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Alt 16.01.2020, 00:11   #1
weiblich Silver
 
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Standard Juliette

Schon als Kind war sie verträumt. "Juliette, hol mir ein Bier!", drang es an ihre Ohren. Die Stimme riss sie aus ihrer Phantasiewelt und ließ sie blitzartig den Raum verlassen. Dort vor der Tür konnte sie frei atmen, für den Moment sie selbst sein. Tränen stiegen in ihre Augen und sie setzte einen Fuß vor den anderen den schmalen Flur entlang. Jeder Schritt, der sie von der Tür entfernte, brachte sie der Freiheit näher und doch war sie eine Gefangene ihrer Wünsche und der Realität. Sie begann sich Mut zu zusprechen, flüsterte im Inneren zu ihrem Seelenkind. Wollte es trösten, ihm Halt geben und Liebe, die ihr, selbst erst 12 Jahre, so sehr fehlte.
Sie war so weit gekommen, tastete mit der zitternden Hand nach dem Lichtschalter in der Küche. Die Dunkelheit war ihr Freund und sie scheute sich, das grelle Neonlicht anzuschalten. Verzweifelt, da sie im Dunklen den Weg nicht finden konnte, griff sie nun mit beiden Händen an die Wand. Sie hätte das Flurlicht anmachen sollen, doch wir müssen Strom sparen, hörte sie die drohende Mahnung ihrer Vater, immer wieder in ihrem Kopf.
Endlich erfühlte sie den Lichtschalter und berührte ihn zaghaft. Sie war allein und doch mit sich im Gespräch. Gedanken kreisten und der Wunsch, nicht länger allein zu sein, wurde übermächtig. Das grelle Neonlicht schien ihrer Haut nicht zu schmeicheln. Die Badtür stand offen und als sie diese schließen wollte, schrie ihr das Spiegelbild direkt ins Gesicht. Es fiel nicht genug Licht in den kleinen Raum. So wurden nur ihre Konturen widergespiegelt. Sie erschrak und schmiss die Tür mit aller Wucht ins Schloss.
Da stand sie nun allein im Mittelpunkt des Geschehens. Was sollte sie holen? Warum konnte sie sich nicht erinnern? Krampfhaft ging sie gedanklich jeden einzelnen Schritt zurück, blieb erst vor der Stubentür stehen. Angsterfüllt und doch mit allem Mut, den sie noch aufbringen konnte, machte sie kehrt. löschte das Licht und tastete sich durch den schmalen Flur bis an besagte Tür. Sie würde mit leeren Händen und geneigtem Kopf ins Wohnzimmer eintreten.
Wieder tastete sie nach der Türklinke. Ihre schweißnasse Hand suchte Halt. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, aber sie war wild entschlossen, wenn er sie schlug, würde sie nicht weinen. Sie würde nicht fragen, was sie vergessen hatte zu holen, sie würde sich nicht erklären, denn sie konnte sich nicht erklären. Die Tür sprang auf: "Wo bleibst du denn solange, verdammt?" Ihr Vater sah sie an, diese jämmerliche Gestalt, deren Augen Löcher in den Boden starrten. "Wo ist mein Bier?", herrschte er seine Jüngste an. Juliette war entsetzt, wie hatte ihr das entfallen können? Wutentbrannt stieß ihr Vater sie gegen die Flurwand. Das Licht ging an. Aber es war ein guter Tag, er schlug sie nicht, sondern blitzte sie mit seinen braunen finsteren Augen an und verzog den Mund zu einem verächtlichen Lächeln:"Schickste Scheiße, kriegste Scheiße!", flüsterte er ihr zu.
Juliette hob trotzig den Kopf, schob das Kinn nach vorn und hielt dem Blick des Vaters stand. Er konnte die Verachtung in ihren Augen sehen und das machte ihn rasend. Plötzlich stand er vor ihr, packte sie bei den schmalen Schultern, zog sie dicht zu sich heran und krächzte mit heiserer Stimme in ihr rechtes Ohr: "Wenn du mich noch weiter so ansiehst, dann fick ich dir dein verdammtes Hirn aus deinem Schädel! Haben wir uns verstanden?" Sie konnte seinen warmen üblen Atem spüren. Siegessicher strahlte er sie an.

Sie war 12 Jahre, nicht sonderlich kräftig, aber sie hielt sich auf ihren Beinen, obgleich alles vor ihren Augen zu verschwimmen drohte. Juliette presste die Lippen fest aufeinander und harrte der Dinge, die da kamen. Er würde es nicht wagen, sagte ihre innere Stimme, das würde er sich nicht wagen! "Ich hole dir jetzt dein Bier", sagte sie ohne den Blick von ihm abzuwenden und befreite sich aus seiner Umklammerung.

Geändert von Silver (16.01.2020 um 09:26 Uhr) Grund: Änderung
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Stichworte
juliette, tagtraum, vater

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