Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 28.08.2013, 14:36   #1
männlich Desperado
 
Benutzerbild von Desperado
 
Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747


Standard Der Mörder aller Dinge

Vermaledeiter Krieg.

Gestern noch trachtete ich danach, keine Ahnung wieso und warum, die Menschen meiner Herkunft, Hautfarbe und meines Landes irgendwie zu verstehen, ihre Triebfedern zu durchschauen und ihre Beweggründe zu kennen, jetzt wünsche ich mir, ich hätte es mir nie gewünscht und wäre stattdessen ein argloses blauäugiges Kind geblieben. Aber das Rad der Zeit lässt sich nunmal nicht zurückdrehen, nicht einmal um den Wimpernschlag eines verschwindenden Menschenlebens. Soll ich meine Erfahrungen begraben, um wieder Hoffnung schöpfen zu können?

Frag ich die Leute in ihren alten Tagen, wie viel der guten sie gehabt und ob nicht ein jeder davon mit bitteren und schlimmen bezahlt ist auf Heller und Cent, so nicken sie nur wissend stumm. Sie können noch so viel hermachen von sich, noch so sehr nach Unsterblichkeit lechzen und an den Sockeln ihrer Unvergessenheit zimmern, ein hölzernes Kreuz, ein kalter Stein über ein paar verwelkten Blumen, ein verblassender Name und ein paar Zahlen, das ist alles, was übrigbleiben wird von ihrer Herrlichkeit und unersetzlichen Bedeutung. Was auch immer sie an Werken, Wissen und Nachkommenschaft hinterlassen, nichts davon wird sie am Leben erhalten, wie lange sie die Sünde ihrer Väter auch festhalten mögen auf den Heldengedenktafeln, deren Verbrechen in Stein gemeißelt für alle Nachkommen sichtbar und zu Unvergesslichkeit verdammt erhalten, zu Kanonenschlag und wehenden Fahnen, bis sie zum jüngsten Gericht gerufen aus ihren Gräbern steigen. Mir soll es recht sein, denn mich gab es nie, vergessen bin ich wie die Taube, die auf dem Mahnmal dieses schaurigen Gedenkens schlief und ihr Geschäft verrichtete darauf.

Wo, so frage ich, sind sie denn zu finden, die großen Werke und bewundernswerten Errungenschaften der Menschheit? Ich kann sie nirgendwo entdecken. Große Reiche werden gegründet auf Blut und Unrecht und in Blut und Unrecht ertränkt, um noch größere darauf zu errichten, das allein ist es doch, was als Geschichte gepriesen und den Kindern beigebracht wird in den Schulen, die Namen der schlimmsten Menschenschlächter werden erhoben in den Stand großer Heldengestalten und bahnbrechender Welterneuerer, nach dem ungeheuerlichen Blutzoll ihrer Ruhmestaten wird nicht weiter gefragt.

Große Ziele erfordern eben große Opfer, fragt sich nur für wen.

Wer erntet die Lorbeeren eines Sieges, errungen im Namen der Freiheit, der im Dreck verblutende Soldat, die zu Tode erschöpfte Lazarettschwester oder der unversehrt unbehelligte Feldherr irgendwo in seinem behaglichen Generalstabszelt, der den Befehl zum Töten erteilt und den zum Sterben gleich dazu? Für Gott und Vaterland, gefragt werden beide nicht, ob sie das überhaupt im Sinn haben geschweige denn wollen, ihre Zustimmung wird vorausgesetzt und der Krieg als heiliger Auftrag verstanden auch ohne göttlich vaterländliche Rückmeldung.

Hier steht ein Präsident auf seinem Sockel rum und dort ein anderer, schaust du aber genau hin, siehst du, dass sein Schemel aus geronnenem Blut gegossen ist. Wenn einer dieser Allmächtigen einen Haufen Leute in den Krieg schickt, damit diese einen Haufen Leute niedermachen oder selbst draufgehen dabei, soll mir mal einer erklären, wie er da wieder rauskommen will? Egal ob er groß von Freiheit, Unabhängigkeit oder Gerechtigkeit predigt, er sitzt in der Falle, und ob er drin verhungert, von den Wölfen gefressen wird oder ihn sich der abgerissene Trapper holt, spielt keine allzu große Rolle mehr. Wenn er noch so etwas hat wie ein Gewissen, legt er es drauf an, ja beschwört es regelrecht herauf, einem Attentat zum Opfer zu fallen, damit der Albtraum seines Amtes endlich ein Ende hat, und ich kann beim besten Willen nicht verstehen, was daran -bis auf letzteres- vorbildlich, großartig, aller Ehren wert und ein Ruhmesblatt sein soll. Nein Leute so geht das nicht ab, ich kann gut mit meiner Zeche leben, aber wer die der Mächtigen bezahlen soll, das möchte ich gerne mal wissen.

Und es sieht gar nicht gut aus für sie, ganz und gar nicht gut.

Um sich die reichen Pfründe des Südens unter den Nagel zu reißen, brauchte der Norden eine edelmütige Handhabe, und die Befreiung der Sklaven war bestens dafür geeignet.

Angefangen hatte deren Elend mit den Spaniern. Als die nämlich die Indios in ihre Goldminen schickten, mussten sie feststellen, dass die Weichlinge wegstarben wie die Fliegen. Das machten diese Wilden sogar, wenn sie eingesperrt wurden. Sie stellten ihre Lebensfunktionen ein und hauchten ihren Geist aus, ohne dass wer sagen konnte, woran sie nun eigentlich genau gestorben sind. Schlaues Volk, diese Indios. Und so kamen die Konquistadoren auf die glorreiche Idee, sich Menschenmaterial vom schwarzen Kontinent zu holen, zusammengefangen, in Ketten gelegt und per Schiff im Unterdeck in die neue Welt verfrachtet. Die Nigger waren zäh, widerstandsfähig und bestens für jede Art von Fron geeignet. Deshalb hielt sich diese Tradition über Jahrhunderte. Und weil sie inzwischen in Baracken zusammengepfercht neben den Palästen der Großgrundbesitzer hausen und unentgeltlich deren Arbeit erledigen, ihre Baumwollfelder pflücken, ihre Bälger stillen und antiautoritär aufziehen, kommt der arme Norden eines Tages auf den Gedanken, dass die ebenso gut als billige Arbeitskräfte für ihre aus dem Boden gestampften Fabriken taugen könnten. Nur müsse man sie zu diesem Zweck vorher quasi symbolisch befreien, was ja auch wirklich längst überfällig ist bei genauer Betrachtung. Denn wenn sich Onkel Tom mal überdrüssig räuspert, weil wieder mal eine Mama samt Säugling im Eiswasser des Mississippi versunken ist, mit dem nötigen Blei beschwert, dann ist er Aufwiegler und Rädelsführer und es um ihn geschehen.

Und so kommt es dann eben zum großen Bruderkrieg, weil sich der Süden vehement dagegen verwahrt, seine von Schwarzen bestellten Ländereien freiwillig aus der olivenölgepflegten Hand zu geben. Erst sieht es sogar noch ganz gut aus für den Süden, die Good Old Boys gewinnen ein paar Schlachten, eine große zwischendrin, und die Anführer der Rednecks überschlagen sich förmlich, die verdammten Yankees mit Hohn und Spott zu überschütten, wie den Bimbo mit Petroleum bevor sie ihn anzünden. Dabei scheint den widerwärtigen Großmäulern entgangen zu sein, dass der Süden seine ruhmreichen Siege bestenfalls mal gegen die Vorhut und Speerspitze der Blauröcke errungen hat, deren nicht mehr zu zählende und immer besser bewaffnete und gerüstete Truppen unaufhaltsam in den Süden einmarschieren und eine Schlacht nach der andern für sich entscheiden, ohne jede Rücksicht auf eigene Verluste, indem ihre Infanteristen so lange, ausdauernd und unerbittlich gegen die Linien der Konföderierten, immer schön eine Hügelkuppe entlanggezogen, anrennen oder besser getrieben werden, bis es den ersten Sturmangreifern gelingt, im Schutz der Leichenberge ihrer gefallenen Kameraden bis an die Barrikaden vorzudringen und diese zu überwinden. Dann wird der Sack zugemacht und derart heftig verschnürt, dass so gut wie keiner der „Rebellen“ mehr das Licht des nächsten Tages erblicken wird vom Rotzlöffel bis zum Tattergreis.

Oder die Sache läuft auch mal andersherum, je nach örtlicher Gegebenheit, landschaftlicher Beschaffenheit und gefechtsmäßiger Voraussetzung. Diese überaus ausgeklügelte Form strategischer Kriegsführung der werten Herren Generäle, deren Namen allesamt in den Indianerkriegen wiederauftauchen werden, ob Blaurock oder Graurock, um ihre Ordensammlungen in geschlossener Eintracht mit ein paar weiteren Exponaten zu vervollständigen, erweist sich als durchschlagend und wirkungsvoll genug, den Krieg ob der zahlenmäßigen Überlegenheit des Nordens früher oder später zu dessen Gunsten zu entscheiden. Nach ein paar Jahren weiß hüben wie drüben sowieso keiner mehr so recht, wer warum weshalb gegen wen genau kämpft und wieso, wie das in Kriegen nun mal so ist, da wird schon mal eine Stadt geplündert und abgefackelt, obwohl weit und breit kein einziger feindlicher Soldat zu sehen und finden ist, so was kommt eben vor im Eifer des Gefechts, da muss man sterben mit. Wer die Namen der berühmten Örtlichkeiten wissen will, möchte sie bitte übermorgen in den Geschichtsbüchern nachlesen, irgendwo in der Nähe der jeweiligen „Begegnungen“ befindet sich mit Sicherheit eine größere Stadt, nach der das jeweilige Desaster benannt werden wird, ich möchte in keiner von ihnen leben müssen, ja nicht einmal geboren sein.

Was heraus kommen wird bei dem Ganzen ist wie geplant, dass die Afroamerikaner in den Norden abwandern und sich in den Slums am Rand der Metropolen zusammenscharen, wo sie sich entweder zu Tode saufen oder für ein paar Cents pro Tagwerk zu Tode schuften dürfen. Und als Merkmal ihrer unverwechselbaren Eigenständigkeit nach wie vor nur ihre herrlichen Lieder und Gesänge ihr eigen nennen dürfen. Besuch mal einen ihrer Gottesdienste und du bekommst eine Ahnung davon, wie das mit dem Holy Spirit gemeint sein könnte, und wenn Lord Christ irgendwo zuhause ist, dann genau dort und nirgendwo anders. Weil in ihren ekstatischen Gospelklängen das Wort Erlösung gleichbedeutend ist mit Befreiung und Gerechtigkeit, wenn auch im Jenseitigen angesiedelt und in unerreichbare Ferne gerückt, da beim nachhause gehen das Kreuz als einzige Lebenswirklichkeit auf sie wartet. Oder auch Todeswirklichkeit, wenn es mal wieder in lodernden Flammen steht. Braucht ja nur ein dahergelaufener Marktschreier kommen und rumposaunen, ob schon mal wem aufgefallen ist, dass die sich vermehren wie die Karnickel und eines Tages noch das ganze schöne weiße Land anschwärzen werden, ja unter ihre primitive Affenkontrolle bringen, und die Leute reißen ihm seine Pamphlete nur so aus der Hand.

Sorry, war ich das grade, der das Whiskeyglas an die Wand geschleudert hat? Ist ja auch zum aus der Haut fahren, dieser ganze scheinheilige Irrsinn.

Der Krieg ist ganz anders. Pa sagte immer, er sei das größte Verbrechen, zu dem der Mensch imstande sei. Die Abgründe und Niederungen, mit denen er in seiner Funktion als Sheriff zu schaffen hatte, geben seinen Worten zusätzliches Gewicht.

Wer das wahre Antlitz des Krieges sehen will, ohne ihn selbst erlebt zu haben, findet es in den Gesichtern der Heimkehrer. Darin ist seine Fratze spiegelgleich abgebildet. Ihre Züge sind nicht nur ausgezehrt von Hunger, Durst, Erschöpfung, Hitze und Kälte, Sumpffieber und Ruhr, Todesangst, Schmerz und Schlaflosigkeit, sondern gezeichnet von namenlosen Grauen und Schrecken ohne Zahl und Vorstellung. Schwermut und Trauer haben sich in die herabhängenden Mundwinkel gekerbt, unter zerfurchter Stirn wölben sich ihre Brauen über die eingesunkenen Augen. Ihr Lächeln ist gequält oder restlos verschwunden, ihre Stimme gebrochen und stockend murmelnd, sie sind schweigsam, verschlossen und fern, unendlich weit weg von allem, was mit Freude und Leben zu tun hat. Es sind junge Männer mit den Gesichtern von Greisen.

Viel schlimmer und unheilbarer aber sind die Spuren, die der Krieg in ihrer Seele hinterlassen hat. Ein unauslöschliches Brandmal wird sie begleiten für den Rest ihres Lebens. Und es wird schmerzen, wieder und wieder und wieder. Ruhelos lauerndes Flackern hat sich hinter ihren Augäpfeln eingenistet, stete Wachsamkeit gepaart mit dem bedingungslosen Willen zu töten, ehe sie denn selbst getötet werden. Das ist die Lehre und Philosophie der Krieges, die sie mitgebracht haben, und damit ist sie auch schon erschöpft. Sie haben gelernt, stramm zu stehen und zu gehorchen, tagelang mit schwerem Marschgepäck zu marschieren, durch den Dreck zu robben, Gräben auszuheben und ihre Gewehre zu gebrauchen. Was sie nicht gelernt haben ist der Umgang mit dem Tod. Niemand hat ihnen beigebracht, dass er fortan ihr steter Wegbegleiter sein wird. Er geistert durch ihre Träume in den erloschenen Gesichtern getöteter Feinde und gefallener Freunde, und sie wissen nach dem ersten Gefecht, dass zwischen den Beiden kein Unterschied besteht. Bis auf die Farbe der Uniform, einer weisen Erfindung der Kriegsherren, um zu vermeiden, dass sich die eigenen Truppen gegenseitig niedermachen, was trotzdem immer wieder mal vorkommt, besonders Nachts oder im Artilleriefeuer.

Ein zerfetzter Leib unterscheidet sich nicht von einem zerrissenen, ein entstelltes Gesicht nicht von seinem zermalmten Gegenüber. Die qualvollen Schreie der Sterbenden klingen unterschiedslos entsetzlich, ihr Stöhnen in den Lazarettzelten kennt keine Sprache, ihr gestammeltes Gebet keine Religion. Das Siegesgeschrei ist kein froher Jubel, sondern hinausgeheulte Angst und Wut, die entfesselte Erleichterung, noch am erbärmlichen Leben zu sein, und zugleich Zorn und Scham, dieses unverschämt unverdiente Glück ihr eigen nennen zu müssen, während so ungezählt Viele an ihrer und auf der anderen Seite in ihrem dampfenden Blut liegen. Stumm sitzen sie in den eingenommenen Stellungen und reinigen ihre Gewehre, polieren sie blank, bis ihr blitzender Lauf zum Brennglas taugt. Weil sie wissen, dass sie das Blut an ihren Händen niemals abwaschen werden können, und wollten sie ihre Finger in Säure tauchen.Dass der schwarze Schatten, der sich auf ihre Seele gelegt hat und darin breitgemacht, nimmermehr von ihnen weichen wird, so lange ihr Herz in der Brust pocht. Dass mit jedem getöteten Feind ein Stück von ihnen gestorben ist und niemals mehr zum Leben erwachen wird.

Und so stecken sie dem gefangengenommenen Kameraden eine Zigarette in den Mund und reichen ihm ihre mit Fusel gefüllte Feldflasche, tauschen Fotos ihrer Liebchen und Familien aus und unterhalten sich angeregt und lebhaft mit ihm, erheitern sich göttlich an der Verschiedenheit ihrer Dialekte und schildern einander die Schönheit ihrer Heimat.

„Sei froh, Bruder,“ sagen sie und klopfen ihm aufmunternd auf die Schulter, „Du hast es überstanden.“

Und im Abendrot, das den Himmel in all das vergossene Blut taucht, sitzen sie in ihren Gräben und Löchern und singen, nein grölen ihre Lieder, und ein Echo hallt herüber von der nahen Feindeslinie, und sie singen um die Wette, abwechselnd und aus voller Brust bis tief in die Nacht hinein.

Wenn sich die Sonne bleiern aus dem Abgrund schält, rüsten sie sich bebend und schwitzend vor Angst für den nächsten Sturmangriff, und sie werden den Bruder gnadenlos töten ehe sie denn selbst von ihm getötet werden.

Es gibt kein Heldentum im blutigen Handwerk der Schlacht.

Reite durch ein Land, durch das der Krieg gewütet hat, und du bist deinen Glauben an die Menschheit los für immer. Er zerbricht nicht, stirbt nicht qualvoll, wird nicht gewaltsam zerschmettert. Er löst sich in Luft auf und verschwindet im Nichts mit jedem niedergebrannten Dorf, durch das du kommst, mit jedem gescharrten Massengrab am Wegesrand, jedem zugeschütteten Schützengraben, mit jeder zerborstenen Kanone, die in der Sonne vor sich hinrostet.

Du siehst Menschen mit erloschenen Gesichtern vor den Trümmern ihrer Häuser sitzen, andere suchen und wühlen gramgebeugt nach ein paar Habseligkeiten oder Erinnerungen, in ihren Augen spiegeln sich Grauen und Entsetzen all der Gräuel, die sie sehen mussten, Mord, Plünderung, Brandschatzung, Folter und Vergewaltigung, es gibt keinen sauberen Krieg, den gab es nie. Einer zimmert mit trotziger Bitterkeit am Türmchen der zerschossenen Kirche, ein anderer steht daneben und höhnt, wo war er denn, dein Gott, als sie kamen, hast du ihn irgendwo gesehen? Auf dem Dorfplatz flattert die Fahne der Freiheit im Wind, die ein paar Patrioten aufgezogen haben an roh geschältem Stamm, sie erscheint dir wie blanker Hohn und nichts als ein bleiernes Leichentuch.

Gibt es einen Wert, ein Gut, einen Preis, der dies Elend rechtens macht? Wie ungeheuerlich müssen Not und Hoffnungslosigkeit sein, die all diese namenlosen Verbrechen als einzig letzten Ausweg wählen? Sicher, wenn die Kämpfer nach Hause kommen, einbeinig auf Krücken, mit abgetrennten Armen und erblindeten Augen, werden sie als Helden gefeiert und empfangen, mit Blumenregen überhäuft und auf Schultern durch die Straßen getragen. Doch wer trocknet die Tränen all der Frauen, die von Schmerz zerrissen in den Armen ihrer Angehörigen zusammenbrechen, weil sich ihr Sohn, ihr Mann, ihr Bräutigam, Vater, Bruder oder treuer Freund nicht in ihren Reihen befindet?

Wen kümmern schon all die vergessenen Gräber da draußen irgendwo, nackte verwitterte Stöcke mit Stricken grob zu einem Kreuz zusammengeflochten, ein zerfleddertes Halstuch drum gebunden vielleicht, ein aufgelöster Hut drauf gesteckt oder eine rostzerfressene Marke drangehängt, das ist aber auch schon das Höchste. Hier ruht auch so einer, der mal Träume hatte und Pläne, Freunde und Geliebte, Kinder vielleicht, Hoffnungen und Enttäuschungen, Glauben und Zweifel, Angst und Mut, aber wer will schon was davon hören und wen geht’s was an?

Bleibt mir vom Leibe mit euren Lügen von Ehre und Tapferkeit, verschont mich mit euren Sprüchen von Freiheit und Gerechtigkeit, lasst mich bloß zufrieden mit eurem Geschwätz von Vaterlandsliebe und Heldentod, es ist kein hehres Opfer, das da als schwarzes Blut im Dreck versickert, es ist sinnlos vergeudetes Leben, weggeworfenes Gut und geschändetes Heiligtum. Fragt nicht die Überlebenden, sie werden ihren Schmerz, ihr bohrendes Gewissen und ihre quälenden Erinnerungen in Trotz und Wut ersäufen, werden dem Aberwitz Sinn abzuringen trachten ihr verdammtes zerbrochenes Leben lang, fragt nicht einmal die, die von den Gefallenen zurückgelassen sind, denn ihre Hände werden Kränze flechten und Denkmäler bauen, gegossen aus ihren versteinerten Tränen und einer gnädigen Lebenslüge, die ihnen das untragbare Leid erträglicher scheinen lässt.

Nein, fragt die Toten selbst.

Fragt dieses graue namenlose Heer, das nachts aus seinen Gräbern steigt und durch die kahlen Felder irrt, wo bin ich und wo ist mein Weg nach Hause raunen sie, was ist mir nur geschehen? Nicht für Gott, nicht für Kaiser, nicht für Präsident, Vaterland und Freiheit würden sie es zulassen, um nichts in der Welt würden sie es in Kauf nehmen, von ihren Familien und Liebsten getrennt zu sein für immer, wenn sie nur könnten, doch es ist zu spät.

Aber wer fragt sie schon? Nur ein einsamer Desperado, der durch die Finsternis reitet, und auch der weiß ihnen weder Rat noch Hilfe. Es tut mir leid, Kamerad, doch dein Weib ist längst verheiratet und hat fünf Kinder mit deinem besten Freund, der sie getröstet hat in ihrem Schmerz und sich ihrer angenommen. Du hast kein Zuhause mehr, für dass es sich zu kämpfen und sterben lohnt, da ist niemand mehr, der auf deine Rückkehr wartet, nicht ein einziger, nicht einmal dein Hund. Soll ich das zu ihnen sagen? Sie würden mir sowieso nicht glauben. Ich weise ihnen Weg und Richtung so ich kann, mögen sie hoffnungsvoll und froh losmarschieren, denn so weit sie auch kommen mögen, das erste Tageslicht wird sie in ihre Gräber zurückverbannen, mit der hereinbrechenden Nacht wird ihre Erinnerung erloschen sein, sie werden erneut herumirren und den ersten Reiter nach dem Weg fragen, bis ihre arme Seele Frieden finden kann irgendwann. Die Meisten nehmen sie sowieso nicht wahr, ich wurde nicht nur einmal Zeuge, dass ein schläfriger Reiter einfach durch die heranstolpernden Ratsuchenden hindurchgeritten ist, ohne auch nur das Geringste zu spüren oder merken von ihrer bemitleidenswerten Anwesenheit, ja außer mir kann sie offenbar keiner sehen, was nun nichts ist, für das ich eine Erklärung suche.

Ich kann weder etwas dafür noch etwas dagegen tun, also warum lange fragen nach einem Wieso, wenn eine Antwort nichts ändert daran? Längst habe ich mich an ihren Anblick gewöhnt, sie sind harmloser als eine tieffliegende Eule und ungefährlicher als das Schlupfloch eines Präriehundbaues, warum also sollten sie mich noch erschrecken? Was mich entsetzt bis aufs Gebein ist der Schuldige, das bluttrinkende menschenfressende Ungeheuer, das sie dazu verdammt hat, Nacht für Nacht durch den Nebel zu irren.

Der Krieg, der Mörder aller Dinge.
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.08.2013, 18:01   #2
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
Alter: 67
Beiträge: 3.073


Danke, Desperado,

für deinen engagierten Text. (Auch für deine klaren Kommentare a.a.O.)

Manchmal möcht ich nur heulen. Wann werden Menschen das jemals begreifen??? Ich frag mich immer wieder auch, was ist das Grundübel?
Neid? Streben nach Macht? Einfluss? Größenwahn?

Wie du die Kriegsheimkehrer beschreibst, ich glaube, besser kann man es nicht machen.

lieben Gruß,
simba
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.08.2013, 21:04   #3
männlich Desperado
 
Benutzerbild von Desperado
 
Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747


Zitat:
Zitat von simbaladung Beitrag anzeigen
Wie du die Kriegsheimkehrer beschreibst, ich glaube, besser kann man es nicht machen.
Danke fürs lesen, simba,

nun, ich hatte genug lebende Beispiele, allen voran meinen Vater.

Diese Geschichte ist mir persönlich wichtig, und "aus aktuellem Anlass" fand ich es angebracht, sie einzustellen (ich glaube, einen Teil davon hatte ich schon mal drin, ist aber schon eine Weile her und spielt auch keine Rolle), und doch habe ich immer das Gefühl, mit meinen Beschreibungsversuchen kläglich an der unvorstellbaren Wirklichkeit eines Krieges zu scheitern.

So lange ich denken kann, bin ich froh und dankbar, in einem Land zu einer Zeit aufgewachsen zu sein und leben zu dürfen, in der Frieden herrscht. Das macht man sich viel zu selten bewusst, wie ich finde. Das Rätsel des Krieges zu lösen habe ich vor langem aufgegeben.

Friedliebenden Gruß
Desperado
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 28.08.2013, 22:38   #4
männlich curd belesos
 
Benutzerbild von curd belesos
 
Dabei seit: 04/2013
Ort: Lübeck
Alter: 78
Beiträge: 1.303


Zitat:
Du siehst Menschen mit erloschenen Gesichtern vor den Trümmern ihrer Häuser sitzen, andere suchen und wühlen gramgebeugt nach ein paar Habseligkeiten oder Erinnerungen, in ihren Augen spiegeln sich Grauen und Entsetzen all der Gräuel, die sie sehen mussten, Mord, Plünderung, Brandschatzung, Folter und Vergewaltigung, es gibt keinen sauberen Krieg, den gab es nie. Einer zimmert mit trotziger Bitterkeit am Türmchen der zerschossenen Kirche, ein anderer steht daneben und höhnt, wo war er denn, dein Gott, als sie kamen, hast du ihn irgendwo gesehen? Auf dem Dorfplatz flattert die Fahne der Freiheit im Wind, die ein paar Patrioten aufgezogen haben an roh geschältem Stamm, sie erscheint dir wie blanker Hohn und nichts als ein bleiernes Leichentuch.
Ich wollte es nicht, nie wieder Kriegsgeschichten lesen. Ich habe deine doch gelesen, mit Tränen in den Augen. Den Film " Der Soldat Ryan" habe ich nach 15 Minuten abgebrochen und bin aus dem Kino gegangen. "Apokalypse now" war mein letzter Kriegsfilm den ich bis zum Ende gesehen habe. Bildmaterial der Bundeswehr zum Einsatz in Ex Jugoslavien haben selbst meinen Vater, als überlebenden Stalingradkämpfer" zum Weinen gebracht. Er war immer stolz auf seine militärischen Auszeichnungen und wollte mit ihnen begraben werden, nach dem Film nicht mehr.

Ich bin einer dieser langhaarigen Vaterlandsverräter gewesen, die sich dem Wehrdienst widersetzt haben. Verstanden haben das nur wenige.

Über das Warum von Kriegen gibt es Berge von Literatur. Ich habe sie nicht gelesen und werde es auch nicht mehr tun.

Deine Geschichte hat mich stark aufgewühlt. Es ist gut dass du sie geschrieben hast, für dich, für mich und unsere Enkel.

Curd Belesos
curd belesos ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.08.2013, 11:35   #5
männlich Desperado
 
Benutzerbild von Desperado
 
Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747


Zitat:
Zitat von curd belesos Beitrag anzeigen
"Apokalypse now" war mein letzter Kriegsfilm den ich bis zum Ende gesehen habe. Ich bin einer dieser langhaarigen Vaterlandsverräter gewesen, die sich dem Wehrdienst widersetzt haben. Verstanden haben das nur wenige.
Selbst die Einsichtigsten, curd belesos, quittierten die Kriegsdienstverweigerer, wie sie damals noch genannt wurden, mit einem "das hat noch keinem geschadet". Ich kannte einen, der ging lieber ins Gefängnis, als er nicht als solcher anerkannt wurde, es gab einige davon, selbst wurde ich durch drei Verhandlungen gezerrt. Der "Vaterlandsverräter" war als Drückeberger und Feigling geächtet, das kann sich heute fast niemand mehr vorstellen.

Auch Sensibilisierung und Bewusstsein -Stalingrad, da weißt Du ja Bescheid- gehen von Generation zu Generation ein Stück mehr verloren. "Apokalypse Now" ist einer der wenigen Antikriegsfilme, der den Wahnsinn und das Grauen konsequent durchzieht bis zum Ende, ohne irgendwann in spektakulären Abenteuerfilm und patriotisches Heldenepos abzudriften, wie beim Soldaten Ryan auf geradezu schmerzliche Weise der Fall. Gleichzeitig irren traumatisierte Afghanistanheimkehrer durch die verlorengegangene heile Welt wie Zombies.

Ich sehe mich nach wie vor in der Verantwortung, das von meinem Vater als Kriegsteilnehmer -hauptsächlich in Russland- übermittelte Wissen über das namenlose und unbeschreibliche Verbrechen Krieg weiterzugeben, grade heute, da die letzten Zeugen wegsterben bzw. gestorben sind. Ob's freilich was nützt, weiß ich nicht.

Danke für Deine offenen Worte!
Desperado
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 29.08.2013, 14:14   #6
Thing
R.I.P.
 
Benutzerbild von Thing
 
Dabei seit: 05/2010
Beiträge: 34.998


Zitat:
Zitat von Desperado Beitrag anzeigen

So lange ich denken kann, bin ich froh und dankbar, in einem Land zu einer Zeit aufgewachsen zu sein und leben zu dürfen, in der Frieden herrscht. Das macht man sich viel zu selten bewusst, wie ich finde.

Desperado
Du sprichst mir aus dem Herzen.
Und Deine Ausführungen sind großartig geschrieben.


LG
Thing
Thing ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.08.2013, 12:54   #7
männlich Desperado
 
Benutzerbild von Desperado
 
Dabei seit: 03/2012
Ort: Erde, Europa, Deutschland, Bayern
Beiträge: 1.747


Zitat:
Zitat von Thing Beitrag anzeigen
Du sprichst mir aus dem Herzen.
Hallo, Du Hobby-Feld-Wald-und Wiesen-Dichterling!
Man tut, was man kann...

You've thrown the worst fear
That can ever be hurled
Fear to bring children
Into the world
For threatening my Baby
Unborn and unnamed
You ain't worth the blood
That runs in your veins

How much do I know
To talk out of turn
You might say that I'm young
You might say I'm unlearned
But there's one thing I know
Though I'm younger than you
Even Jesus would never
Forgive what you do

Let me ask you one question
Is your money that good
Will it buy you forgiveness
Do you think that it could
I think you will find
When your death takes its toll
All the Money you made
Will never buy back your soul


Bob Dylan- Masters Of War; 1963

Vielleicht haben wir ja nochmal Glück...
Desperado
Desperado ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 30.08.2013, 14:59   #8
männlich curd belesos
 
Benutzerbild von curd belesos
 
Dabei seit: 04/2013
Ort: Lübeck
Alter: 78
Beiträge: 1.303


Standard Du sprichst mir aus dem Herzen..

...Bob Dylan mir auch

Zitat:
When your death takes its toll
All the Money you made
Will never buy back your soul
Zag.
curd belesos ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Der Mörder aller Dinge



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Der Krieg, der Mörder aller Dinge Desperado Geschichten, Märchen und Legenden 0 14.04.2012 16:19
Mörder --Schuldig-- Düstere Welten und Abgründiges 6 20.07.2011 17:57
Aller Kreatur marlenja Sonstiges Gedichte und Experimentelles 16 29.12.2010 21:15
Der Wert aller Dinge Kalypso Philosophisches und Nachdenkliches 0 30.05.2010 17:10
Mörder: Die Liebe Freakiii Psycho Liebe, Romantik und Leidenschaft 6 15.04.2009 19:38


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.