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Alt 27.11.2010, 10:53   #1
Hans Werner
 
Dabei seit: 03/2008
Beiträge: 84

Standard Über das Schreiben

Über das Schreiben

Studie von
Hans Werner


Zu den ganz entscheidenden Bildungsvorgängen in frühester Kindheit gehört der Erwerb der eigenen Sprache. Man nennt sie auch die Muttersprache, vielleicht weil man sie einsaugt wie die Muttermilch. Mit der Mutter, der Sprachmutter, hat das Kleinkind einen unvergleichlich engen Kontakt, wenn es unter gesunden und normalen Umstanden aufwachsen darf. Eigentlich könnte man auch „Vatersprache“ dazu sagen, denn die später einsetzende, differenzierende Ausgestaltung der Sprache geht wohl auch auf die Nachahmung der komplexeren Satzgebilde zurück, die man vielleicht zuerst aus väterlichem Munde vernimmt. Aber man sollte hier nicht wertend abstufen und verallgemeinern.
Über den kindlichen Spracherwerb sind viele Theorien entstanden. Denn es handelt sich hierbei um einen derart rätselhaften und rasch ablaufenden Bildungsvorgang, dass man als Erwachsener aus dem Staunen nicht herauskommt. Im Laufe der Kindheit und der Jugend wird die Sprache immer mehr verfeinert und durch die Einflüsse der Umwelt bereichert. Das Ausdrucksvermögen des jugendlichen Menschen ist in dauerndem Wachstum begriffen. Allerdings kann man nicht immer sicher sagen kann, ob die Umwelteinflüsse eine wahre Bereicherung darstellen. Gerade in unserer Zeit der modernen Kommunikationsmedien können sprachverkürzende Tendenzen in den alles beherrschenden SMS das Sprachvermögen der Benutzer auch verarmen lassen. Aber das ist ein anderes Thema.
Wenn man sich überlegt, wozu die Sprache überhaupt dienlich ist, dann wird man zwangsläufig auf die elementaren Funktionen der Kommunikationsvorgänge verwiesen. Man kann, nach Bühler, Gefühle ausdrücken, andere Menschen beeinflussen und schließlich auch über Dinge und Personen Informationen geben. Expressiv, appellativ und informativ sind die drei Grundfunktionen des Sprechens. Das ist eine Binsenweisheit unter den sprachwissenschaftlichen Theorien und sie braucht eigentlich nicht mehr besonders bemüht zu werden.
Und dennoch müssen wir heute daran anknüpfen, wenn wir über eine höchst merkwürdige Art des Sprachgebrauchs nachdenken wollen. Wie kommen Menschen überhaupt dazu, zu schreiben? Welchen Sinn hat es, eigene Gedanken zu versprachlichen, aufs Papier zu bringen? Für einen Schüler ist es eine lästige Fron, wenn er schreiben muss. Ihm ist es ein Grundbedürfnis, den Pflichten des Schreibens aus dem Weg zu gehen, so gut er kann. Und nicht umsonst sind Sonderaufgaben für ihn Geißel und Strafe. Gibt es nun einen besonderen inneren Antrieb, der den Menschen dazu bringt, etwas zu tun, was er in früher Kindheit und Jugend verabscheute und was auch für ihn als Erwachsenen vielleicht gar nicht unmittelbar notwendig ist? Empfindet er, wenn er geschrieben hat, so etwas wie Befriedigung? Kann es sogar so sein, dass das Schreiben ihm zu einem Lustgewinn verhilft?
Die erste und älteste Funktion des Schreibens zielt auf briefliche Botschaften. Das gab es wohl schon immer, auch in Zeiten, als die Schreibtechniken noch sehr primitiv waren. Wenn ich mit einem Menschen nicht persönlich sprechen kann, zum Beispiel übers Telefon, dann kann ich ihm schreiben. Doch Vorsicht! Gibt es nicht auch viele Situationen, in denen der Mensch etwas schriftlich formuliert und übersendet, obwohl er problemlos den Adressaten auch anrufen könnte?
Das gibt es sehr wohl. Immer dann, wenn das sprachlich Formulierte ein besonderes Gewicht hat, wenn es rechtskräftig verbindlich sein soll, oder auch, wenn man wichtige Botschaften des Herzens mitteilen möchte. Auf das geschriebene Wort ist mehr Verlass als auf das bloß Gesprochene. Da ist nicht einmal böse Absicht oder generelles Misstrauen im Spiel. Das Gehörte rauscht vorbei und versinkt im Strom des Vergessens. Das geschriebene Wort steht da und kann immer wieder gelesen werden. Man kann darauf pochen, es zitieren, sich darauf berufen und kann nicht gehaltene Versprechungen einklagen. Das gilt sowohl für Rechtsbeschlüsse als auch für Liebesschwüre.
Aber auch diese Sicherheit ist trügerisch. Denn Papier ist bekanntlich geduldig. Und manches politische Versprechen war nicht einmal das Papier wert, auf das es geschrieben stand. Denken wir zum Beispiel nur an das Münchner Abkommen aus dem Jahre 1938. Der Drang des Menschen, wichtige Dinge schriftlich festzuhalten, rührt also von seinem Sicherheitsbedürfnis her und ist damit auch ein Zeichen eines generellen Vertrauensschwundes. Unter Viehhändlern ist heute noch der Handschlag üblich, wenn man ein Geschäft besiegeln möchte. Und wehe dem Händler, der den Handschlag nicht einhält und gegebene Zusagen missachtet! Er darf sich auf Viehmärkten nicht mehr sehen lassen. Euer Ja sei ein Ja und euer Nein sei ein Nein, heißt es in der Schrift. Des Menschen Wort soll verlässlich sein und ein guter Charakter steht zu seinem Wort.
Würde man diesen Gedanken verabsolutieren, dann wäre, wenn der Mensch zu höchster moralischer Vollkommenheit gelangte, jede Form der schriftlichen Fixierung überflüssig. Das gesprochene Wort hätte eine bindende Kraft, die, wenn es einmal über die Lippen gekommen wäre, nie nachlassen dürfte. Aber wir wissen natürlich, dass ein solche Zielvorstellung nicht zu verwirklichen ist. Denn unser Gedächtnis ist alles andere als zuverlässig und oft können wir uns schlichtweg an Gesagtes nicht mehr oder nur noch unvollkommen erinnern, selbst wenn wir es wollten. Wollten wir diesen Tatbestand abstreiten, wären wir nicht nur realitätsfern, sondern geradezu unmenschlich. Denn es ist dem Menschen eigen, dass er vergessen darf und auch vergessen muss, denn im Vergessen entlastet er sein Bewusstsein und hält es flexibel, damit es sich der Flut von neuen Botschaften, die täglich darauf einströmen, öffnen kann. Könnte man nicht vergessen, wäre das die größte Marter, die dem menschlichen Geist auferlegt wäre.
Das ist das Eine. Nun aber gibt es noch etwas anderes. Wir wissen aus Erfahrung, dass wir, im Denken immer nur eine ungefähre Vorstellung von einer Sache haben und dass wir, wenn wir anfangen zu formulieren, oft nach treffenden Ausdrücken suchen müssen. Dabei wissen wir nicht genau, ob im Suchen nach dem treffenden Ausdruck der ursprüngliche Gedanke erst geschärft wird und die Sprache sozusagen unseren vorsprachlich überlegten Gedanken erst zur wahren Geburt verhilft, oder ob es umgekehrt ist, und der Gedanke in seiner messerscharfen Klarheit jenseits aller Worte bereits existierte und wir hinterher den ganzen Wortschatz fein ausloten müssen, um die nötigen Wörter zu finden, die wenigstens annähernd der Intention unseres Denkens gerecht werden.
In beiden Fällen aber ist es so, dass die Sprache, das ausformulierte Denken, die vorsprachlichen Bewusstseinsinhalte schärft und im gelungenen Wort eigentlich erst recht zur Geltung bringt und aufleuchten lässt. Wer mit sich selbst diese Erfahrung schon gemacht hat und durch intensiven Sprachgebrauch immer wieder macht, weiß gut, wovon ich rede. Und er weiß auch, dass die Aufhellung des eigenen Denkens durch die Sprache dem Menschen ein geistiges Glück beschert, das in seiner keuschen Reinheit unter den vielen Formen irdischen Glücks seinesgleichen sucht.
Indem der Mensch schreibt, schreibt er zunächst für sich selbst. Und alles, was darauf folgt, ist im Grunde nur weitere Zugabe. Natürlich hat man, wenn man etwas geschrieben hat und hinterher von der Deutlichkeit der gedanklichen Darstellung selbst angetan ist, unwillkürlich den Wunsch, das Geschriebene an andere weiterzugeben. Sei es in der Buchveröffentlichung, im Zeitungsbericht, oder im Brief, oder, wozu man vermutlich selten Gelegenheit hat, im Vorlesen vor einer Gruppe interessierter Zuhörer.
Die Prämisse des ursprünglichen Kommunikationsmodells, dass jedes Sprechen und Schreiben auf einen Adressaten zielt, ist also erst in einem zweiten Schritt gültig. Zunächst einmal ist beim Schreiben der Schreiber selbst sein Adressat. Er schreibt sozusagen in sein Bewusstsein hinein, er schreibt für sich selbst. Und er selbst gibt sich beim Schreiben immer wieder Antwort. So zieht ein geschriebener Gedanke den nächsten nach sich. So entsteht ein Text, sei es ein philosophischer oder auch ein erzählender.
Nun sind wir an einem Punkt angelangt, wo wir über den besonderen Fall des Tagebuches sprechen müssen. Das Tagebuch ist an keinen Adressaten gerichtet, wenn nicht an den Schreiber selbst. Im Tagebuch notiert er sich die wichtigsten Ereignisse des vergangenen Tages. Er muss auf kein anderes Bewusstsein Rücksicht nehmen, sondern schreibt die Erfahrungen und Empfindungen so nieder, wie sie auf seine eigene Psyche gewirkt haben. Deshalb ist der Vertrautheitsgrad bei einem Tagebuch sehr hoch, wohl höher als bei jeder anderen Textsorte. Sogar im persönlichen Brief, im Liebesbrief oder auch im vertrauten Brief an einen Freund oder Angehörigen, gibt es immer einen kleinen Korrekturfaktor, der den Schreiber bei der Wahl der Ausdrücke oder auch bei dem Selektieren der Gedanken und Gesichtspunkte unbewusst lenkt und leitet. Indem man an den Empfänger denkt, fühlt man unwillkürlich, wie das Geschriebene auf ihn wirken wird, und vermeidet, ist man ihm gut gesinnt, schonungslose Wahrheiten oder harte Prinzipienmeinungen, die den andern vor den Kopf stoßen oder verletzen könnten. Man macht das unwillkürlich, wenn man mit dem Brief nicht von vornherein auf Konflikt und Streit aus ist.
Diese Art von inhaltlicher Selektion findet im Tagebucheintrag nicht statt. Hier schreibt man von der Seele, was einen bedrückt oder beeindruckt. Man zählt auf, was war, was man erlebt hat und was man für wichtig hält. Denn der Tagebuchschreiber ist sich der Bedeutung der Zeit bewusst. Wenn Zeit verflossen ist, dann ist ihm wichtig, dass er das Gewesene nicht der Gefahr des Vergessens aussetzt. Er will festhalten, was er erlebt hat. Für wen? Für welche Leser? Nun, in erster Linie für sich selbst. Weil er, wenn viel Zeit vergangen ist, das Tagebuch wieder liest und dabei überrascht erkennt, welche Erfahrungswege er in seinem Leben zurückgelegt hat. Das Tagebuch verhilft dem Schreiber, über sein eigenes Leben den großen Überblick zu bewahren. Goethe soll einmal gesagt haben, er könne den Menschen, der kein Tagebuch führt, nicht achten.
Aber das Tagebuch ist auch als Textsorte oft ein Ersatz für wirkliche Beziehungen, die dem Schreiber wegen seiner besonderen Lebensumstände versagt sind. Das klassische Beispiel hierfür ist das berühmte „Tagebuch der Anne Franck“, jener 14-jährigen Jüdin, die sich in der Nazizeit mit ihrer Familie irgendwo in Amsterdam auf einem Dachboden lange Zeit versteckt hielt, bevor die Familie von SS-Schergen abgeholt wurde. Dieses Tagebuch ist erhalten geblieben und stellt ein erschütterndes Dokument dar für die grenzenlose Vereinsamung eines pubertierenden und höchst sensiblen Mädchens, das in der Enge des Dachboden-Verstecks nicht die Möglichkeit hatte, einen passenden altersgerechten Umgang zu pflegen. Sie erfand eine fiktive Gesprächspartnerin - sie nannte sie Kitty - und schrieb all ihre Gedanken an dieses imaginäre Gegenüber. Eigentlich ist diese imaginäre Freundin Kitty nur eine Spiegelung ihres eigenen Bewusstseins. Und dennoch hatte sie beim Schreiben wohl die Empfindung, ihre eigenen Probleme und Schwierigkeiten einem anderen verständnisvollen Menschen restlos anvertrauen zu können.
Indem sie schrieb, konnte sie ihre Sehnsüchte und Einsamkeitsgefühle formulieren und objektivieren. Und gerade dieser Vorgang des Ausformulierens und Objektivierens kann für den Menschen zu einer unverzichtbaren Selbsthilfe werden. Das Schreiben bekommt somit die Funktion einer Therapie. Denn, indem man die grauen Gespenster der eigenen Depression in Sprache bannt, muss man sie definieren und damit abgrenzen. Dabei werden sie in der Vorstellung konkret gezeichnet, erscheinen der Psyche wie eine Gestalt und verlieren das grenzenlos Nebulöse, das zuvor den depressiven Menschen wie mit einem giftigen Gas umhüllte. Im Schreiben gewinnt er Abstand von allem, was ihn beschäftigt, belastet und bedrückt. Es ist so, als ob er sich beim Schreiben wie ein Vater oder guter Freund bei der Hand nimmt und zu sich selbst sagt: nun fasse dich und nimm alles nicht so schwer. Beim Schreiben erlangt der Mensch sein Selbstbewusstsein wieder und kann die Zügel seines Lebens souverän die Hand nehmen. Im Schreiben erlangt sein geschwächter Lebenswille wieder neue Kraft und neue Energie.
Wir haben soeben von der heilsamen Wirkung des Schreibens gesprochen. Nicht umsonst sagt man, man könne sich frei schreiben. Also ist das Schreiben ein Mittel, die eigene Freiheit, die man vielleicht durch die Lebensumstände verloren hat, ein Stück weit wieder zu erlangen. Man denkt an den berühmten Schriftsteller Franz Kafka, der die Nacht zum Tag machte, indem leidenschaftlich schrieb und die „Darstellung seines traumhaften inneren Lebens“ zum Hauptzweck seines ganzen Lebens machte, wie er sagte. Die verschiedenen Ansätze, sich mit einer Lebenspartnerin durch Verlobung und Verheiratung zu verbinden, sind, wie wir wissen, daran gescheitert, weil er fürchtete, die Partnerin könnte in seinem Leben dem Schreiben den Raum streitig machen. Er hat die Freiheit seines Schreibens mit Zähnen und Klauen verteidigt, obwohl dieses Schreiben ironischerweise ihm die Entscheidungsfreiheit zu einer bürgerlich konstruktiven Familiengründung genommen hat.
Nicht selten geschieht es, dass ein Mensch, der kommunikative Defizite hat, sich zum Beispiel mit seinem Lebenspartner nicht über alle wesentlichen Dinge aussprechen kann, wider Willen zum Schriftsteller wird. Er flüchtet sich in einen privaten Raum, setzt sich an die Schreibmaschine oder an den Personalcomputer und beginnt, Texte zu tippen. Da schlägt dann dem Glücklichen keine Stunde und er oder sie kann bis in die Nacht hinein schreiben. Beim Schreiben taucht er ab in die wirklichen Tiefen seiner Seele. Und wenn er hinter dem letzten Satz den Punkt gesetzt hat, betritt er, psychisch wunderbar gestärkt, wieder den Boden der Wirklichkeit. So wird das Schreiben zu einem seelischen Brunnen, es nährt den einsamen Menschen wie göttliches Manna in der Wüste, es verleiht den gebrochenen Schwingen seiner Seele wieder die ursprüngliche Kraft und Elastizität. Er schreibt und erfährt im Schreiben die souveräne Freiheit des gedanklich unabhängigen Menschen. Da muss man nicht befürchten, missverstanden zu werden. Man muss nicht befürchten, dass ein Gesprächspartner mit einer verächtlichen Bemerkung einem den Faden des Denkens abschneidet. Man darf seinen Gedanken und Gefühlen vertrauen und erlebt die eigene Sprache als ein verlässliches Werkzeug, das einem, wie dem Krieger Schwert und Schild, in jeder geistigen Lage zu Gebote steht.
Wenn ein Mensch so weit gekommen ist, dass er aus sich selbst heraus und für sich in der Einsamkeit schreibt, dann wird sein Schreiben literarisch. Dann wird er zum Schriftsteller, auch wenn es für das von ihm Geschriebene keinen einzigen Leser gibt. Ein Schriftsteller ist ein Mensch, der schreiben muss, auch wenn niemand sich für das interessiert, was er schreibt. Er beginnt, Handlungen zu erfinden, Geschichten zu gestalten, in denen Menschen, Personen als Handlungsträger vorkommen und in denen sich seine eigene Wesensart facettenreich spiegelt. Er nimmt als Schreiber eine Haltung ein, die, ohne den Mund zu voll zu nehmen, der Rolle Gottvaters ähnelt, der in der Genesis seine eigene Welt erschaffen hat. Auch der Schriftsteller formt Menschen und Schicksale aus seinem Herzen. Und er lässt sie agieren in einer Wirklichkeit, die von ihm, dem Autor, geschaffen ist.
Diese Wirklichkeit kann der unseren ähneln, muss es aber nicht. Gerade im Bereich der fantastischen Literatur entstehen Handlungsräume, die in ihrer Unwirklichkeit den Leser faszinieren. Oft aber führen sie ihm ein Lebensbild vor Augen, das in unserer Welt so nicht vorkommen könnte, wohl aber in der Fantasie des Dichters, und von dem der Lesers ahnt, dass es so sein könnte, oder vielleicht sogar so sein müsste. Denn der Dichter engagiert sich, indem er erfindet. Der schöpferisch schreibende Mensch hat von nun an ständig Umgang mit seinem Werk. Auch wenn er nicht schreibt, denkt er an seine Figuren und an die Handlungen, in denen er sie spielen lässt. Und mit diesen Handlungen grenzt er sich von der Welt ab, wie sie um ihn ist und die ihn nicht immer befriedigt.
Man kann sogar sagen, dass der schreibende Mensch von Natur aus eine kritische Haltung zur konkreten Wirklichkeit einnimmt. Denn die Welt, so wie sie ist, die Gesellschaft, so wie sie lebt, und die Menschen, so wie sie urteilen und verurteilen, sind nicht das Optimum der Schöpfung. Der schreibende Mensch erkennt mit der Feinfühligkeit seiner seelischen Antennen die Schwächen unserer Welt und unserer Gesellschaft. Es ist daher kein Allgemeinplatz, wenn wir sagen, dass der Dichter Gesellschaftskritiker ist, sondern dieses ist eine natürliche Folge seines Tuns. Wer schreibt, nimmt Wohnung in seinem eigenen Gewissen und findet dort die Maßstäbe allen Handelns und Urteilens. Und wenn er von den Maßstäben seines Gewissens ausgeht, muss er zwangsläufig mit den herrschenden Maßstäben der Gesellschaft in Konflikt geraten. Denn er sieht als Einzelner die Schicksale Einzelner, und er erkennt im Verlauf der schicksalhaften Lebenskurven die Ungerechtigkeit der Welt und der herrschenden Masse. Der Dichter fällt, ob er will oder nicht, aus der Masse heraus. Er erhebt sich über die Masse und urteilt über sie. Deshalb ist er für die Menschen insgesamt so wichtig. Ohne Schriftsteller und Dichter würde das Gewissen der Menschheit verkümmern. „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“ Nie kann ich Kafkas Zitat vergessen. Wer schreibt, sollte immer an dieses Zitat denken.
Aber der Schriftsteller muss nicht nur ein radikaler Kritiker der Welt sein. Er kann auch in der Freude an dem sich stets erweiternden Ausdrucksvermögen ein eigenes stilles Glück erleben. Der Humor als Schreibhaltung ist uns von vielen großen Autoren bekannt, namentlich dann, wenn sie, wie die deutschen Realisten, eher eine Neigung zu depressiver Grundstimmung aufweisen. Aber der Schriftsteller ist wie kaum ein anderer begabt und befähigt, das Verhalten der Menschen zu durchschauen und im Durchschauen menschlicher Schwächen auch zu verzeihen und den Leser zu einer verständnisvollen verzeihenden Haltung zu führen. Ein tiefer Ironiker ist nicht nur ein Seelenzergliederer, sondern er kann auch heimlich beim Formulieren auf seinen Stockzähnen lachen. Und dieses geheime oder heimliche Lachen beim Schreiben ist das wahre Vergnügen des Schriftstellers. Nur wer selbst einmal belletristisch geschrieben hat, kann dieses Vergnügen nachempfinden. Hätten die andern davon auch nur die geringste Ahnung, sie würden vor Neid gelb werden. Ein tieferes Glück als die heimliche Freude des formulierenden Dichters ist kaum vorstellbar. Deshalb schreibt der Dichter in erster Linie für sich selbst. Sich selbst bereitet er den Hauptgenuss. Wenn andere auch noch danach lechzen, umso besser für ihn. Aber es ist nicht die Voraussetzung für sein Schreiben.
Ist ein Mensch einmal so weit gekommen, dass er das Schreiben als seine unausweichliche Bestimmung betrachtet, dann kann es natürlich geschehen, dass seine Produkte unters Volk kommen. Es gibt heute zahlreiche Kanäle der Veröffentlichungsmöglichkeiten, wenngleich es immer schwieriger wird, für erste Werke einen Verlag zu finden, der bereit ist, das finanzielle Risiko einer unsicheren Vermarktung einzugehen. Aber es gibt Zeitschriften, es gibt Internetforen, es gibt Print-on-demand-Verlage, die auch kleine Auflagen drucken und damit die finanzielle Eigenbeteiligung des Autors gering halten. Auf jeden Fall wird ein schreibender Mensch irgendwann danach trachten, seine Sachen anderen Menschen mitzuteilen, zu veröffentlichen. Er tut das nicht aus Selbstgefälligkeit oder aus Künstlerstolz, sondern aus einem Verlangen nach Kontakt mit der Welt, das durch das Schreiben selbst in ihm entsteht. Er will verwandte Seelen suchen. Das klingt nun sehr pathetisch, trifft aber wohl den Kern der Sache. Der schreibende Mensch erfährt, je länger und intensiver er in sich hinein schreibt, auch die tiefe Vereinsamung des Künstlers. Aus diesem geistigen Einsamkeitsgefühl entsteht nun eine unbezwingbare Sehnsucht nach Vereinigung mit einer großen, zunächst anonymen Öffentlichkeit. Und oft geschieht es, dass der schreibende Mensch im Gedankenaustausch mit feinfühligen Lesern ein tiefes Glück freundschaftlicher Begegnung erfährt, das sich in dieser Intensität wohl in keinem anderen Lebensraum ereignen kann. Die aus Literatur entstandenen geistigen Freundschaften überstrahlen in ihrer keuschen Reinheit alles, was an Liebe, Freundschaft und Zuneigung sonst zwischen Menschen möglich ist.
Aus der Sehnsucht nach solchen Freundschaften ereignet sich nun das Seltene, dass der Dichter in rückhaltlosem Vertrauen, ohne seinen eigenen Leumund zu schonen, seine innersten Empfindungen und Gedanken einer ihm gänzlich fremden Welt mitzuteilen bereit ist.
Der Dichter handelt daher oft im bürgerlichen Sinne unklug. Hat er keinen Erfolg mit seinen Schriften, dann wird er zur Zielscheibe von Spott und Hohn. Nur wenn eine breite Öffentlichkeit ihm Anerkennung zollt, dann sind auch die Bürger bereit, vor ihm den Hut zu ziehen. Immer wieder denke ich hierbei an das tiefsinnige Sonett von Charles Baudelaire mit dem Titel „Albatros“. Dieser mächtige Vogel ist in seinem Element, den Lüften, Wolken und Winden, wahrer König und Herrscher. Steht er aber auf den Planken des Schiffes, dann hindern ihn seine mächtigen Schwingen am Gehen. Und die Seeleute, die von seinem kühnen Flug nicht die mindeste Ahnung haben, übergießen ihn mit ihrem Spott.
Also ergeht es auch dem Schriftsteller. Er erlebt, indem er seine Werke einer breiten Öffentlichkeit mitteilen möchte, häufig die Erfahrung, ausgegrenzt zu werden. Denn mit ihrem dumpfen Bürgerinstinkt fühlen die andern, dass er anders ist als sie. Und der Bürger agiert und reagiert in der Masse und lässt sich vom Masseninstinkt treiben. Er sondert das Fremdartige aus, geht ihm gegenüber zumindest auf vorsichtige Distanz. Mit dieser Erfahrung muss der Schriftsteller leben. Und jedermann, der der Versuchung erliegt, in seinem Leben das Schreiben zu seinem schicksalhaften Hauptzweck zu machen, muss wissen, worauf er sich mit diesem alles verzehrenden Hobby einlässt. Es kann sein, ihm winkt ein glückliches Geschick und es wird ihm, vielleicht erst nach seinem Tod, ein Lorbeerkranz aufs Haupt gesetzt. Dann hat er das bessere Teil erwählt. Es kann aber auch sein, dass er unbekannt und unverstanden bleibt, dann zahlt er einen bitteren Preis für die verlockende Versuchung, am Kelch der Kunst zu nippen.
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