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Alt 22.10.2021, 18:28   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Andrés Entscheidung

Die Menge gaffte. Niemand achtete auf jene Zeitgenossen, die mit ihren Smartphones Fotos machten oder die Szenerie filmten, jeglicher moralischen oder juristischen Anklage zum Trotz. Die Ordnungskräfte hatten Mühe, die Gaffer zurückzudrängen und den Platz um das Gebäude abzuriegeln. Journalisten mussten sich ausweisen, um in den inneren Kreis zu gelangen.

Inzwischen war ein Psychiater eingetroffen, der sich auf den Weg zum Dach des sechsstöckigen Wohnhauses machte. Die Atmosphäre war angespannt.

* * * * *

André stand ratlos vor der schmucklosen Hütte. Er hatte sich das Ziel seines Aufstiegs prunkvoller vorgestellt. Wenigstens ein paar Blumenkästen vor den Fenstern hätten ihn mit seiner Enttäuschung versöhnt.

Er nahm den Rucksack vom Rücken, stellte ihn auf die Fußmatte und klopfte an die Tür. Es dauerte nur kurz, ehe er hörte, wie jemand den Riegel hochschob und die Sicherheitskette löste. Ein junger Mann öffnete ihm. „Ja?“

Die stechend blauen Augen des Pförtners, der jung genug war, sein Enkel hätte sein zu können, schüchterten André ein. Mit unsteten Händen hielt er ihm seinen Aufnahmeschein hin. Der Jüngling nahm sich Zeit, die Einträge zu prüfen. „Du bist diesen weiten, kräftezehrenden Weg freiwillig gekommen?“

„Das schafft man nur einmal.“ André bekreuzigte sich bei diesen Worten und verfiel augenblicklich in Verwunderung über seine spontane Geste, denn er hatte dem christlichen Glauben längst abgeschworen. Aber ehe er näher darüber nachdenken konnte, drückte ihm der Jüngling den Aufnahmeschein in die Hand zurück. „Das haben wir nicht alle Tage, dass jemand in einer stabilen Verfassung wie die deine ohne Zwang zu uns kommt.“ Dann deutete er auf das Gepäck. „Wozu der Rucksack?“

„Da sind Sachen drin, die mir wichtig sind.“

„Die brauchst du hier nicht.“ Kurzerhand nahm der Jüngling den Rucksack und warf ihn in die Hütte, an deren hinterer Wand ein Kaminfeuer brannte. Ein Junge von etwa sieben Jahren nahm ihn auf und wartete auf die Anweisung, ihn in die Flammen zu werfen. André, auf diese Entwicklung nicht gefasst, begehrte auf: „Aber da war doch … das Bild meiner Frau. Meiner Tochter … Wenn ich das alles vorher gewusst hätte!“

„Du hast es nicht gewusst?“ Der Jüngling runzelte die Stirn. „Aber trotzdem hast du unter unsagbaren Strapazen den Aufstieg auf dich genommen. Warum?“

„Ist doch vorbei und egal. Ich will meinen Rucksack zurück! Gib ihn mir zurück!“ Unter Tränen sank er auf die Knie, bereit, sich auspeitschen oder in einen Pranger klemmen zu lassen, wenn er nur die Erinnerungen an seine Liebsten wieder an seine Brust drücken und vor Erleichterung frei durchatmen könnte.

Mit einem Seufzer half der Jüngling André aus seiner demütigen Stellung auf. „Kein Grund zur Panik. Zwar bist du jetzt hier und hast einen großen Teil deiner Kraft unwiederbringlich vergeudet, aber noch hast du die Schwelle nicht überschritten. Du bekommst deinen Rucksack mit allem darin zurück. Doch merke dir: Der Abstieg wird härter sein als der Aufstieg. Und der zweite Aufstieg könnte dich erschöpfen, bevor du diese Hütte nochmal erreicht haben wirst. Findest du den rechten Weg nicht wieder und gehen dir die Kräfte aus, wirst du bis in alle Ewigkeit durch ein Nirgendwo irren.“

Da wuchs in André die Kraft. „Ich hab’s mir überlegt. Mag der Weg zum Himmel auch steinig sein, so bin ich zuversichtlich, dass ich ihn ein zweites Mal finden werde. Und vielleicht schaffe ich ihn dann sogar leichter als jetzt.“

„Du willst also wirklich zurück? Diesen ganzen langen, elenden Weg?“

André nickte heftig. „Alles braucht seine rechte Zeit. Ich hatte mich geirrt, als ich dachte, meine sei schon gekommen.“

Ohne weiteren Einwand winkte der Jüngling dem Knaben, den Rucksack zu bringen. André schwang ihn auf seinen Rücken. Mit einem „bis dann“ begab er sich an den Abstieg.

Der Jüngling winkte ihm lange nach. „Auf bald, guter Mann – sehr bald.“

* * * * *

„Auseinander, Leute. Es ist vorbei“, bemühte sich einer der Polizisten, den Platz vor dem Gebäude zu räumen. „Hier gibt’s nichts mehr zu gaffen.“ In der Luft hing ein Gemisch von Erleichterung und unerfüllter Sensationslust. Einige Hartgesottene ließen sich nicht verscheuchen, sondern behaupteten ihre Stellung in der Hoffnung, einen Blick auf den Psychiater und seinen Schützling werfen zu können. Als sie begriffen, dass man sie absichtlich warten ließ, bis sie zum Aufgeben bereit waren, zerstreuten sich auch die letzten Gaffer.

Während die Ordnungskräfte sich anschickten, die Barrikaden wegzuräumen, trat der Psychiater mit André aus dem Gebäude. Zwei Sanitäter nahmen ihn in Empfang, hüllten ihn in eine warme Decke und verfrachteten ihn in den Ambulanzwagen.

Der Polizist, der den Einsatz leitete, trat zu dem Psychiater: „Wie haben Sie den Mann so schnell überzeugt?“

„Ich habe ihm gesagt, dass er seine Erinnerungen nicht ins Jenseits mitnehmen kann. Dass er dort nichts weiter sein wird, als eine gelöschte Festplatte, ein Nichts. Als er argumentierte, man könne sie doch in einem anderen, besseren Leben neu bespielen, erwiderte ich: Aber nicht bei einem kapazitätsarmen Auslaufmodell, das niemand mehr haben will, weil es aus der Zeit gefallen ist.“

„Krass! Packen Sie die Ihre Patienten immer so hart an?“ Doch im nächsten Moment trat in das Gesicht des Einsatzleiters ein schiefes Lächeln. „Oder glauben Sie am Ende selber nicht, was Sie da gerade erzählen.“

„Vielleicht nicht. Vielleicht aber doch“, erwiderte der Psychiater, nickte dem Einsatzleiter zum Abschied kurz zu und ging seiner Wege.
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