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Alt 15.08.2011, 20:39   #1
männlich Paul Ruben
 
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Standard Sinn-Erlebnis Teil 2

Schwebender von Güstrow



Zu später Novemberstunde finden wir dich:
In einer dunklen Ecke des Güstrower Doms, ein Schatten, über einem alten Taufbecken aufgehängt.

„An dunkler Kette“, so „graugolden“ wie des Kirchenfensters „trüber“ Tag solltest du scheinbar wirken. -
Vielleicht für Barlach ein verborgenes Licht in ehemals finsteren ideologischen Zeiten.

Doch nun stehen wir davor und fassen es nicht.
Wie Fischer angeln wir im Trüben. Wie Kinder, von der nährenden Quelle abgeschirmt,versuchen wir die Schrift deines Schöpfers im Verborgenen zu entziffern und ahnen:

Vollkommene Harmonie des Widerspruchs!
Wie majestätisch – kraftvoll kommst du daher, Schwebender!
Massig hängst du und schwer an deiner Kette.
Und doch, auf den zweiten Blick wirkst du so unendlich zurückgenommen.
Unsagbar leicht, ja, demütig ist deine himmlisch-irdische Gestalt.
Da ist einer, der das Schwere in Leichte tragen kann, voller Anmut,
wie es wohl nur Engel können.
Aber ist er wirklich ein Engel, nicht vielmehr nur ein Mensch?
Ein Mensch, der schwebt…?
-Und Schwebender, schläfst du eigentlich?
Oder träumst du?
Wohin schaust du mit deinen geschlossenen Augen?
Du fliegst einfach mit angelegten Armen, aber über wen?-
Hätte ich eine Lampe in der Tasche, - heimlich und allein bei Nacht,
ich zöge sie und schiene dir in dein Gesicht!
Bronzen-hell, doch verinnerlicht erstrahlte nun dein friedvolles Antlitz.
Und plötzlich würde mir klar: Du schwebst über einen dunklen Traum von Welt.
So, als schwebtest du über unseren Traum, und indem du darüber fliegst, wäre dabei doch zugleich alles Schwere gut.
So, als wäre unser schweres Leben
selbst nur ein böser Traum und eigentlich voller Frieden,
-wie du.Dann würdest du nicht einfach über unsere Not fliegen.

Du würdest Krieg, Hunger, Krankheit und Tod in deinem Herzen bergen,
ein Herz, so groß wie das eines Bildhauers 1),
Dasselbe Herz, wie das der großen Gründer im Stillen,
die vielleicht gar keine Religion erschaffen wollten,
die aber mit ihrem Herzen noch im Tod
Himmel und Erde umspannten
und unseren schweren Alltag auch.

So könnte ich dich dann erkennen in meinem kleinen Licht:
Auf einmal wärst du einer, der wie wir nur ein Mensch ist,
einer, der auch das Leiden kennt,
der es aber überwunden hat.

Am Ende schaute ich genauer:
Und sähe dein erdgeprüftes Wesen. –
Befreit zu sich. An „graugoldener Kette“
wärest du dennoch frei…

Doch noch hängst du im Dunklen.
„Nun, der Künstler wollte es so.“ So?
Ein Kunstwerk, das nicht wirken darf ?
So gehen wir wieder und nehmen die Erinnerung mit an dieses Schweben,
auf einer Postkarte.

1)Ernst Barlach


Berliner Junge



Wann hatten die Engel aufgehört über eurer Stadt zu kreisen?
Wann fingen sie an, diese modernen industriellen Dämonen?
Wann begannen sie, sich in ihre stille Anmut zu stürzen, die Ufer der Spree und all die preußischen Alleen, Brücken und Dächer mit ihrem ohrenbetäubenden Lärm und Gestank zu erfüllen und einzig den oasischen Frieden der Hinterhöfe übrig zu lassen?

Im Zentrum von vierzehntausend Berliner Straßen und Autos und dem schrillen Schneiden ihrer U- und S-Bahnen durch diesen Moloch von „ Sony “- Glimmer - Bildschirmen, Dönerbuden, Touristenläden und anderen Scheinwelten des Konsums, fielen am „Kottbusser Tor“ auf einmal mit einem lauten Knall die Flügel einer Tür zusammen, als wäre es ein dumpfer Gummi- Hieb auf unsere Ohren:

Da bemerkte ich Dich neben mir.
Du suchtest Dich im nun anrollenden, eisernen Rumpeln des Wagons behände
festzuhalten. Zwar nicht ohne geschickt gelenkte Kraft, doch von der Übermacht der hin-
und her- entgleitenden, kreisenden Flächen und Griffe sichtlich überfordert, verlangtest Du nach Halt, hangeltest Dich an ihnen und der Mutter vergebens zur Ruhe, -ruhelos wie wir alle in dieser Stadt:

Ein stummes Bild von einem Kind, das nicht wie andere war.
Besonders Deine Hände schienen mir der vollkommene Ausdruck Deines schweigenden Sprechens zu sein. Fein wirkten sie und alt, fast gläsern ihre Knochen, so, als hättest Du in einem anderen Leben mit Deinen genial empfindsamen Fingern über die Öffnung einer schlanken Vase gestrichen und sie ans Licht gehoben, um ihrem Farben-Klang zu lauschen.
Ja, wie ein verborgenes Kunstwerk war Deine ganze zarte Gestalt, Deine unendlich geformten Ärmchen und Knöchelchen in dem zerschlissenen, fleckigen Jogginganzug.

Welche unsichtbaren Bildner hatten einst im Mutterschoß Dein engelhaftes, blondes Gesicht gemeißelt, Deine nach innen gewendeten Augen geliebt, die deswegen nicht mehr nach Außen zu blicken schienen, weil sie vielleicht von dieser beängstigenden Welt schon nicht mehr viel erwarteten. Einer Welt, die Du nur zu gut kanntest in Deinen jungen Jahren. War Sie doch einst schon in den nährenden Bauch Deiner reifenden Stille eingedrungen.
Du wolltest sie nicht sehen und warst ihr doch so preisgegeben. Allein diese schmalen Hände sollten Dich noch am Rücken kratzen, so als suchten sie all das blinde Getöse wie Spinnen von Deinem marmornen, zerbrechlichen Körper zu entfernen.

Da stieg an der nächsten Station eine russische Kapelle zu.
Wie alle ihre Vorgänger, auf der Jagd nach ein paar Cent, entfaltete sie mit Pauke, Schellen und Gesang ihre unerträglich laute, ungefragte Darbietung.

Du aber musstest flüchten.
Gehetzt wie ein gequältes Tier vom Lärm dieser jäh geöffneten, drei Mann starken Musik-Büchse der Pandora, zog sich Dein Kopf ein, krümmte sich Dein kleiner Körper zusammen und außer Dir vor Angst krabbeltest Du auf allen Vieren um mich herum unter die Bank, als suchtest Du nur noch ein Loch, um Dich vor dieser Welt zu verkriechen.
- Bis Deine empörte Mutter Dich in ihren Armen barg und das dumme, arglose Tun der Spieler lautstark stoppte.
Alle schauten auf: „Ach, das behinderte Kind.“:

Oliver, Oliver Twist der Stadt!
Hörtest Du hinter all dem Lärm in der dunklen Ecke Deiner kindlichen Einsamkeit noch die Stimmen der Engel, so lange bis das Außen Dir auf die Ohren schlug?
Noch bist Du geschützt,
aber eines Tages wird Deine Mutter gegangen sein,
und „ein Schaf wird vielleicht kommen und Deine Rose fressen“(1),
und Du wirst wie die anderen in Deiner Verzweiflung
auch die Stimmen Deiner kreisenden Freunde im Alkohol ertränkt haben:
„Haben Sie mal ein paar Cent für mich?“

Es sei denn,
ganz plötzlich
und nur für einen lichten Moment,
dass der ganze Zirkus aufhörte
und wir wie Du
in all dem wieder erkennen,
unser Engelsein.


1) Aus Anthoine de Saint-Exupéry, Der kleine Prinz.
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