme, die man heute „Blockbusters“ nennt. Dazu gehörten Hitchcocks „Vögel“ und James-Bond-Filme wie „Goldfinger“. Aber ich hatte dort auch das eine oder andere Juwel gesehen, wie zum Beispiel eine Nibelungen-Verfilmung, die es inzwischen nur noch in einer italienischen Fassung auf DVD gibt und die ich erst nach sehr viel Recherche ausfindig machen konnte. Auch dieses Kino mußte bald seinen Platz räumen.

„Palast“ und „Gloria“: Dort sah man sich die populären Filme an, egal ob aus Deutschland oder Hollywood oder der übrigen Welt. Das konnte Edgar Wallace sein oder Karl May, aber auch Ingrid Bergman oder David Lean. Die schönsten Filme, an die ich mich erinnern kann, sind „El Cid“ und „Lawrence von Arabien“.
Im „Ariola“ am Stadtkrankenhaus sah ich „Pongo und Perdita“ (die Disney-Fassung, später sperrig umfirmiert in „101 Dalmatiner“.)

Die Kinos am Hauptbahnof hießen „Asta Nielsen“ und „Scala“. Die Säle wurden zu Supermärkten umgebaut. Ansprüche ändern sich.

Was mich tröstet, ist die Tatsache, daß Kino nicht totzuschlagen ist. Kino wird immer noch gemacht. Aber es kommt leider immer weniger Großes dabei heraus.

Bis auf die Sternchen, die doch noch aufblinken, wie bei einem mutigen Trintignant. Oder bei einer Perle wie "Ziemlich beste Freunde".
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.09.2012, 20:00   #2
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998

Ich habe Deinen Bericht verschlungen, teils hingerissen, teils neidisch.
Zum Glück kommt man ja heute an fast alle Filme ran.

Unvergeßlich blieben mir als Kino-Erlebnis

"Susie und Strolch"
"Der Knabe auf dem Delphin" (da war Sophia noch sehr jung und attraktiv)
"Der längste Tag" (mit Überlänge).

Das "versaut" is goldisch, Du Offebacher Mädsche!
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.09.2012, 20:46   #3
männlich Martand
gesperrt
 
Dabei seit: 04/2012
Beiträge: 745

Ich bin kein wirklicher Kinogänger, da:

Zitat:
Zitat von Ilka-Maria
Kino wird immer noch gemacht. Aber es kommt leider immer weniger Großes dabei heraus.
Gut geschrieben finde ich deinen Bericht - der durch die vielen Nennungen und Auflistungen der Filme vielleicht ein wenig überladen wirkt - trotzdem.

LG
M.
Martand ist offline   Mit Zitat antworten
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