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Alt 01.04.2019, 22:33   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Ein Geschenk des Himmels

Eva konnte nicht einschlafen. Durch das offene Fenster drang der Uhrenschlag der nahegelegenen Kirche an ihr Ohr und verkündete zwei Uhr früh. Aber unmittelbar nach diesem zweimaligen, dunklen Dröhnen sank die Welt zurück in ein Schweigen, das Eva unheimlich war, weil es ihr das Gefühl gab, alle Existenz außerhalb ihres Schlafzimmers sei für immer und ewig erloschen.

Sie drehte sich auf die Seite, stützte den Ellbogen auf und schmiegte ihr Kinn in die Hand. In dieser Stellung verharrte sie und betrachtete Maik, der bis zu den Hüften mit einem Laken bedeckt war und im Tiefschlaf gleichmäßig atmete wie ein neugeborenes Kind. Er war von einer makellosen Schönheit, die sie an die Skulpturen erinnerte, die sie im Musée d’Orsay gesehen hatte. Nachdem sie sich an seinem markanten Gesicht, seinen vollen, fast weiblichen Lippen und an seinen breiten Schultern sattgesehen hatte, schlug sie die Bettdecke zurück, stand auf und ging ins Badezimmer.

Was sie im Spiegel sah, gefiel ihr nicht. Sie hatte geschwollene Augen, was sie nach ihrem Wein- und Cognac-Konsum am vergangenen Abend nicht überraschte. Ihr Makeup war verschmiert, und die Haare, die einmal kunstvoll aufgetürmt gewesen waren, hingen schlaff herunter. Trotzdem konnte sie sich eines Lächelns nichts erwehren: Für eine wilde Nacht, wie sie hinter ihr lag, waren solche leicht reparablen Blessuren kleine Opfer. Mit ein paar Tricks ließ sich ihre optische Erscheinung in ein passables Bild zurückverwandeln, und gegen die Müdigkeit konnten ein paar Tassen starken Kaffees Wunder wirken. Aber bis dahin hatte sie noch einige Stunden Zeit.

Sie griff nach einem Wattebausch, tränkte ihn mit Körperlotion und begann, sich das Make-up von den Augen zu wischen. Als sie das Schnarren ihres Smartphones hörte, das auf ihrem Nachttisch lag, glaubte sie zu träumen und ignorierte es. Wer, zum Kuckuck, sollte mitten in der Nacht anrufen? Doch das Smartphone schnarrte weiter.

Eva eilte ins Schlafzimmer, um zu verhindern, dass Maik davon geweckt wurde. „Hallo?“

„Ich bin’s, Schätzchen. Dachte eigentlich nicht, dass du schon zu Hause bist.“

Astrid. So ziemlich der schrägste Vogel in Evas Clique und für jede Überraschung gut.

„Sag mal, bist du bescheuert, mich um halbdrei in der Früh anzurufen? Oder ist jemand gestorben?“

Astrid kicherte. „Es ist erst zehn nach zwei, Schätzchen, und außerdem habe ich nicht damit gerechnet, dich zu erreichen. Hab’s einfach mal auf gut Glück probiert. Wie ist er denn, dein Neuer?“

Eva setzte sich vor Verblüffung über diese Frage auf die Bettkante. „Welcher Neuer?“

„Na, der Typ, mit dem du heute – nee, ich meine gestern Abend um die Ecken gezogen bist.“

„Woher weißt du das?“

Astrid kicherte, statt zu antworten, und Eva dämmerte augenblicklich, dass Cornelia den Mund nicht gehalten hatte. Ausgerechnet Cornelia, die einzige, von der sie überzeugt war, ihr noch vertrauen zu können. Die Letzte, die sie von ihrer Liste streichen musste. Künftig würde sie kein Sterbenswort mehr über ihre privaten Angelegenheiten und schon gar nicht über ihr intimes Leben rauslassen - an niemanden.

„Also sag mir, wie er ist. Hast du ihn schon in der Falle?“

Eva spürte, wie ihr heiß wurde. „Das geht dich einen feuchten Dreck an!“

„Na, na, Schätzchen, jetzt hab dich nicht so. Bisher haben wir uns doch immer alles erzählt. Wieso bist du auf einmal so zickig?“

„Die Zeiten ändern sich eben. Ihr könnt euch ja weiterhin mit euren pubertären Pickelgesichtern in irgendwelchen Ecken herumdrücken, damit ihr euch gegenseitig befummeln könnt. Ich ziehe es vor, erwachsen zu werden.“

„Oho, befummeln reicht dir nicht mehr. Du willst es richtig haben, unten rein und zum Hals wieder raus, und möglichst hart …“

„Lass das, Astrid. Du bist vulgär.“

„Und du sitzt plötzlich auf einem gewaltig hohen Ross, Schätzchen. Oder bist du über Nacht unter die Spießer gefallen?“

„Jetzt reicht’s. Ich bin nicht dein Schätzchen. Und künftig lasse ich mir nicht mehr meine Jungs von dir ausspannen, du falsches Luder.“

„Die fanden mich halt hübscher als dich.“

„Weil sie dich nicht von innen gesehen haben, du Dreckstück. Der Clique kannst du ausrichten, dass ich mit keinem von euch mehr zu tun haben will.“

„Das werden wir noch sehen, du arrogantes …

Eva schaltete das Smartphone aus und warf es wütend auf ihre Bettdecke. Maik hatte von dem Gespräch nichts mitbekommen, sondern weilte noch immer tief in Morpheus‘ Schoß. Nein, dachte Eva, dieses Prachtstück von Mann ließ sie sich nicht wieder wegnehmen. Er sah gut aus, war witzig und unterhaltsam und im Bett eine Wucht. Obendrein hatte er einen beneidenswerten Beruf: Er war Schauspieler, zwar noch ein junger, unbekannter Nebendarsteller, aber immerhin hatte er den Fuß in der Tür. Diesmal, nahm sich Eva vor, bin ich schlauer und erzähle niemandem von Maik. Ich stelle ihn der Clique nicht vor, unternehme nichts mit ihm und der Clique gemeinsam, und ich sage auch niemandem, dass er mich zu dem Set mitnehmen will, wo er seinen nächsten Einsatz hat und auf den ich tierisch neugierig bin. Schon gar nicht erzähle ich, dass ich, nachdem er mich angesprochen hatte, nicht abwarten konnte, ihm die Klamotten vom Leib zu reißen.

Eva hielt sich strikt an ihre Strategie. Von der Clique – Astrid, Birgit, Constanze, Britta, Dunja und Cornelia – bekam sie Nachrichten auf ihren Anrufbeantworter, die sie unbeantwortet ließ. Ihre fehlte nichts, denn sie hatte Maik, der sie hofierte und verwöhnte. Noch vor wenigen Wochen hatte sie eine kleine Panikattacke gehabt, weil ihr fünfundzwanzigster Geburtstag bevorstand und sie immer noch keinen festen Freund hatte, mit dem sie den „Rest ihres Lebens“, den sie als nicht mehr allzu lang einschätzte, hätte planen können, während bei ihren Cousinen und Cousins schon das zweite Kind unterwegs war und der Hausbau geplant wurde.

Doch jetzt hatte sie Maik, der sich ernsthaft um sie bemühte und sie sogar zu seinen Dreharbeiten einlud.

Aus Gründen, die ihr Maik logisch erklärte, wohnten sie am Drehort in verschiedenen Hotels. Ein junger, phantastisch aussehender Filmschauspieler, dessen Stern gerade am Aufgehen war, durfte sich mit Fans und Groupies sehen lassen, aber nicht mit einer festen Freundin, denn das wäre seiner Karriereplanung abträglich gewesen und hätte den Missmut seines Agenten heraufbeschworen. Eva zeigte sich verständig und fand eine vorübergehende Trennung sogar prickelnd, denn so konnte sie sich auf das heimliche Treffen am Abend freuen. Der einzige Wermutstropfen war die Tatsache, dass sie nicht am Set dabei sein durfte, denn die Arbeit der Crew hätte sie wirklich interessiert. Aber vielleicht ließe sich das ja später noch inkognito arrangieren.

Im Hotelzimmer packte sie ihre Kleidung aus, und als sie damit fertig war, ging sie auf Erkundung. Der Drehort zeigte ein atemberaubendes Panorama aus dichten Wäldern vor einer aufragenden Bergkulisse, zu deren Füßen ein See die Wolken spiegelte. Wundervoll kitschig, dachte Eva, aber zum Weinen schön. Sie atmete die reine Luft, genoss die Unebenheiten des Wanderweges unter ihren Füßen und kam mit sich und Welt im Einklang in ihr Hotel zurück. Dort überreichte der Rezeptionist ihr eine Nachricht. „Dreharbeiten für mich beendet. Treffe dich heute Abend im Restaurant meines Hotels, 19 Uhr. Freue mich. Liebe dich. Maik.“

Sie zog ihr schönstes Kleid an und gab sich mit ihrem Make-up besonders viel Mühe. Als sie fertig war und sich vor dem Spiegel hin und her drehte, war sie davon überzeugt, wie eine Königin auszusehen.

Tatsächlich drehten sich die Gäste des Hotels nach ihr um, als sie das Restaurant betrat. Aber Maik war nirgends zu sehen. Sie wandte sich an den Ober, der ihr einen großen Tisch zuwies, an dem sieben Stühle standen.

„Das muss ein Irrtum sein.“

Doch der Ober bestand darauf, dass es der für sie reservierte Tisch sei.

Eva setzte sich und wartete. Der Ober kam, legte ihr die Speisekarte vor und platzierte rund um den Tisch weitere Speisekarten. Dann tauchte wie aus dem Nichts die Clique auf, angeführt von Astrid.

„Happy birthday, happy birthday, happy birthday to you …“

Eva fiel fast vom Stuhl. „Ihr hier? Was zum Teufel …“

Die Clique brach in Gelächter aus.

„Sag bloß, du hattest nicht den geringsten Verdacht. Der Maik war unser Geburtstagsgeschenk für dich. Hat uns eine hübsche Stange Geld gekostet.“

„Aber … aber … mein Geburtstag ist doch erst in drei Tagen.“

„Ja, schon. Aber ein bisschen mussten wir uns nach Maiks Terminkalender richten.“

Sie nahmen am Tisch ihre Plätze ein. Um Eva begann sich die Welt zu drehen wie um jemanden, der zu viel Promille getankt hatte.

„Wo ist er?“

Astrid, die neben ihr saß, schlug kokett die Augen auf. „Abgereist. Der hübsche Kerl hat einen vollen Terminkalender. Wir hatten Glück, dass wir ihn überhaupt für dich buchen konnten, damit er es dir eine Nacht lang gründlich besorgt. Die Nummer war natürlich nur mit Aufpreis zu bekommen, ansonsten wäre nur Anmache und Hofieren drin gewesen. Einen Anreitz, die Latte hochzukriegen, braucht so ein Kerl schließlich bei einer tauben Nuss wie dir. Also wie wär’s, für die heiße Nacht mal danke zu sagen?“

Der Faustschlag, der Astrid mitten ins Gesicht traf und sie zwei Zähne kostete, sollte später Gegenstand einer Gerichtsverhandlung werden, die in einem Vergleich endete. Während sich die Clique um Astrid kümmerte, die halb ohnmächtig am Boden lag und Blut spuckte, eilte Eva tränenüberströmt zum Ausgang des Restaurants. Dort fing sie ein älterer Mann mit beiden Armen auf.

„Langsam, junge Frau, langsam.“

Er reichte ihr sein Taschentuch. Keins aus Zellstoff, sondern aus Baumwolle. Eva nahm es, ohne zu wissen, was sie damit anfangen sollte. Sie stand nur da und heulte hemmungslos.

„Das ist genau, was ich brauche. Das ich echt. Meinen Sie, das können Sie vor der Kamera wiederholen?“

Eva hatte keine Ahnung, was der Mann meinte, doch sie nickte. Ihr war alles egal.

„Gut. Wir machen das gleich, bevor Sie es sich anders überlegen.“

Er stieß eine kurzen Piff aus, und sofort war er von vier Männern und einer Frau umringt. „Wir gehen ins Studio und machen Probeaufnahmen, jetzt gleich. Alles klar?“

Alle nickten.

Der Mann legte Eva den Arm um die Schulter und lenkte sie zum Ausgang. „Sie sind ein Geschenk des Himmels, genau das, worum ich Gott in Stoßgebeten anflehte. Sie müssen nur bleiben, wie Sie jetzt sind, dann mache ich aus Ihnen einen Star. Heulen Sie einfach nur, was das Zeug hält.“
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Alt 02.04.2019, 12:42   #2
weiblich DieSilbermöwe
 
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Gute Geschichte, ich habe mich beim Lesen köstlich amüsiert.

LG DieSilbermöwe
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Alt 02.04.2019, 13:21   #3
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von DieSilbermöwe Beitrag anzeigen
Gute Geschichte, ich habe mich beim Lesen köstlich amüsiert.

LG DieSilbermöwe
Danke. Da kannste mal sehen, was einem am Abend unerwartet ins graue Gebälk schießt. Ich hatte Zweifel, ob ich die Geschichte sofort einstellen oder erst ein paar Tage damit warten sollte.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 02.04.2019, 17:35   #4
weiblich DieSilbermöwe
 
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Beiträge: 6.687


Zitat:
Da kannste mal sehen, was einem am Abend unerwartet ins graue Gebälk schießt.
Es ist schon erstaunlich, wie einem manchmal die Einfälle zufliegen. Mir ist das schon einige Male passiert, wenn ich eigentlich etwas ganz anderes schreiben wollte.

Das war eine gute Idee, die Geschichte sofort einzustellen.

LG DieSilbermöwe
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.04.2019, 11:36   #5
animar
 
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Oh Ilka-Maria,
wirklich gut geschrieben, deine (fast) alle Geschichten haben mich so in ihren Bann gezogen und amüsiert hab ich mich auch. Du hast echt das Zeug zum Buchschreiben.

Ich musste so schmunzeln, als ich die beiden Namen 'Cornelia' und 'Maik' las. Cornelia, die offenbar den Mund nicht halten konnte. (Ich schwöööör's dir, ich tue es aber nicht. ja, ich heiße auch so) und meine 1. große Liebe damals hieß auch Maik. *schmunzel*

So...ich lese mal deine andere Geschichten...

VG animar
animar ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 03.04.2019, 11:42   #6
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
Zitat von animar Beitrag anzeigen
Ich musste so schmunzeln, als ich die beiden Namen 'Cornelia' und 'Maik' las. Cornelia, die offenbar den Mund nicht halten konnte. (Ich schwöööör's dir, ich tue es aber nicht. ja, ich heiße auch so) und meine 1. große Liebe damals hieß auch Maik. *schmunzel*
Zufälle gibt's - da kann man sich nur wundern.

Danke für's Feedback.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
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