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Alt 05.11.2016, 16:40   #1
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Standard 7. Kapitel Urlaub in Jena

7. Kapitel

Spatengeklirr am frühen Morgen? Ein Blick auf die Uhr - es war gerade mal sieben, aber einschlafen konnte ich nicht mehr. Katzenwäsche, eine Tasse Kaffee und die unvermeidliche Zigarette; ich hatte mich nit „meiner Marke“ gut eingedeckt, weil ich selbst in Wuppertal Probleme hatte, sie zu bekommen. B&H in der roten Blechschachtel, ohne Filter und nur über eine Freundin aus London zu bekommen. Das Spatengeklirr hatte mich neugierig gemacht und ich ging dem Geräusch nach. Ich wollte es gar nicht glauben - da waren schon etliche Nachbarn im Garten zugange - morgens um sieben Uhr! Einmal unterwegs kletterte ich den schmalen Pfad Richtung Fuchsturm hinauf und hatte nach den ersten 100 beschwerlichen Metern einen freien Blick auf Jena - hätte einen freien Blick auf Jena gehabt, denn ganz Jena war verschwunden. Verschwunden unter einer schneeweißen Wolkendecke, aus der an einer Stelle der „Penis Jenensis“, das runde Hochhaus, das die Erbauer mitten ins Stadtzentrum gesetzt hatten, heraus ragte. Natürlich hatte ich meinen Fotoapparat nicht mitgenommen und muss meine Erinnerung bemühen, um mir dieses Naturschauspiel vors geistige Auge zu stellen.
Bis zum angekündigten 10-Uhr-Tete-a-tete war noch Zeit. Gegen halb neun stand Diana am Gartenzaun, ich half ihr zu mir herüber, beratschlagten ob wir erst frühstücken und dann duschen oder das Frühstück weglassen, um dann zu duschen. Wir blieben hungrig und ich ließ Diana allein; sie knurrte nur leise: „Machs hübsch!“ und ich machte mich auf den Weg
zur Wohnung meines Onkels.
Punkt zehn Uhr klingelte es, ein Hüne (gemessen an meinen 1,74m war er eine Hüne) mit Stoppelhaaren und einer frappanten Ähnlichkeit mit dem österreichischen Kabarettisten Schneider (der oft mit seinem deutschen Kollegen Hildebrandt auftrat) stand vor mir. Gerhard und Ursel waren „auf Arbeit“, ich bat ihn herein und fragte: „Du bist also Netzers Horst - ich hätte Dich auf der Starße nicht erkannt!?“
„Nee, nee, da hat ihnen - ach, wir können ruhig beim Du bleiben - da hat dir dein Onkel was Falsches gesagt. Ich sollte vom Horst Grüße bestellen, ich heiße Helmut Noack.“
Ich ging auf das Spiel ein, fragte nach meinem Schulkameraden und ob er immer noch in der Gustav-Fischer-Straße 3 wohnt (da habe ich als Kind gelebt, Horst war der Nachbarjunge in der Nr. 5 . „Nee, der wohnt schon lange in Erfurt.“ (Kein Wort davon, dass es die Nr. 3 gar nicht mehr gab, weil das Haus wegen einer Wasserader darunter baufällig geworden und abgerissen war).
Ich erfuhr, dass Helmut als eine Art Touristenbetreuer im Auftrag der Friedrich-Schiller-Uni-versität tätig war. Seine Aufgabe bestand u.a. darin, dass er Gespräche mit ausländischen Touristen mit dem Ziel der Zufriedenheit der Gäste zu führen hatte.
„Weißt du was - es ist ja bald Mittag, ich lade dich zum Essen ein und dabei können wir uns ungestört unterhalten.“ Na schön dachte ich mir, wir sind hier ja auch ungestört, aber was solls, vielleicht gibt es in der Kneipe ja Thüringer Klöße (diesen Gaumenschmaus hatte mir Gerhard schon in Aussicht gestellt, doch wegen des Aufwands der Zubereitung hätte ich noch eine Woche darauf warten müssen). Immerhin, Helmut, der partout nicht in meiner Nobel-karosse mitfahren wollte, fuhr mit mir in seinem Wartburg nicht in irgendeine Kneipe, sondern hinauf zum „Landgrafen“, einer Gaststätte hoch über Jena und wartete brav mit mir auf den Kellner, der „internationalem Standard“ entsprechend, uns die Plätze (in einem fast leeren Gastraum) anwies. Es gab tatsächlich Thüringer Klöße mit Rotkohl und Schweine-braten, das Jenaer Bier schmeckte mir, Helmut trank Nichtalkoholisches - eine Orangenjuice.
Helmut war, ich erähnte es schon, großgewachsen, knapp zwei Meter, blond, blauäugig und - hätte ich nicht ständig an den Staatssicherheitsdienst denken müssen - ein sympathischer, etwa 35 Jahre alter, eloquenter Mann.
„Sag mal, du betreust Touristen aus dem Ausland - wie kommst du denn auf den Klopper, ich sei ein Ausländer? Ich bin bestimmt ein paar Jahre früher als du hier in Jena geboren und du erzählst mir, ich soll ein Ausländer sein!“
Es entspann sich eine rege Diskussion, die wegen wachsender Lautstärke dazu führte, dass Helmut den Kellner bat, uns einen anderen Tisch zuzuweisen. Das hatte für ihn den Vorteil, dass benachbarte Gäste uns nicht begierig lauschten, für mich, dass ich vom neuen Platz aus eine herrliche Aussicht auf meine Heimatstadt hatte. Das Aussichtsrestaurant des Penis Jenensis liegt, wie Helmut mir stolz erklärte, auf unserer Augenhöhe und hatte damit einen Stein ins Rollen gebracht, nämlich den Anstoß zu einer lebhaften Diskussion über das Bau-unwesen der DDR gegeben. Was in meinen Augen „Unwesen“ war, rangierte bei Helmut unter architektonischen Errungenschaften. Das Essen war längst vergessen, ich war beim fünften Glas Bier (wobei zu erwähnen ist, dass das Normalmaß 0,3 l im Gegensatz zu den gewohnten 0,2 l in meiner Wuppertaler Kneipe war) und analog zum Promillegehalt in meinem Blut stieg die Temeratur und Lautstärke unseres Wortgefechts.
„Schau mal auf den Penis Jenensis (den Ausdruck mochte er gar nicht), das Rathaus und den Johannisturm und vor allem auf den „Roten Platz“! Was habt ihr euch dabei gedacht? Ich habe mir das vorgestern mal aus der Nähe angesehen: Dutzende mittelalterliche Häuser im Stadtzentrum habt ihr platt gemacht, ein asbestverseuchtes Monstrum mitten hinein gesetzt, einen Roten Platz für Zwerge gebaut und - das ist wohl der größte Schildbürgerstreich - die Bänke rings um den Paradeplatz verkehrt rum hingepflanzt.“
„Wieso, die stehen doch richtig!?“
„Nee, ich hab da drauf gesessen und - die Rückenlehnen sind dem Roten Platz zugewandt und wenn man auf der Bank sitzt, glotzt man in die leeren Schaufensterscheiben eines Hutgeschäfts (ich bezog mich auf ein Einzelbeispiel).“
Helmut verteidigte tapfer seine Einstellungen, machte geltend, dass die Wohnungswirtschaft die vordringlichste Aufgabe war, weil so vieles von den Westalliierten zerstört worden sei.
„Mensch, überleg mal: Wir haben aus dem Nichts Wohnungen für 30.000 Menschen geschaf-fen und ...“, ich unterbrach ihn: „Meinst du Neu-Lobeda, wo die Leute in den Arbeiter-schließfächer nachts aus lila, grünen und gelb erleuchtenden Fenstern in die Welt gucken?“
Helmut, das muss ich ihm lassen, blieb gelassen, brachte immer neue Argumente, die nach fast fünfstündiger Diskussion darin gipfelten: „Du müsstest dir mal unsere Hauptstadt angucken, was da geleistet wurde, wird sogar dich überzeugen!“ Bevor ich biergestählt das Lied „Bau auf, bau auf“ anstimmen konnte und das wir als Kinder schon in „Hau ab, hau ab“ umgedichtet hatten, schaute Helmut auf die Uhr, lobte mich für mein temperamentvolles Eintreten für die Interessen der Arbeiterklasse und verabredete mit mir einen zeitnahen neuen Gesprächstermin. Auf dem Nachhauseweg wurde entspannt geplaudert und wir schieden mit den versöhnlichen Worten, das Wichtigste bei allem Trennenden sei ja doch die gemeinsame Überzeugung, dass die Erhaltung des Friedens über allem stünde.
Ursel und Gerhard platzten fast vor Neugier und ich musste ihnen haarklein erzählen, wie mein Rendezvous mit Helmut abgelaufen war. Gerhard zog die Augenbrauen hoch und: „Du bist dir doch im Klaren, dass dieser Helmut von dem Stasi auf dich angesetzt ist?“
„Klar wie Kloßbrühe!“ (Im Hinterkopf: Wenn die glauben, einen Hauptfeldwebel aufs Kreuz legen zu können, haben sie sich aber ganz schön vergaloppiert).
Das nächste Treffen war ein paar Tage später im „Schwarzen Bären“, einer historischen Gaststätte nahe der Universität und noch näher (das erfuhr ich am Abend) an der Jenaer Stasi-Zentrale „Am Anger“.
Das Essen war gut, dem Alkohol entsagte ich, freute mich insgeheim, dass mein Zigaretten-qualm Helmut zusehends auf den Wecker ging, die Diskussion war leiser wegen der vielen Gäste aber nicht weniger hitzig. Sie endete kurz vor Mitternacht mit der Einladung nach Berlin. „Na, du bist gut: Ich fahr mal eben nach Berlin, glaubst du, wir im Westen haben im Keller eine Privatbank? Und was erzähl ich meiner Frau?“
„Deiner Frau kannst du doch was von einem Seminar...“ - „Du erzählst vielleicht einen Quark! In Berlin gibt es keine Bundeswehrseminare.“ - „Ich denke, du bist bald fertig mit der Bundeswehr? Da gibt es doch bestimmt so berufsvorbereitende Veranstaltungen!“
So ging es hin und her bis Helmut auf das verlockende Angebot kam, mir die Flugkosten (ich sollte die Autobahn meiden) und den Aufenthalt zu finanzieren.
Bingo! Das wars.
Für den Rest des Urlaubs in Jena hatte ich meine Ruhe und konnte ungestört meinen Plänen nachgehen. Goethes und Schillers Wirkungsstätten in Weimar, die Dornburger Schlösser, ein Besuch der Einhügelquelle, mehrerer Verwandter, Dresdens, des Jenaer Planetariums und des Botanischen Gartens standen auf meiner Wunschliste, das kleine Familientreffen im Fuchs-turm und ausgedehnte Ausflüge auf eigene Faust sollten realisiert werden.
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