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Alt 22.02.2013, 17:48   #1
weiblich Saphira
 
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Standard Eine perfekte Familie

Erst vor kurzem traf ich sie, die Familie gegenüber. Sie hatte ein schönes großes Haus und einen äußerst gepflegten Garten. Ich sah die beiden Zwillinge oft im Garten fröhlich spielen, sodass mir jedes Mal bei diesem Anblick warm ums Herz wurde. Ihre süßen Stimmen erklangen durch die ganze Nachbarschaft. Lächelnd beobachteten die stolzen Eltern ihre beiden Prinzessinnen. Mutter und Vater saßen an sonnigen Tagen auf dem Balkon und lasen sehr anspruchsvolle Lektüren. Sie waren gebildet und in ihrem Berufsleben erfolgreich, aber vor allem bodenständig und deshalb auch bei allen sehr beliebt. Der große Bruder und älteste Sohn dagegen, verbrachte viel Zeit mit seiner Musik. Er schloss sich in seinem Zimmer ein, sang und schrieb, schrieb wunderbare Lieder. Ich liebte es, ihm dabei zu zuhören. Es war nicht heimlich. Er wusste es, er konnte mich bei offenem Fenster sehen. Er tat aber so, als würde er mich nicht bemerken. Doch ich wusste er bemerkte mich, denn seine Mundwinkel formten sich jedes Mal zu einem schüchternen Lächeln. Morgens konnte ich die Familie aus dem Haus gehen sehen, dabei küssten sich die Eltern zum Abschied zärtlich, jedoch nicht aufdringlich. Die Mutter brachte die Zwillinge in den Kindergarten, der Sohn fuhr mit dem Vater in einem teuren schwarz glänzendem Wagen zur Schule. Ich mochte diese Menschen. Jeder mochte diese Familie. Auf der Straße begrüßten sie ihre Nachbarn stets freundlich und auch sonst gab es keine Beschwerden, sie waren höflich, einfach bewundernswert, eine wirklich perfekte Familie. Es wurde Sommer und ich beschloss mit meiner besten Freundin in Urlaub zu fahren. Es war eine schöne Zeit, doch leider war auch diese Zeit vergänglich. Ich fuhr zurück nach Hause, endlich nach Hause… Meine Eltern waren nicht im Haus. Erschöpft von der Reise ging ich auf mein Zimmer, öffnete all meine Fenster und legte mich, mit einem guten Buch in der Hand, auf mein frisch bezogenes Bett. Eigenartig. Außer ein paar Autos, die vorbei fuhren und dem Zwitschern der Vögel war nichts zu hören. Eigenartig, es ist zu ruhig um diese Zeit, äußerst eigenartig. Ich stand auf und blickte aus dem Fenster. In dem Haus gegenüber war nichts zu sehen. Nicht einmal der Sohn hatte sein Fenster offen. Stille im Haus gegenüber. Ob sie verreist sind? Tage vergingen, die Schule fing bald an, doch niemand aus der Familie ließ sich blicken. Tausende Dinge schossen mir durch den Kopf. Ich kannte unsere Nachbarn nicht richtig, doch ich mochte sie, diese Bilderbuchfamilie von nebenan. Was ist nur los? Erst vor kurzem konnte ich die kleinen Prinzessinnen toben hören, erst vor kurzem sah ich Mutter und Vater sich zärtlich küssen und erst vor kurzem konnte ich den Sohn der Familie singen hören. Was ist in solch kurzer Zeit bloß geschehen? Wahrscheinlich sind sie ohne ein Wort zu sagen umgezogen. Schade. Wirklich schade. Der Vater wurde sicher befördert und die Kinder gehen nun auf eine bessere Schule, sie alle waren ja so begabt. Eine perfekte Familie eben…
Ich fuhr mit dem Rad in unserer Gegend und sah eine kleine Gruppe Frauen aus der Nachbarschaft stehen, die sich auf eine eigenartige und geheimnisvolle Weise unterhielten. Es schien als wüssten sie etwas über die Familie. Ich wollte nicht neugierig sein und wartete deshalb eine Weile bis ein Teil sich von der Gruppe löste. Ich wusste nicht genau wie ich meine Fragen formulieren sollte, immerhin gingen mich die Angelegenheiten und das Privatleben der Nachbarsfamilie, gar nichts an. Aber diese Fragen und Hirngespinste in meinem Kopf quälten mich jede Nacht aufs Neue. Was ich dann erfuhr ließ mich erstarren. Mir fehlten die Worte und auch die Kraft irgendwie auf das Gesagte zu reagieren. Es war ein Schock. Nicht nur für mich, sondern für alle Bewohner dieser Gegend hier.
Ich konnte es einfach nicht fassen. Der Vater hatte Mutter und Kinder schlecht behandelt, sie fast täglich geschlagen, sie misshandelt! Der Sohn geriet mit den Falschen und kam mit Drogen in Kontakt. Er wollte vergessen, sich betäuben. Doch diese Sehnsucht nach Glück und Freiheit verwandelte sich in Sucht, sodass er in eine Entzugsklinik eingewiesen wurde. Die Mutter ließ sich von ihrem Mann scheiden und kämpft nun um das Sorgerecht ihrer Kinder. Ich sehe die zerbrochene Familie ab und zu. Die Mutter zog, nach einer Kur, mit ihren Kindern wieder in dem Haus gegenüber ein. Doch der Garten ist nicht mehr gepflegt. Das ansteckende, herzliche Lachen der beiden Prinzessinnen verstummte für immer. Die Mutter kommt nur selten auf dem Balkon und liest auch keine Bücher mehr. Ihre Verletzungen versucht sie mit Make-up zu verdecken, doch selbst wenn ihr dies gelingt, die Wunden ihres Herzens kann sie nicht heilen. Es bleiben tiefe Narben zurück. In ihren Augen ist deutlich der Schmerz zu erkennen, den sie zu überspielen versucht. Wenn ich mein Fenster öffne und in das Zimmer des Sohnes blicke sehe ich kein schüchternes Lächeln mehr, sondern ein krampfhaftes Grinsen. Seine Stimme leuchtet nicht und seine Lieder handeln nicht mehr vom Glück. Den Vater übrigens habe ich nie wieder gesehen. Er war zu feige seiner Familie noch ein letztes Mal in die Augen zu blicken und deren Verachtung für sein Handeln zu spüren. In diesem Haus wohnen jetzt nur noch Schmerz und Kummer. Hinter dieser perfekten Fassade, steckte eine unglückliche Familie dahinter, die die Wahrheit hinter einer Maske zu verstecken versuchte. Eine Maske, die uns glauben ließ, eine perfekte Familie zu kennen, die aber niemals existierte…
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