Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Geschichten und sonstiges Textwerk > Geschichten, Märchen und Legenden

Geschichten, Märchen und Legenden Geschichten aller Art, Märchen, Legenden, Dramen, Krimis, usw.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 10.02.2006, 23:02   #1
Dogan I
 
Dabei seit: 02/2006
Beiträge: 1

Standard Geh und töte den Zwerg!

Geh und töte den Zwerg!

Wenn diese scheiß Kälte nicht gewesen wäre, hätte ich es vielleicht ertragen können, aber trotz des dicken Pelzmantels, der Pelzschuhe, der Pelzhandschuhe und der Pelzmütze war mir kalt.
Nicht mal die Ausrottung der Bären im umliegenden Wald hatte geholfen, um mich warm zu bekommen. Ich fror trotzdem. Die Rotze, die aus meiner Nase lief war an meiner Oberlippe festgefroren, meine Ohren fühlten sich an, als würden sie jeden Augenblick abfallen und durch die winzigen Ritzen in der Kleidung kroch die Kälte hinein und erledigte den Rest.
Die Beine steif, die Füße taub und eine Stinkwut in mir. So stapfte ich Schritt für Schritt den Berg hinauf und sah selbst aus wie ein Bär.
Ich hoffte nur, nicht auf einen echten brummigen Riesen zu treffen. Einen, den die Dorfbewohner vergessen hatten und der entweder Blutrache für seine gemeuchelten Artgenossen fordern würde, oder den Drang verspürte, die Population seiner Art durch Bespringen meiner Person zu steigern. Aber mir war alles egal. Es gab kein Zurück. Da musste ich durch und mit jedem Schritt, den ich den Berg hochging stieg meine Wut und sie half mir dabei, nicht aufzugeben.
„Geh und töte den Zwerg“, haben sie gesagt und ich hörte immer noch ihre Stimmen in meinem Ohr. Alle gemeinsam hatten sie es gebrüllt. Erst war es nur der Bürgermeister. Er reckte den Arm nach oben und schrie es förmlich heraus. Der Dorfarzt stimmte mit ein, dann Hans, der Rübenbauer und irgendwann haben sie alle im Rhythmus gebrüllt. „Geh und töte den Zwerg!“ Und dabei haben sie es dem Bürgermeister nachgemacht und auch ihre Fäuste in den Himmel gestreckt. „Geh und töte den Zwerg!“
Dämliche Arschgeigen! Ich stand nur mit offenem Mund vor ihnen, hörte nebenbei, wie der eisige Wind gegen die Fenster des Wirtshauses peitschte und hatte bei dem Wetter absolut keine Lust auf ein Berg zu steigen und einen Kleinwüchsigen abzumurksen.
So etwas fällt denen auch nur im tiefsten Winter ein. Im Sommer wäre das vielleicht etwas anderes gewesen und ich hätte mich dann auch nicht so gesträubt. Leichte Klamotten, ein fröhliches Lied auf den Lippen, den Berg hinauf gehüpft und den Zwerg gekillt. Nichts leichter als das. Aber es musste natürlich im Winter sein. Und natürlich musste es wieder ich sein. Streit, lange Diskussionen, Abstimmungen und irgendwie fiel am Ende die Wahl immer auf mich. Als gebe es keinen anderen im Dorf, der besser dafür geeignet wäre. Was war denn mit dem Jäger? Oder mit dem Dorfwachmann? Was war denn mit denen? Nein, ich musste es sein.
„Du hast keine Familie. Du bist Junggeselle. Du hast keine Frau und keine kleinen Kinder, die du allein lässt.“
Immer die gleichen Sprüche, immer die gleichen Argumente. Wie soll man denn eine Familie gründen, wie eine Frau kennen lernen, wie Kinder zeugen, wenn man in diesem Scheißfell den Scheißberg im Scheißwinter hochklettert, um einen Scheißzwerg zu töten?
Der Schnee fiel in dicken eisigen Flocken, versperrte mir die Sicht und hinderte mich beim Gehen. Manchmal fiel er mir einfach locker auf die Mütze, manchmal peitschte er mir ins Gesicht und manchmal versank ich darin und hatte Mühe und Not wieder heraus zu kommen. Der reinste Alptraum und mit jedem Meter verfluchte ich die Bastarde aus dem Dorf, die im kuschelig warmen Wirtshaus saßen, ihr Bier tranken und stolz auf sich waren, mich wieder überredet zu haben, ihre dämlichen Ideen umzusetzen.
Ich wusste nicht mal, wie weit es noch war. Am frühen Abend hatten sie mich verabschiedet und nun musste es tiefe Nacht sein. Wenn sich der Schneefall etwas lichtete, konnte ich die hellen Sterne im Himmel sehen und der hellste von ihnen wies mir den Weg zu den Burgruinen, in denen der Zwerg wohnte.
Den Grund, warum der Kurze daran glauben musste, habe ich auch nicht ganz verstanden. In jenem Jahr brachten einige Frauen Totgeburten zur Welt und nach langem Hin und Her, hatten sie einen Schuldigen ausgemacht. Der Zwerg aus der Burg. Er soll das Dorf mit einem Fluch belegt haben.
So ein Schwachsinn! Aber so ist es nun mal. Einer bringt ein Gerücht in Umlauf, die anderen plappern es nach und zum Schluss glauben sie den Mist, den sie selbst in die Welt gesetzt haben. Dagegen kannst du nichts machen. Du kannst nur nicken, vielleicht „Ja ja“ sagen und dich dem Mob fügen. Ich hätte mich auch auflehnen können, ich hätte ihnen mit langen blumigen Worten erklären können, wie dämlich ihre Anschuldigungen waren. Doch wie hätte es geendet? Sie hätten mich als Ketzer beschimpft und mich am nächsten Baum aufgeknüpft. So war diese Bande. Wenn man sich alleine mit ihnen unterhielt, konnten sie ganz liebevoll sein. Sie waren intelligent, hilfsbereit und verständnisvoll, aber sobald sie sich zusammenrotteten, irgendwelche hanebüchenen Märchen in die Welt setzten, dann waren sie unnachgiebig und erbarmungslos.
Von weitem hörte ich einen Wolf heulen. Erst dachte ich, dass es der Wind war, aber je mehr ich meine gefrorenen Ohren in die Richtung streckte, konnte ich es deutlich hören. Es war wirklich ein Wolf! Ich hatte sogar Angst vor Hunden, auch wenn sie nur ganz klein waren und als hätte ich nicht genug Probleme, kam die Furcht von einem hungrigen Wolf gerissen zu werden hinzu.
Ich griff zu dem langen Messer, das mir die Dorfbewohner gegeben hatten, um den Zwerg aufzuschlitzen. Damit würde ich mich zur Wehr setzen. Das heißt, wenn ich beim Anblick des Wolfes nicht stotternd zur Salzsäule erstarre.
Ich kroch schneller, der Berg war nicht sehr steil, aber der meterhohe Schnee, meine festgefrorenen Glieder und die Müdigkeit waren für einen aufrechten Gang nicht gerade förderlich. „Geh und töte den Zwerg!“ Ich hasste diese ekelhaften Stimmen in meinem Kopf.
Es verging eine Zeit, das Heulen des Wolfes wurde abwechselnd mal leiser und mal lauter. Und abwechselnd änderte sich meine Stimmung von mies in sehr mies.
Irgendwann kam ich an einem Felsvorsprung an und hatte mal Gelegenheit mich etwas auszuruhen. Ich war geschützt vor dem Schnee, konnte meine steifen Glieder warm rubbeln und den roten glänzenden Apfel betrachten, den die Dorfbewohner mir als Wegproviant gegeben hatten.
Wieder so eine Sache. Ich bat um etwas Brot, um etwas Dörrfleisch und vielleicht etwas Speck. Aber sie gaben mir einen Apfel, obwohl sie genau wussten, wie sehr ich Obst hasste. Sie faselten etwas von Vitaminen, von leichter Kost und dass ein voller Magen schlecht für den Killerinstinkt sei.
Ich nahm mir vor, nach meiner Rückkehr das Dorf zu verlassen. Einfach nur weit weg von diesen Schwachmaten. Vielleicht in ein anderes Dorf, oder in die Stadt. Irgendwohin, wo es normale Menschen gab.
Die Rast tat gut. Ich spürte wieder Leben in meinen Beinen, wieder Leben in meinen Armen und auch wieder Leben in meinem Kopf. Ich würde einfach wegziehen, meine Habseligkeiten zusammen packen, die Kutsche besteigen und nicht zurückblicken, wenn wir die Dorfgrenze passierten. Ich würde ein völlig neues Leben anfangen. Neue Menschen kennen lernen. Einen neuen Beruf ausüben und die bösen Erinnerungen würden von Tag zu Tag verblassen.
„Geh und töte…“ Ist ja gut!
Ich packte den Apfel ein, ohne auch nur einmal hinein gebissen zu haben, und ging weiter, um meine Mission zu erfüllen. Der Schneefall hatte ein wenig nachgelassen, die Sicht war etwas freier und zum ersten Mal konnte ich die Burg schon von der Ferne sehen. Es war nicht mehr weit. Ich schätzte, noch eine Stunde Fußmarsch, bis der Winzling das Zeitliche segnen würde. Doch diese Stunde hatte es in sich. Der Berg wurde steiler, ich müder und das Heulen des Wolfs lauter. So laut, dass ich glaubte, er würde jeden Augenblick vor mir stehen, mich anknurren und mich dann in Stücke reißen.
Ich schaute vor Furcht um mich und stapfte weiter durch den Schnee. Vor kurzem wäre mein Tod die Erlösung gewesen, aber jetzt hatte ich Pläne, ich hatte Ziele und ich hatte einen Grund weiterzuleben. Nur die Burg erreichen, den Zwerg ermorden und dann ein neues Leben anfangen. Einfach nur nach vorne schauen, sich den schönen Seiten des Lebens zuwenden und das Glück nicht nur mit den Händen greifen, sondern es bis zur Neige auskosten.
Plötzlich stand der Wolf knurrend vor mir!
Ich erstarrte, mir schlotterten die Knie, mein Herz raste, ich schwitzte und der Gedanke an das Messer an meinem Gürtel war so fern wie das neue Leben, auf das ich mich schon gefreut hatte.
Er fletschte die Zähne, ging abschätzend hin und her und ließ mich für keinen Augenblick aus den Augen. Ich konnte mich nicht mal rühren, geschweige denn einen klaren Gedanken fassen. Ich war tot. Das war mein Ende. Mir wurde ganz schwindlig und die Welt um mich drehte sich.
Der Wolf kam einen Schritt näher, er knurrte weiter und starrte mich weiterhin mit seinen stechenden Augen an.
Dachte er, ich wäre ein Bär, sollte ich so tun, als wäre ich ein Bär, würde das helfen, oder würde ihn das eher provozieren? Ich stand nur da und tat nichts. Vielleicht würde der Schneefall wieder stärker werden und mich mit seinem schützenden Weiß so sehr zudecken, bis ich unsichtbar war. Doch solange wollte der Wolf nicht warten. Wieder kam er ein Stück näher und sein Knurren wurde lauter. Das Tier meinte es ernst. Es hatte es auf mich abgesehen.
Ich betete innerlich, obwohl ich nie gläubig war, doch es konnte nicht schaden, den Herrgott in so einer Situation um Vergebung für all die Sünden zu bitten.
Na ja, für viele Sünden hatte ich im Dorf nicht die Gelegenheit gehabt. Ich hatte nicht gestohlen, ich hatte nicht falsch Zeugnis abgelegt, ich hatte den Namen des Herren nicht in den Schmutz gezogen. Nichts! Ich hatte Niemanden Leid zugefügt. Ich war ein guter Mensch.
Zugegeben, hin und wieder mal schmutzige Gedanken. Das war doch nicht so schlimm. Das hat doch Niemanden wehgetan.
Der Wolf kam wieder ein Stück näher. Nur noch wenige Schritte trennten uns.
Okay, ich hatte sogar sehr oft schmutzige Gedanken gehabt. Seit der Pubertät eigentlich ständig. Und ich habe mich dabei selbst berührt. Ich habe an die Frau des Dorflehrers gedacht und an mir rumgespielt. Nicht nur an die Frau des Dorflehrers, auch an die Frau des Schlachters, des Schmieds und sogar an die Frau des Pfarrers.
Der Wolf war auf dem Sprung. Er riss seinen Rachen weit auf, heißer Atem und Speichel schossen heraus.
Ich habe mich selbst gestreichelt, mich massiert und mich befriedigt. Nacht für Nacht habe ich die Frauen vor mir gesehen und es mir selbst gemacht. War es denn wirklich so schlimm?
Der Wolf setzte an, er vergrub seine Pfoten im Schnee, um einen besseren Halt zu haben. Er war bereit sich auf mich zu stürzen, er war bereit, mich in Stücke zu reißen, er war bereit mich mit Haut und Haaren aufzufressen.
Gott, vergib mir, ich war ein Wichser! Ein schmutziger Onanist! Ein dreckiger Selbstbefriediger! Es tut mir so Leid!
Der Wolf löste sich vom Boden. Ich sah nur wie er auf mich zuhechtete und trotzdem konnte ich mich nicht rühren. Ich stand nur da, wie der letzte Volldepp. Nicht mal reflexartig die Arme habe ich hoch genommen. Wir sahen uns in die Augen und bevor seine spitzen Zähne mich erreichen konnten, sprang etwas auf seinen Rücken und zog ihn zurück. Ich rührte mich immer noch nicht. Ich sah nur wie ein kleiner Wicht den Wolf am Hals packte und ihn mit Gewalt runter drückte. Ich wurde ohnmächtig.

Ich erwachte und mir war warm. Das Holz im Kamin knisterte und Jemand flößte mir heißen Tee in den Mund. Ich öffnete die Augen. Ich lag im Bett, zugedeckt mit mehreren dicken Decken und am Kopfende des Bettes stand der Zwerg, lächelte mich aufmunternd an und hielt eine große Tasse Tee in den Händen.
„Wo bin ich?“, hörte ich mich selbst sagen.
„In Sicherheit. Du bist in Sicherheit“, sagte der Zwerg und seine tiefe Stimme passte überhaupt nicht zu seinem winzigen Körper.
„Was ist passiert?“
Der Zwerg gab mir darauf keine Antwort und ließ mich stattdessen aus der Tasse nippen. Langsam kam ich wieder zu mir und nach und nach kamen auch die Erinnerungen. Mein Dorf, die Dorfbewohner, der Schnee, der Wolf.
Der Zwerg verschwand, ich trank die Tasse aus und hing meinen Gedanken nach, als müsste ich mein ganzes Leben wieder in Erinnerung rufen. Ich döste ein und erst als ich erneut die Stimme des Zwerges hörte, war ich richtig wach.
„Das Essen ist zubereitet.“
Das ließ ich mir nicht ein zweites Mal sagen. Ich wickelte mich in eine Decke ein und folgte ihm ins Esszimmer. Und es sah alles nicht nur fantastisch aus, was da auf dem Tisch üppig bereit stand, es schmeckte auch so. Ich stopfte alles in mich hinein. Hähnchenbrüste, Steaks, Salat, und diese kleinen leckeren Bratkartoffeln mit der leckersten Soße auf der ganzen Welt. Ich war im Paradies. Wenn ich heute noch daran denke, muss ich mir die Finger lecken.
Der kleine Mann schaute mich zufrieden an und es schien ihn zu freuen, dass es mir schmeckte. Es mir schmeckte? Es war die reinste Gaumenfreude. Die Nudeln, der Auflauf, das Brot, das noch dampfte, als ich es auseinanderbrach. Ich habe nicht alles in meinen kleinen Magen bekommen, aber ich habe es versucht. Mein Bauch war längst kugelrund und drohte zu platzen, trotzdem zwang ich einen weiteren Bissen in mich hinein.
Als nichts mehr ging, als wirklich gar nichts mehr ging, stieß ich auf, streichelte mir über den Bauch und lachte glücklich.
Nach einer kurzen Verschnaufpause, fragte mich der Zwerg, ob wir es uns in der Bibliothek gemütlich machen wollen. Oh, der kleine Herr hatte eine Bibliothek.
Mit kleinen Trippelschritten ging der Kurze vor und ich folgte ihm. Wieder die wohlige Wärme eines Kamins und Riesenregale mit Büchern. Ich traute meinen Augen nicht. Was macht ein Mensch mit so vielen Büchern? Was macht ein Mensch überhaupt mit einem Buch? Seit der Schule hatte ich kein Buch mehr angefasst. Dieser langweilige Klugscheißermist war nichts für mich. Ich mochte keine Bücher, war halt so. Aber in so einer geballten Form beeindruckte es mich schon. Auf dem Tisch entdeckte ich meinen roten glänzenden Apfel und am Kamin meine Sachen. Die Kleidung aus Fell war zum Trocknen ausgebreitet und das Messer lag lose daneben.
Ich setzte mich auf einen weichen Sessel, schlug die Beine übereinander und der Zwerg brachte uns jeweils ein Glas Cognac und eine dicke Zigarre. Es war herrlich. Dieser kleine Mann wusste wie man lebt. Er hatte sich von seiner Größe nicht unterkriegen lassen und hatte das Beste aus seinem Leben gemacht.
Wir pafften die Zigarren, wir tranken den Cognac und wir unterhielten uns sehr lange. Er erzählte mir davon, dass er Schriftsteller war. Dass er mehrere Bücher geschrieben und auch erfolgreich verkauft hatte. Er erzählte mir von seiner Einsamkeit, dann wieder lustige Anekdoten aus seinem Leben. Er war ein wunderbarer Unterhalter.
Ich erzählte ihm aus meinem Leben im Dorf und bauschte meine Geschichten etwas auf, um neben ihm nicht klein zu wirken. Ich erzählte ihm von den Problemen und von den Totgeburten der Frauen, die das Dorf beschäftigten. Dass man mich geschickt hatte, um ihn zu töten, sagte ich natürlich nicht.
Der Zwerg hörte sehr interessiert zu, entschuldigte sich kurz, stieg eine Leiter hinauf und kam mit einem riesigen Buch runter.
„Die medizinische Wissenschaft schreitet täglich mit großen Schritten voran. Die Art wie eure Hebamme die Kinder auf die Welt bringt ist völlig überholt. Auch die Behandlung der schwangeren Frauen vor der Entbindung ist in diesem Falle sehr wichtig, damit sie ein gesundes Kind gebären.“ Dann warf er mit paar Fremdwörter umher, erklärte, wie man solche Totgeburten mit kleinen Mitteln vorbeugen konnte und ich verstand gar nichts. Ich schaute ihn mit großen Augen an, nickte zustimmend und als er laut auflachte, packte ich den Apfel vom Tisch und rammte ihn in seinen Mund.
„Geh und töte den Zwerg!“
Der Kleine schaute mich an und strampelte mit seinen winzigen Armen und Beinen, während ich den Apfel tief in seinen Mund schob.
„Warum?“, las ich aus seinen Augen. „Warum tust du mir das an? Wir sind doch Freunde.“
Ich drückte meine Knie auf seinen Bauch und hielt ihm die Nase zu. Wir waren keine Freunde. Ich war hier, um ihn zu töten. Er war vielleicht ein toller Koch, ein hervorragender Gastgeber, er war witzig, feinfühlig und hochintelligent, aber trotzdem war er anders als wir. Er war ein Zwerg, ein Aussätziger, einer mit dem Niemand etwas zu tun haben wollte.
Sein Todeskampf dauerte mehrere Minuten, aber am Ende verlor er ihn.
Ich zog meine Sachen an, steckte das Messer in den Gürtel und machte mich auf den Heimweg.
Die Dorfbewohner freuten sich, als ich wieder unter ihnen war und meine Heldentat erzählte. Dass mit dem Wolf und der Ohnmacht ließ ich natürlich weg und die nächsten Tage war ich der Held. Man grüßte mich, man nickte mir lächelnd zu, man klopfte mir auf die Schulter. Ich war glücklich. Endlich hatte ich es geschafft, ihre Anerkennung zu bekommen.
Zwei Wochen später wurden die Begrüßungen weniger, das Schulterklopfen seltener und einige Tage später ignorierte man mich wieder völlig.
Ein Jahr verging und die Totgeburten wurden nicht weniger und wieder hatte Jemand eine glorreiche Idee, wer schuld daran sein könnte. Der Bucklige aus dem alten Kloster!
Streitereien, Diskussionen, Abstimmungen und wieder machte ich mich auf den Weg und stapfte durch den Schnee in meinem Fellkostüm. Mit dem Messer am Gürtel und einem roten glänzenden Apfel als Proviant.
„Geh und töte den Buckligen!“


ENDE


(c) 2005 Dogan I.
Dogan I ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Geh und töte den Zwerg!




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.