Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 12.02.2014, 13:57   #1
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798


Standard Die Entscheidung

Ich könnte Bände füllen mit dem, was ich nie gesagt habe, doch mir fehlen dazu die Worte. Alles, was ich habe sind fünf Minuten, ein paar Augenblicke, die darüber entscheiden, ob die Entbehrungen der letzten Wochen, die Schmerzen, die Grenzüberschreitungen, die Kämpfe, der ständige Versuch, über sich selbst hinauszuwachsen, vergebens waren oder ob ich etwas darstellen kann, von dem ich hoffe, dass ich mich darin wiederfinde. Vor sechs Wochen begann meine Vorbereitung auf die deutsche Meisterschaft und nach der Enttäuschung, die ich ein Jahr lang in mir tragen musste, quälte ich mich mehr als jemals zuvor, sechs mal die Woche. Ich wollte mich so hart bestrafen, dass ich nie wieder das Bedürfnis habe, mich für eine Niederlage zu bestrafen, dass ich wieder auf die Matte gehen und mich zuhause fühlen kann.

Das rechte Sprunggelenk machte in dieser Zeit zwei Zerreißproben durch, aber es hielt bis heute. Meinen Schulterwurf habeich in der Vorbereitung 15.000 mal geworfen und dabei jeden noch so kleinen Mangel in der Bewegung aufgespürt und korrigiert, bis die Technik ganz mit mir verschmolzen ist. Um nicht so berechenbar zu sein, habe ich außerdem eine Beintechnik gelernt, die eine Möglichkeit darstellen sollte, wenn der Gegner sich nicht in meine Richtung führen ließe. In 200 Randoris versuchte ich, eine Ahnung zu bekommen, wie der heutige Tag aussehen wird - ich kämpfte gegen kleine, wendige und große, starke Athleten, mit jungen Heißspornen und abgeklärten, erfahrenen Technikern durchlebte ich jede relevante Kampfsituation, die man sich als Judoka vorstellen kann. Ich hasste mich, immer wenn ich einen Fehler machte und liebte es, wenn mein Trainer mich daraufhin anschrieh. Er trifft immer den richtigen Ton: wenn er merkt, dass ich an meine Grenzen komme, brüllt er etwas in der Art: "Wir können auch im Anschluss noch ein Zirkeltraining machen, wenn dir das lieber ist... Jetzt reiß dir den Arsch auf!" Wenn ich einfach unkonzentriert bin, meint er trocken: "Sag lieber gleich, wenn du keine Lust hast - wir können uns das Startgeld auch sparen und uns einen Kasten Bier kaufen." Immer wenn der Schmerz unerträglich wird, ruft er mir mit liebevoller Stimme einen Satz zu, der zu meinem Mantra geworden ist: "Trage den Schmerz mit Stolz!"

Aufgrund der vielen Verletzungspausen diese Saison, musste ich vor drei Wochen am entscheidenden Qualifikationsturnier teilnehmen. Ich kämpfte mich locker durch die Vorrunde durch und merkte, dass sich das Krafttraining gelohnt hat: mein Griff war stark und dominant, ohne dass ich die für meinen Stil so wichtige Beweglichkeit und Impulsivität verloren hätte. Ich schwebte über die Matte und konnte daher nicht von den Beinen geholt werden. Ich bin ganz im Rhythmus des Kampfes aufgegangen, so dass ich jede Bewegung meiner Gegner spürte, bevor ich sie sah. Ich gab nach, wenn ich nachgeben sollte und erzwang, was zu erzwingen war, ohne einen Gedanken darüber zu verlieren. Doch vor dem Finale setze das Denken wieder ein: ich wusste, dass ich weit gekommen, aber noch nicht angekommen war; denn nur ein Sieg würde mich weiter bringen.

Ich kannte meinen Gegner; denn ich hatte bereits letztes Jahr in der Bundesliga gegen ihn gewonnen und wusste also, dass ich mich auf seinen aus der Kreisbewegung eingedrehten Uchi-Mata einzustellen hatte und dass er dazu neigte, das Bein dabei unvorsichtig weit in die Höhe zu reißen. Aber ich erinnerte mich daran, dass er zu dieser Zeit noch bei den Junioren gekämpft hatte und dass ich geahnt hatte, dass er einmal zu einem Kämpfer herangereift, der seine Angst vor Namen abgestriffen und aus seinen jugendlichen Fehlern gelernt hat, mir eines Tages zu schaffen machen würde. Und ich hoffte, dass dieser Tag noch nicht gekommen sein würde. Als ich aufgerufen wurde, wusste ich aber, dass diese Gedanken keine Rolle spielen dürfen und mit klatschenden Schlägen in mein Gesicht schüttelte ich sie ab. Ich dachte nur noch daran, dass ich auf keinen Fall zulassen darf, dass er an meinen Nacken greift. "Dann packt er mich ein, ohne dass ich mich dagegen wehren könnte und ich kann nur hoffen, dass sein Bein dann an meinem vorbei schnellt. Ich muss also aufrecht bleiben, darf keine Angst zeigen, seinen Arm zuerst abfangen. Er muss spüren, dass ich weiß, was er vorhat und dass er mir damit nichts anhaben kann. Aber er weiß sicher auch, was ich vorhabe; mein linker Schulterwurf aus dem rechten Reversgriff ist doch recht bekannt geworden. Was ist, wenn er sich besser auf mich vorbereitet hat, als ich mich auf ihn?" Gerade als ich mich am wenigsten dazu bereit fühlte, gab der Kampfrichter den Kampf frei: "Hajime!"

Nach kurzem Abtasten spürte ich seine linke Hand in meinem Nacken wie eine Last, die mich nach unten drückte. Ich wollte aufrecht kämpfen, aber ich wurde klein, als wollte ich ihn darum bitten, abzulassen. Ich wusste, er würde mich in die Kreisbewegung zwingen und ich wusste, dass dies unweigerlich zu seinem ersten Angriff führen würde, doch ich konnte nichts dagegen tun. Ich dachte: "Das ist schon eine Ironie, dass ich mich auf nichts anderes eingestellt habe, als auf diese Aktion, gegen die ich mich nun nicht zur Wehr setzen kann. Was kann ich tun? Ich kann davon laufen in der Hoffnung, seinem Bein auszuweichen und mit meiner Beintechnik zu kontern. Aber er führt mich zu eng und wird mich geworfen haben, ehe ich merke, dass er das Bein hebt. Ich kann dagegen halten. Aber dann würde er meinen Impuls nutzen und mich mit einem Beinstopper in meine Bewegungsrichtung werfen. Hoffentlich geht es schnell! Wenn es schnell geht, kann ich darauf reagieren, bevor ich es überdenken kann. Habe ich nicht jetzt schon verloren? Hat nicht derjenige verloren, der sich eingestehen muss, dass er nichts dagegen zu setzen hat?" Plötzlich schießt sein Bein zwischen meinen Beinen nach oben, doch ich habe in der Luft noch Zeit, mich abzudrehen und lande auf der Seite - "Yuko!"

Dass der Kampf noch nicht verloren war, wusste ich in diesem Augenblick ebenso klar, wie ich wusste, dass ich ihn verlieren würde, wenn es mir nicht gelänge, seinen linken Arm abzuwehren. Er klemmte meinen Körper zwischen seinen Beinen fest, während er versuchte, sich einen Weg zu meinem Hals frei zu wühlen, um mich zu würgen. Meine Hände hielten sich aber längst am eigenen Revers fest, um meinen Hals zu schützen und so unterbrach der Kampfrichter den Kampf. Während ich aufstand, blickte ich zu meinem Trainer, der wild gestikulierte. Im allgemeinen Geschreih der Menge konnte ich seine Stimme nicht hören, war sie auch so entschlossen und kräftig, wie ich sie bei kaum einem anderen Menschen kennengelernt hatte. Aber ich wusste, was er mir zu sagen hatte: "Halt seine Hand fern!" Das war alles, was ich im Sinn hatte und doch blitzte sie wieder kurz vor mir auf, um an meinem Hals vorbei zu gelangen und in meinem Nacken zu landen. Und wieder warf er mich mit seinem Uchi-Mata auf die Seite und wieder bekam er eine kleine Wertung - "Yuko!"

Nun stand ich auf, ohne meinen Trainer anzuschauen, denn ich musste erst einmal auf der Matte ankommen. Ich war wütend auf mich und enttäuscht und fühlte, dass ich es verdient hätte, gedemütigt zu werden, doch ich durfte es nicht zulassen. Da kam mein Mut zurück: ich hatte nur diese Chance und wenn ich es wirklich wollte, konnte er mir meinen Sieg nicht wegnehmen - ich musste einfach gewinnen; denn es gab keine andere Möglichkeit. Dann aber dachte ich an meinen Gegner: "Ist er nicht genau in derselben Lage? Ist er nicht gerade der Einzige, der mich verstehen kann, mein einziger Freund? Würde er nicht auch gewinnen müssen? Wenn zwei Männer aufeinander treffen und beide müssen gewinnen, was mag dann wohl passieren? Letztendlich geht es nur darum, es zu wollen, es wirklich in seinem allerinnersten zu wollen, es mehr zu wollen, als der Andere und das ist wohl das Einzige, was uns beide voneinander scheidet. Aber wie kann man etwas noch mehr wollen?" Dann schüttelte ich wild den Kopf: "Hör auf zu denken und fang endlich an zu kämpfen!", dachte ich, während ich seinen Arm unter Kontrolle brachte, um sofort meine rechte Hand an sein Revers zu bringen. Mit einem kurzen, kräftigen Zug zwang ich ihn zum Schritt auf mich zu und fasste nun mit meiner linken Hand seinen Ärmel. Da ich mit kleinen Ellbogenbewegungen in der Lage war, immer wieder seinen Griff zu meinem Nacken abzuwehren, wussten wir beide bald, dass ich ihn nun beherrschte und dass ich sein Gleichgewicht würde brechen können, wenn ich es richtig anstellte. In seiner Verzweiflung trat er mit voller Wucht gegen mein Standbein. In seinen Augen konnte ich sehen, dass es ihm leid tat und dass er sich gerade dafür entschuldigen wollte; doch mein Fuß war schon auf dem Weg und traf sein Bein mindestens ebenso heftig. Also standen wir eine Weile da und traten einander nach, bis uns die Beine blau wurden - zumindest kann ich das über mein Bein sagen. Folgerichtig bestrafte der Kampfrichter uns beide: "Schido!"

Nachdem der Kampf wieder frei gegeben war, zerrte er heftig an mir und verpasste mir schließlich, halb im Eifer des Gefechts, halb in böser Absicht, einen Haken am Kinn, dass ich zu bluten anfing und der Kampf zum Stillen der Blutung unterbrochen werden musste. Während mich die Sanitäter behandelten, blickte ich ihm zuversichtlich in seine hasserfüllten Augen. Für einen Moment wollte er mich töten und ich sah es ihm nach, da ich es mir nicht erlauben konnte, in Raserei zu verfallen. Ich musste bei wachem Verstand bleiben, um diesen Kampf zu bestimmen. Als nach einer Weile die Mordlust aus seinen Augen schwand, bekam ich Angst; denn ich hatte gehofft, ihn in einem Moment zu erwischen, da er blind gegen mich anrennen würde. Doch sein Trainer brüllte ihn zur Vernunft. Danach war er deutlich aufmerksamer und unser Griffkampf glich einem ergebnislosen Bärengerangel. Keiner war nun in der Lage, die Führung zu übernehmen. Da erinnerte ich mich, dass ich solche Situationen schon desöfteren erlebt hatte, gegen weitaus bessere Kämpfer. Einmal bezwang ich in einem sehr offenen Schlagabtausch einen (zugegeben etwas in die Jahre gekommenen) Georgier, der ein paar Jahre zuvor Dritter bei der WM wurde. Warum sollte ich diesen Kampf nicht auch für mich entscheiden können? "Ruhig Blut! Du bist erfahren. Du kannst warten.", dachte ich und bot ihm also im leichten Rückwärtsgang mein rechtes Revers an in der frechen Hoffnung, er würde der Versuchung nicht widerstehen können. Tatsächlich lief er mir nach, fasste nach dem freien Kimono-Fetzen und eher er sich versah, war ich in meinem Schulterwurf links eingedreht. Jedoch hatte ich zu wenig Kontrolle und er rutschte mir etwas auf die Seite, so dass es nicht ganz zu einem vollen Punkt reichen sollte: "Waza-Ari!"

Damit ging ich also in Führung, aber mir kam es so vor, als hätte ich gerade die Führung abgegeben: "Hätte ich eine hundertstel Sekunde länger gewartet, hätte ich ihn perfekt mittig getroffen und der Kampf wäre jetzt vorbei." Ich schaute auf die Uhr: "Ich weiß nicht, ob ich es schaffe, die Führung drei Minuten zu halten. Ich weiß nicht, was er jetzt vorhat. Ich weiß nicht, ob ich einem Ansturm gewachsen bin. Der Tag war lang und ich möchte nur noch, dass diese drei Minuten vorüber sind. Alles andere als warten, wäre unklug. Aber ich möchte alles andere als warten." Ich bemerkte den nach oben gerichteten Daumen meines Trainers und erkannte, dass er mich anwies, meinen Gegner in Bewegung zu halten. Die ersten eineinhalb Minuten gelang mir dies auch, doch dann wurde ich müde. Wieso wurde ich müde? Wieso konnte mein Körper nicht einsehen, dass es keinen Zweck hatte, müde zu werden? Er hingegen schien unbeeindruckt von den Strapazen des Tages und setzte nun eine Hand nach der anderen an, als hätte er deren hundert, während ich nur noch versuchte, alles abzuwehren, ohne es nach Griffvereitelung aussehen zu lassen. Zwischendurch nahm ich immer mal wieder beide seiner Ärmel in die Hände und ließ sie schließlich los, da ich nichts damit anzufangen wusste und ich sonst eine Strafe wegen Sperrens bekommen hätte. Schließlich konnte ich mich einmal dazu durchringen, aus der Fassart einen von außen eingedrehten Schulterwurf zu versuchen. Diese ungewöhnliche Technik hat ihn sichtlich überrascht und auch ein wenig beeindruckt, aber letztlich brachte sie mir nichts ein und kostete viel Kraft. Auf dem Bauch liegend konnte ich es schon fast genießen, dass er sich an mir abarbeitete, da ich die Pause brauchte. Ich wusste, dass dies ein schlechtes Zeichen war, aber das schien mir immer gleichgültiger zu werden. Heimlich öffnete ich den Gürtelknoten unter meinem Bauch, damit der Kampfrichter zur nächsten Unterbrechung eine Kleiderordnung anweisen musste. Auf diese Tricks kann kein Sportler stolz sein, aber sie sind unumgänglich, um erfolgreich zu sein und ich bin schon lange über den Punkt hinaus, da Stolz und Ehre der einzige Antrieb für mich waren - ich bin Profi-Sportler.

Vielleicht hat er mein Eingeständnis in meine Unzulänglichkeit bemerkt, selbst noch den Kampf gestalten zu können; jedenfalls erhöhte er das Tempo noch einmal, fasste nun wild nach jedem Fetzen meines Kimonos, der im Gerangel vor mir her flatterte, störte unaufhörlich mit kleinen Fußfegern meinen Stand. Nie wusste ich, auf welchen Teil meines Körpers ich mich konzentrieren sollte - dabei erschien mir sein Körper in unerreichbarer Ferne. Wenn ich mich bemühte, seinen linken Griff abzuwehren, zog er rechts an und wenn ich gerade meinen Stand wieder gefunden habe, brachte sein Feger mich ins Wanken, bis ich mich schließlich erneut im Boden wiederfand. Dort setzte er nun schon gar nicht mehr nach. Offensichtlich wollte er keine Zeit mehr verlieren; er wollte den Kampf im Stand entscheiden. "Noch 43 Sekunden durchhalten? Warum? Um wieder zu hungern, damit ich auf dem nächsten Turnier wieder mehrere Kämpfe durchhalten muss? Wenn ich mich jetzt einfach werfen ließe, hätten alle eine respektable Leistung von mir gesehen und ich hätte für den Rest des Jahres freie Wochenenden. Erster oder zweiter - für wen ist das wichtig, wenn es mir schon nicht klar ist, wie wichtig es ist?" Doch ich wusste, dass diese Gedanken nicht meine Gedanken waren, sondern die Gedanken meiner Panik, meines Fluchtinstinktes. Ich wusste, dass es normal ist, dass dieser Instinkt aufkommt, wenn das Herz aus der Brust zu brechen versucht und die Luft in mir brennt. Mein Körper wollte nicht mehr und ich sah es ihm nach, wie man es einem Kind nachsieht, dass es die letzten Meter bis zur Haustür nicht mehr gehen will und ihm doch diese wenigen Meter noch abverlangt. Die Arme wollten jetzt nicht mehr in Schulterhöhe bleiben. "Nimm die Hände hoch! Nimm endlich die Hände hoch!" Mit aller Gewalt konnte ich sie noch rechtzeitig nach oben reißen, um seinen Griff abzufangen, klammerte mich krampfhaft an seinen Ärmeln fest, doch nur noch mit gestreckten Armen gelang es mir soeben, Druck aufzubauen, was mir eine Strafe wegen Sperrens einbrachte.

Damit hatte er drei Yukos auf seiner Seite. "Wenn ich nur noch eine Strafe kassiere", dachte ich "oder ihm ein Waza-Ari gelingt, dann ist der Rückstand für mich uneinholbar. Das muss ich auf jeden Fall vermeiden; ich muss den Kampf beruhigen, das Tempo gering halten. Aber wie? Ich habe keine Kraft mehr zu greifen, geschweige denn ihn zu führen. Werde ich diese entscheidende Strafe daher nicht ohnehin bekommen? Vielleicht sollte ich also alles auf eine Karte setzen und alle Kraft in einen allerletzten Wurf legen. Ich brauche ein Ippon! Aber habe ich denn noch die Kraft dafür?" Verzweifelt blickte ich meinen Trainer an, der mich anwies, selbst unten zu stören, um den Kampf ausgeglichen zu halten. So tat ich es und schöpfte Mut, weil ich merkte, dass ihm endlich auch die Kraft schwand. Den Rest des Kampfes nahm ich nur verschwommen wahr und ich hatte kein Gefühl mehr für die Zeit. Alle paar Minuten schaute ich zur Uhr, um festzstellen, dass nur wenige Sekunden vergangen sind. Die letzten 20 Sekunden hingegen schienen entfallen zu sein. Mit dem Ende des Kampfes sank ich müde, aber dankbar auf die Knie. Noch vor ein paar Jahren wäre ich nach einem solchen Kampf enttäuscht gewesen, nicht vorzeitig gewonnen zu haben, aber inzwischen konnte ich den Stolz auf einen erkämpften Sieg annehmen. Ich verbeugte mich so tief wie noch nie und nahm meinen Gegner herzlich in die Arme; denn ich wusste, ich konnte nur gewinnen, weil er verlor und er musste verlieren, weil ich gewann. Ich wusste, dass es vergebens sein würde, ihn zu trösten zu versuchen, doch ich wollte es mir nicht nehmen lassen, ihm meinen Respekt für dieses fordernde Finale auszudrücken. Mein Trainer hob mich an seine Brust, die sich in Höhe meiner Augen befand. Ich rang um Luft, als er mich fest drückte, mir die Haare verwuschelte und mich lobte: "Klasse, mein Großer!" Eine Spitze konnte er sich jedoch nicht verkneifen: "Ich hoffe, dir tun die Beine weh, du Idiot."

Meine Freude über den Sieg währte allerdings nicht lange. Am Tag darauf wurde mir klar, dass ich noch nichts erreicht hatte. Ich habe mir lediglich eine Chance erkämpft - weiter nichts. Und ich bin fest gewillt, sie zu nutzen. Die vergangene Woche war noch einmal hart. Fünf kilogramm war ich über meinem Kampfgewicht und die Jogging-Einheiten vor dem Training zehrten an meinen Kräften. Mit heißen Bädern habe ich mich dehydriert, seit fünf Tagen habe ich nichts mehr gegessen und in den letzten zwei Tagen kaum mehr einen Schluck getrunken. Aber wenn man weiß, wozu man diese Qual über sich ergehen lässt, verlangt man nichts mehr, als dass man sein Gewicht erreicht. Und jetzt stehe ich am Mattenrand, warte darauf, aufgerufen zu werden. Alles was ich wollte, alles was ich in diesem Augenblick brauche, alles was ich habe, sind fünf Minuten. Ich bin einsam, sehe niemanden mehr und ich möchte nichts anderes sehen, als die ersten Sekunden auf der Matte. Die Matte liegt direkt vor meinen Füßen, doch ich kann sie noch nicht betreten: "Bitte, ruft mich auf! Lasst mich auf diese Matte!" Ich hüpfe auf und ab, um in Bewegung zu bleiben. Plötzlich kann ich nicht mehr aufstehen. Die Waden sind verkrampft, möchten sich nicht mehr öffnen, scheinen nicht zu verstehen, wie viel auf dem Spiel steht. Erst jetzt, da der stechende Schmerz sich in meinen Beinen einnistet, beginne ich zu begreifen, wie sehr ich von meiner Wade abhängig bin, wie sehr alles, was mich ausmacht, alles, worauf ich seit Jahren hingearbeitet habe, von jeder einzelnen Faser meines Körpers abhängt. Während sich mein Trainer mit aller Kraft gegen den Krampf stemmt, rufe ich meinen Beinen zu: "Geht auf! Verdammt noch mal, macht auf!" Er schüttelt den Kopf und mir steigen Tränen in die Augen. Gerade noch kann ich meine Trinkflasche greifen, um sie gegen die mit hellblauem Fils überzogene Hallenwand zu donnern, bevor mein Trainer mich in Richtung Umkleidekabine trägt. Der Gang verengt sich und die Lautsprecher-Ansagen wabern dumpf hinter meinem Rücken aus.
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 18.02.2014, 12:56   #2
weiblich simbaladung
 
Dabei seit: 07/2012
Alter: 67
Beiträge: 3.073


Hi, Geburtstagskind!

Heut hab ich deine endlich deine ellenlange Geschichte bis zu Ende gelesen.
Ganz leicht ist es nicht, sich voll darauf zu konzentrieren und nicht abzuschweifen, vor allem, wenn man, wie ich so wenig Ahnung vom Judo hat.
Hat sich aber gelohnt. Es ist alles drin, und hautnah beschrieben, von Verhältnis des Sportlers zum Trainer, zum Gegner, zum Kampf an sich und zum eigenen Körper, und wie du das beschreibst, find ich klasse.

Am besten hat mir gefallen, wie gut rüberkommt, dass der Verlauf des Kampfes eigentlich eher im Kopf entschieden wird, den man ausschalten sollte, was aber nur so selten gelingt. Das kann man durchaus auf andere Dinge übertragen.
Wenn die Technik wie im Schlaf beherrscht wird und man dann alles Wollen und Denken loslässt, dann beginnt das, was ich Kunst nenne. .

Einen ganz schönen Tag, feier schön, alles Gute,

simba
simbaladung ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 19.02.2014, 11:17   #3
männlich Schmuddelkind
 
Benutzerbild von Schmuddelkind
 
Dabei seit: 12/2010
Ort: Berlin
Alter: 38
Beiträge: 4.798


Oh, das ist ja ein feines Geburtstagsgeschenk, dass du dich durch diesen langen Text gekämpft hast.
Dankeschön!

Zitat:
Ganz leicht ist es nicht, sich voll darauf zu konzentrieren und nicht abzuschweifen, vor allem, wenn man, wie ich so wenig Ahnung vom Judo hat.
Es ist natürlich ein Kosmos für sich und als Autor wusste ich da nie, ob ich zu viel oder zu wenig erkläre. Es sollte ja verständlich sein für Laien, aber auch nicht so, dass man denkt: "Herr Gott, du musst mir nicht erklären, wo genau der linke Arm hingeht, während der rechte sich hier und da aufhält." Dennoch war es mir hier ein Anliegen, sowohl die Handlung, als auch die Gedanken des Protagonisten so präzise wie möglich zu schildern. War so eine Art Fingerübung, weil ich vor Kurzem Hemmingways "Der alte Mann und das Meer gelesen habe" und so fasziniert davon war, dass er über etliche Seite beschreibt, wie ein Fisch geangelt wird, ohne dass mir langweilig wurde. So was wollte ich dann auch mal versuchen.

Zitat:
Am besten hat mir gefallen, wie gut rüberkommt, dass der Verlauf des Kampfes eigentlich eher im Kopf entschieden wird, den man ausschalten sollte, was aber nur so selten gelingt. Das kann man durchaus auf andere Dinge übertragen.
Ja, absolut. So ist es tatsächlich im Judo und mir war auch wichtig, dass man darin nicht nur einen Judokampf sieht. Ich freue mich, dass du die Symbolik erkannt hast.

Zitat:
Einen ganz schönen Tag, feier schön, alles Gute,
Oh, vielen lieben Dank!
Ich hatte gestern trotz des langen Arbeitstages einen sehr schönen Geburtstag im Kreise meiner Liebsten.

LG
Schmuddelkind ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Die Entscheidung



Ähnliche Themen
Thema Autor Forum Antworten Letzter Beitrag
Entscheidung Bellatora Sonstiges Gedichte und Experimentelles 0 10.07.2013 15:13
Die Entscheidung franzi94 Sprüche und Kurzgedanken 0 08.12.2011 16:18
Die Entscheidung gummibaum Humorvolles und Verborgenes 4 16.06.2011 22:57


Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.