Poetry.de - das Gedichte-Forum
 kostenlos registrieren Letzte Beiträge

Zurück   Poetry.de > Gedichte-Forum > Lebensalltag, Natur und Universum

Lebensalltag, Natur und Universum Gedichte über den Lebensalltag, Universum, Pflanzen, Tiere und Jahreszeiten.

Antwort
 
Themen-Optionen Thema durchsuchen
Alt 12.06.2023, 11:56   #1
männlich Erhard Gratz
 
Benutzerbild von Erhard Gratz
 
Dabei seit: 11/2022
Ort: Lüneburger Heide
Alter: 90
Beiträge: 160

Standard Kindheitserinnerung

Kindheitserinnerung

Wie wunderbar hüllt uns die Sonne in wohlige Wärme.
Ein Frühling, der früh schon im Jahr uns den Sommer verspricht,
erweckt die Natur aus winterlich waltender Starre
und lockt ihre Kinder hinaus ins lebendige Licht.

Die Lerche steigt hoch in den Himmel mit zartem Gezwitscher,
die Amsel im Busch singt lustig ihr launiges Lied.
Die ersten Insekten umschwirrn uns mit säuselndem Summen,
- ein Bussard hochoben im Blau seine Kreise zieht.

Doch unmerklich schwillt das Zirpen und zaghafte Summen.
Ein fernes Geräusch, das bedrohlich sich nähert, und dann
verfärbt sich der Himmel, wird schwarz und ein stählern Gewitter
zieht auf und schlägt Mensch und Getier in den tödlichen Bann.

Die Vögel verstummen. Ein Dröhnen aus tausend Motoren
in lichtblauer Höhe, ein Rauschen, gefährlich und satt.
Ein Teppich aus Eisen, ein Hagel aus Tod und Verderben
ergießt sich vom Himmel hinab auf die friedliche Stadt.

Die Erde erbebt und wir krall’n uns an sie wie von Sinnen.
Minuten, sie ziehn sich dahin, wie sonst Stunden vergehen,
doch dann ebbt der Lärm und das Dröhnen erstirbt in der Ferne.
Wir richten uns auf und wir atmen: uns ist nichts geschehen.

Die Stille umfängt uns und zaghaft beginnen die Vögel
zu trällern ihr Tremolo tausendfach in die Natur.
Der Grillengesang und das Brummen der Hummeln und Bienen
lobpreisen den sonnigen Frieden in Feld und in Flur.

Der Duft, das Aroma des stetig sich nahenden Sommers,
verfängt sich im Gras, wir genießen ihn jetzt und mit Dank.
Der Duft von Verwesung aus Trümmern und Häusergerippen
kommt später; - es braucht etwas Zeit für den Todesgestank.

* * *

Heinz zugedacht

Geändert von Erhard Gratz (12.06.2023 um 16:10 Uhr)
Erhard Gratz ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 12.06.2023, 12:44   #2
männlich Glen Elgin
 
Dabei seit: 06/2023
Ort: Leipziger Aue
Beiträge: 24

Hallo Erhard,
fesselnd! Die Szenerie ist nahezu perfekt durchdacht. Ein zartes, fast lethargisches Intro geht in ein grimmiges, todbringendes Outro über, um dann wieder zurück zu fallen. Ich hätte nach der 5. Strophe den Schlußpunkt gesetzt. Auch die Wortwahl unterstützt perfekt den Fluss: wohlig, lebendig, zart, lustig, säuselnd wird zu dröhnend, gefährlich, bedrohlich , tödlich…
Gefällt mir sehr gut!
Die Metrik scheint ein wenig holprig, aber das habe ich nicht näher betrachtet.
Grüße von Glen
Glen Elgin ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 14.06.2023, 10:40   #3
männlich Erhard Gratz
 
Benutzerbild von Erhard Gratz
 
Dabei seit: 11/2022
Ort: Lüneburger Heide
Alter: 90
Beiträge: 160

Hallo Glen,

Du hast es genau getroffen: Ich wollte ein besinnliches Gedicht schreiben, das durch einen dramatischen Einschlag zerrissen wird. Deshalb auch die durch Heinz ins Spiel gebrachten Alliterationen in den Strophen 1+2 und 6+7 (mit Ausnahme von S7, V3+4). Da Alliterationen etwas Beschwingtes haben, wären sie in V3-5 allerdings unangebracht.

Zur Entstehungsgeschichte: Das Gedicht beschreibt den schweren Bombenangriff von 1945 auf Cottbus. Meine Eltern und ich waren per Fahrrad unterwegs von Spremberg via Cottbus nach Lieberose, wo wir das Kriegsende verbringen wollten.
Wir aßen zu Mittag in einer kleinen Gaststätte in der Nähe des Bahnhofs, als Fliegeralarm ertönte, und meine Mutter bestand darauf Cottbus zu verlassen. Wir folgten ihrem Wunsch lustlos und fanden uns bei Beginn des „Erdbebens“ etwa 1000m vom Zentrum entfernt im Straßengraben einer Ausfallstraße wieder.
Nach Ende des Bombardements wollten wir zur Gaststätte zurückkehren, fanden dort aber nur eine etwa 1m hohe gleichmäßige Schuttschicht vor. Wir hätten es nicht überlebt.
Ich erinnere mich auch deutlich, wie nach Abzug der Flugzeuge die Vögel wieder zaghaft und immer stärker zu singen begannen und wie mich das als 11järiges Kind ins Grübeln brachte.
Insofern konnte ich das Gedicht auch nicht mit Vers 5 enden lassen.

Deine Bemerkung über die Schicklichkeit der Wörter freut mich. Ich habe auch lange gesucht.

Gruß,
Erhard
Erhard Gratz ist offline   Mit Zitat antworten
Antwort

Lesezeichen für Kindheitserinnerung




Sämtliche Gedichte, Geschichten und alle sonstigen Artikel unterliegen dem deutschen Urheberrecht.
Das von den Autoren konkludent eingeräumte Recht zur Veröffentlichung ist Poetry.de vorbehalten.
Veröffentlichungen jedweder Art bedürfen stets einer Genehmigung durch die jeweiligen Autoren.