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Alt 14.04.2012, 16:19   #1
männlich Desperado
 
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Standard Der Krieg, der Mörder aller Dinge

Der Krieg ist ganz anders.

Pa sagte immer, er sei das größte Verbrechen, zu dem der Mensch imstande sei. Die Abgründe und Niederungen, mit denen er in seiner Funktion als Sheriff zu schaffen hatte, geben seinen Worten zusätzliches Gewicht.

Wer das wahre Antlitz des Krieges sehen will, ohne ihn selbst erlebt zu haben, findet es in den Gesichtern der Heimkehrer. Darin ist seine Fratze spiegelgleich abgebildet. Ihre Züge sind nicht nur ausgezehrt von Hunger, Durst, Erschöpfung, Hitze und Kälte, Sumpffieber und Ruhr, Todesangst, Schmerz und Schlaflosigkeit, sondern gezeichnet von namenlosen Grauen und Schrecken ohne Zahl und Vorstellung. Schwermut und Trauer haben sich in die herabhängenden Mundwinkel gekerbt, unter zerfurchter Stirn wölben sich ihre Brauen über die eingesunkenen Augen. Ihr Lächeln ist gequält oder restlos verschwunden, ihre Stimme gebrochen und stockend murmelnd, sie sind schweigsam, verschlossen und fern, unendlich weit weg von allem, was mit Freude und Leben zu tun hat.

Es sind junge Männer mit den Gesichtern von Greisen.

Viel schlimmer und unheilbarer aber sind die Spuren, die der Krieg in ihrer Seele hinterlassen hat. Ein unauslöschliches Brandmal wird sie begleiten für den Rest ihres Lebens. Und es wird schmerzen, wieder und wieder und wieder. Ruhelos lauerndes Flackern hat sich hinter ihren Augäpfeln eingenistet, stete Wachsamkeit gepaart mit dem bedingungslosen Willen zu töten, ehe sie denn selbst getötet werden. Das ist die Lehre und Philosophie der Krieges, die sie mitgebracht haben, und damit ist sie auch schon erschöpft.

Sie haben gelernt, stramm zu stehen und zu gehorchen, tagelang mit schwerem Marschgepäck zu marschieren, durch den Dreck zu robben, Gräben auszuheben und ihre Gewehre zu gebrauchen. Was sie nicht gelernt haben ist der Umgang mit dem Tod. Niemand hat ihnen beigebracht, dass er fortan ihr steter Wegbegleiter sein wird. Er geistert durch ihre Träume in den erloschenen Gesichtern getöteter Feinde und gefallener Freunde, und sie wissen nach dem ersten Gefecht, dass zwischen den Beiden kein Unterschied besteht. Bis auf die Farbe der Uniform, einer weisen Erfindung der Kriegsherren, um zu vermeiden, dass sich die eigenen Truppen gegenseitig niedermachen, was trotzdem immer wieder mal vorkommt, besonders Nachts oder im Artilleriefeuer.

Ein zerfetzter Leib unterscheidet sich nicht von einem zerrissenen, ein entstelltes Gesicht nicht von seinem zermalmten Gegenüber. Die qualvollen Schreie der Sterbenden klingen unterschiedslos entsetzlich, ihr Stöhnen in den Lazarettzelten kennt keine Sprache, ihr gestammeltes Gebet keine Religion.

Das Siegesgeschrei ist kein froher Jubel, sondern hinausgeheulte Angst und Wut, die entfesselte Erleichterung, noch am erbärmlichen Leben zu sein, und zugleich Zorn und Scham, dieses unverschämt unverdiente Glück ihr eigen nennen zu müssen, während so ungezählt Viele an ihrer und auf der anderen Seite in ihrem dampfenden Blut liegen.

Stumm sitzen sie in den eingenommenen Stellungen und reinigen ihre Gewehre, polieren sie blank, bis ihr blitzender Lauf zum Brennglas taugt. Weil sie wissen, dass sie das Blut an ihren Händen niemals abwaschen werden können, und wollten sie ihre Finger in Säure tauchen.Dass der schwarze Schatten, der sich auf ihre Seele gelegt hat und darin breitgemacht, nimmermehr von ihnen weichen wird, so lange ihr Herz in der Brust pocht. Dass mit jedem getöteten Feind ein Stück von ihnen gestorben ist und niemals mehr zum Leben erwachen wird.

Und so stecken sie dem gefangengenommenen Kameraden eine Zigarette in den Mund und reichen ihm ihre mit Fusel gefüllte Feldflasche, tauschen Fotos ihrer Liebchen und Familien aus und unterhalten sich angeregt und lebhaft mit ihm, und sei es mit Händen und Füßen.
„Sei froh, Bruder,“ sagen sie und klopfen ihm aufmunternd auf die Schulter, „Du hast es überstanden.“

Und im Abendrot, das den Himmel in all das vergossene Blut taucht, sitzen sie in ihren Gräben und Löchern und singen, nein grölen ihre Lieder, und ein Echo hallt herüber von der nahen Feindeslinie, und sie singen um die Wette, abwechselnd und aus voller Brust bis tief in die Nacht hinein.

Wenn sich die Sonne bleiern aus dem Abgrund schält, rüsten sie sich bebend und schwitzend vor Angst für den nächsten Sturmangriff, und sie werden den Bruder gnadenlos töten ehe sie denn selbst von ihm getötet werden.

Es gibt kein Heldentum im blutigen Handwerk der Schlacht.

Um sich die reichen Pfründe des Südens unter den Nagel zu reißen, brauchte der Norden eine edelmütige Handhabe, und die Befreiung der Sklaven war bestens dafür geeignet.

Angefangen hatte das Elend mit den Spaniern. Als die nämlich die Indios in ihre Goldminen schickten, mussten sie feststellen, dass die Weichlinge wegstarben wie die Fliegen. Das machten diese Wilden sogar, wenn sie eingesperrt wurden. Sie stellten ihre Lebensfunktionen ein und hauchten ihren Geist aus, ohne dass wer sagte konnte, woran sie nun eigentlich genau gestorben sind.

Schlaues Volk, diese Indios.

Und so kamen die Konquistadoren auf die glorreiche Idee, sich Menschenmaterial vom schwarzen Kontinent zu holen, zusammengefangen, in Ketten gelegt und per Schiff im Unterdeck in die neue Welt verfrachtet. Die Nigger waren zäh, widerstandsfähig und bestens für jede Art von Fron geeignet. Deshalb hielt sich diese Tradition über Jahrhunderte.

Und weil sie inzwischen in Baracken zusammengepfercht neben den Palästen der Großgrundbesitzer hausten und unentgeltlich deren Arbeit erledigten, ihre Baumwollfelder pflückten, ihre Bälger stillten und antiautoritär aufzogen, kam der arme Norden eines Tages auf den Gedanken, dass die ebenso gut als billige Arbeitskräfte für ihre aus dem Boden gestampften Fabriken taugen könnten. Nur müsse man sie zu diesem Zweck vorher quasi symbolisch befreien, was ja auch wirklich längst überfällig war bei genauer Betrachtung.

Denn wenn sich Onkel Tom mal überdrüssig räusperte, weil wieder mal eine Mama samt Säugling im Eiswasser des Mississippi versank, mit dem nötigen Blei beschwert, dann war er Aufwiegler und Rädelsführer und es war um ihn geschehen.

Und so kam es dann eben zum großen Bruderkrieg, weil sich der Süden vehement dagegen verwahrte, seine von Schwarzen bestellten Ländereien freiwillig aus der olivenölgepflegten Hand zu geben. Zuletzt wusste sowieso keiner mehr so recht, wer warum weshalb gegen wen kämpft, wie das in Kriegen nun mal so ist, da wurde schon mal eine Stadt geplündert und abgefackelt, obwohl weit und breit kein feindlicher Soldat zu sehen war, so was kommt vor im Eifer des Gefechts.

Was heraus kam dabei war wie geplant, dass sich die Afroamerikaner in den Slums am Rand der Metropolen zusammenscharten und sich entweder zu Tode soffen oder für ein paar Cents zu Tode schuften durften. Und als Merkmal ihrer unverwechselbaren Eigenständigkeit nach wie vor nur ihre herrlichen Lieder und Gesänge ihr eigen nennen konnten. Besuch mal einen ihrer Gottesdienste und du bekommst eine Ahnung davon, wie das mit dem Holy Spirit gemeint sein könnte, und wenn Lord Christ irgendwo zuhause ist, dann genau dort und nirgendwo anders. Weil in ihren ekstatischen Gospelklängen das Wort Erlösung gleichbedeutend ist mit Befreiung und Gerechtigkeit, also im Jenseitigen angesiedelt und in unerreichbare Ferne gerückt, und beim nachhause gehen das Kreuz als einzige Lebenswirklichkeit auf sie wartet. Oder auch Todeswirklichkeit, wenn es mal wieder in lodernden Flammen steht.

Braucht ja nur ein dahergelaufener Marktschreier kommen und rumposaunen, ob schon mal wem aufgefallen ist, dass die sich vermehren wie die Karnickel und eines Tages noch das ganze schöne weiße Land anschwärzen werden, ja unter ihre primitive Affenkontrolle bringen, und die Leute reißen ihm seine Pamphlete nur so aus der Hand.

Sorry, war ich das grade, der das Whiskeyglas an die Wand geschleudert hat? Ist ja auch zum aus der Haut fahren, dieser ganze scheinheilige Irrsinn.

Reite durch ein Land, durch das der Krieg gewütet hat, und du bist deinen Glauben an die Menschheit los für immer.

Er zerbricht nicht, stirbt nicht qualvoll, wird nicht gewaltsam zerschmettert. Er löst sich in Luft auf und verschwindet im Nichts mit jedem niedergebrannten Dorf, durch das du kommst, mit jedem gescharrten Massengrab am Wegesrand, mit jeder zerborstenen Kanone, die in der Sonne vor sich hinrostet.

Du siehst Menschen mit erloschenen Gesichtern vor den Trümmern ihrer Häuser sitzen, andere suchen und wühlen gramgebeugt nach ein paar Habseligkeiten oder Erinnerungen, in ihren Augen spiegeln sich Grauen und Entsetzen all der Gräuel, die sie sehen mussten, Mord, Plünderung, Brandschatzung, Folter und Vergewaltigung, es gibt keinen sauberen Krieg, den gab es nie.

Einer zimmert mit trotziger Bitterkeit am Türmchen der zerschossenen Kirche, ein anderer steht daneben und höhnt, wo war dein Gott, als sie kamen, hast du ihn irgendwo gesehen? Auf dem Dorfplatz flattert die Fahne der Freiheit im Wind, die ein paar Patrioten aufgezogen haben an roh geschältem Stamm, sie erscheint dir wie blanker Hohn und nichts als ein bleiernes Leichentuch.

Gibt es einen Wert, ein Gut, einen Preis, der dies Elend rechtens macht? Wie ungeheuerlich müssen Not und Hoffnungslosigkeit sein, die all diese namenlosen Verbrechen als einzig letzten Ausweg wählen?

Sicher, wenn die Kämpfer nach Hause kommen, einbeinig auf Krücken, mit abgetrennten Armen und erblindeten Augen, werden sie als Helden gefeiert und empfangen, mit Blumenregen überhäuft und auf Schultern durch die Straßen getragen. Doch wer trocknet die Tränen all derer, die von Schmerz zerrissen in den Armen ihrer Begleiter zusammenbrechen, weil sich ihr Sohn, ihr Mann, ihr Bräutigam, Vater, Bruder oder treuer Freund nicht in ihren Reihen befindet?

Bleibt mir vom Leibe mit euren Lügen von Ehre und Tapferkeit, verschont mich mit euren Sprüchen von Freiheit und Gerechtigkeit, lasst mich bloß zufrieden mit eurem Geschwätz von Vaterlandsliebe und Heldentod, es ist kein hehres Opfer, das da als schwarzes Blut im Dreck versickert, es ist sinnlos vergeudetes Leben, weggeworfenes Gut und geschändetes Heiligtum.

Fragt nicht die Überlebenden, sie werden ihren Schmerz, ihr bohrendes Gewissen und ihre quälenden Erinnerungen in Trotz und Wut ersäufen, werden dem Aberwitz Sinn abzuringen trachten ihr verdammtes zerbrochenes Leben lang, fragt nicht einmal die, die von den Gefallenen zurückgelassen sind, denn ihre Hände werden Kränze flechten und Denkmäler bauen, gegossen aus ihren versteinerten Tränen und einer gnädigen Lebenslüge, die ihnen das untragbare Leid erträglicher scheinen lässt.

Nein, fragt die Toten selbst.

Fragt dieses graue namenlose Heer, das nachts aus seinen Gräbern steigt und durch die kahlen Felder irrt, wo bin ich und wo ist mein Weg nach Hause raunen sie, was ist mir nur geschehen? Nicht für Gott, nicht für Kaiser, nicht für Präsident, Vaterland und Freiheit würden sie es zulassen, um nichts in der Welt würden sie es in Kauf nehmen, von ihren Familien und Liebsten getrennt zu sein für immer, wenn sie nur könnten, doch es ist zu spät.

Aber wer fragt sie schon? Nur ein einsamer Desperado, der durch die Finsternis reitet, und auch der weiß ihnen weder Rat noch Hilfe. Es tut mir leid, Kamerad, doch dein Weib ist längst verheiratet und hat fünf Kinder mit deinem besten Freund, der sie getröstet hat in ihrem Schmerz und sich ihrer angenommen. Du hast kein Zuhause mehr für dass es sich zu kämpfen und sterben lohnt, da ist niemand mehr der auf deine Rückkehr wartet, nicht ein einziger, nicht einmal dein Hund.

Soll ich das zu ihnen sagen? Sie würden mir sowieso nicht glauben. Ich weise ihnen Weg und Richtung so ich kann, mögen sie hoffnungsvoll und froh losmarschieren, denn so weit sie auch kommen, das erste Tageslicht wird sie in ihre Gräber zurückverbannen, mit der hereinbrechenden Nacht wird ihre Erinnerung erloschen sein, sie werden erneut herumirren und den ersten Reiter nach dem Weg fragen, bis ihre arme Seele Frieden finden kann irgendwann.

Die Meisten nehmen sie sowieso nicht wahr, ich wurde nicht nur einmal Zeuge, dass ein schläfriger Reiter einfach durch die heranstolpernden Ratsuchenden hindurchgeritten ist, ohne auch nur das Geringste zu spüren oder merken von ihrer bemitleidenswerten Anwesenheit, ja außer mir kann sie offenbar keiner sehen, was nun nichts ist für das ich eine Erklärung suche.

Ich kann weder etwas dafür noch etwas dagegen tun, also warum lange fragen nach einem Wieso, wenn eine Antwort nichts ändert daran? Längst habe ich mich an ihren Anblick gewöhnt, sie sind harmloser als eine tieffliegende Eule und ungefährlicher als das Schlupfloch eines Erdhörnchenbaus, warum also sollten sie mich noch erschrecken?

Was mich entsetzt bis aufs Gebein ist der Schuldige, das bluttrinkende menschenfressende Ungeheuer, das sie dazu verdammt hat, Nacht für Nacht durch den Nebel zu irren.

Der Krieg, der Mörder aller Dinge.
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