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Alt 29.10.2017, 13:30   #1
weiblich DieSilbermöwe
 
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Standard Matze, das Waisenkind, Kapitel 1

07. März 1960

Es war bitterlich kalt für einen Märzmorgen. Schwester Regina fror erbärmlich, als sie aus dem Nebengebäude, in dem die Schlafsäle der Ordensschwestern des Augustinerinnen-Klosters untergebracht waren, heraus trat und sich auf den langen Weg zum Hauptgebäude machte, in dem die 6-Uhr-Andacht abgehalten wurde. Eigentlich war noch über eine halbe Stunde Zeit, aber sie war gern die erste und verbrachte vor dem Altar noch eine kleine Weile ganz allein in stillem Gebet. Heute sollte sie jedoch nicht dazu kommen.
Sie wollte wie immer so nah wie möglich an der Klostermauer vorbei laufen und durch das stets abgeschlossene große Eisentor, das in der Mauer eingelassen war und zu dem sie einen Schlüssel in einer der großen Taschen ihrer Ordenstracht trug, einen Blick nach draußen werfen, teils um zu überprüfen, ob sich niemand unbefugterweise dort draußen herumtrieb, teils um einen Blick auf die noch schlafende Stadt hinter den Mauern zu erhaschen. Doch heute war sie noch weit vom Tor entfernt, als sie glaubte, jemanden von dort rufen zu hören. Vielleicht brauchte jemand ihre Hilfe? Während sie dem Tor näher kam, war es ihr, als würde sie auch ein Baby schreien hören – und eine leise Frauenstimme, die wohl beruhigend auf das Kleine einredete.
Als sie ihr Ziel erreichte, wurde ihre Vermutung bestätigt. Vor dem Tor stand eine junge blonde Frau, die, soweit sie das in dem fahlen Licht des anbrechenden Tages erkennen konnte, von sehr schlanker Statur war. Es sah aus, als würde sie ein weißes Bündel auf dem Arm halten, das kräftig zappelte und greinte. Offenbar war das Baby von Kopf bis Fuß in ein weißes Tuch gehüllt, sodass man das Köpfchen gar nicht sehen konnte. Die junge Frau schien erleichtert aufzuatmen, als sie Schwester Regina erblickte. Ob es wohl die Mutter war?
„Guten Morgen, Schwester Oberin“, sagte die Frau ehrerbietig.
„Guten Morgen“, erwiderte Schwester Regina, die zwar ahnte, was die junge Frau wollte, aber keineswegs die Absicht hatte, ihr die Sache auch noch zu erleichtern.
„Ich habe dieses Kind gefunden, Schwester Oberin.“
„Gefunden?“ Schwester Regina sah die junge Frau abschätzig an.
„Ja, Schwester Oberin. In der Nähe meiner Wohnung ist auch eine Kirche. Dort habe ich es heute morgen auf den Treppenstufen gefunden. Ich hatte Babyweinen gehört und wollte der Sache nachgehen. Das arme Ding! Ihr zieht doch hier Waisenkinder auf?“
Die Stimme der Frau hatte bei den letzten Worten einen fast flehenden Tonfall angenommen.
„Warum gibt sie nicht zu, dass sie die Mutter ist“, dachte Schwester Regina mürrisch. Als ob das einen Unterschied machen würde.
„Ja, wir nehmen Findelkinder auf“, sagte sie, während sie den Schlüssel aus ihrer Tasche holte und das große Eisentor aufschloss, das sich quietschend öffnete.
Die Frau hielt ihr das Bündel entgegen.
„Vergelt's Euch Gott, Schwester Oberin!“
Schwester Regina nahm das Bündel behutsam an sich und schlug das Tuch, das den Kopf des Babys verhüllte, sanft zur Seite. Ein feuerroter Schopf kam zum Vorschein und das Baby fing nun wieder kräftiger zu schreien an.
„Es ist ein Junge“, sagte die Frau. „Schaut, um den Hals hat er einen Zettel mit seinem Namen.“
Jetzt fiel auch Schwester Regina auf, dass um den Hals des Kindes ein langer Bindfaden hing, dessen beide Enden durch zwei Löcher eines Pappestückes gezogen und hinter dem Pappestück verknotet waren. Auf der Pappe stand in großer Schrift: „Er heißt Matze.“
„Und so haben Sie ihn gefunden?“
„Ja, genauso, Schwester Oberin.“
Die Frau knickste ehrerbietig. „Ich bin froh, dass ich ihn gefunden habe – bei der Kälte! Ich glaube, lange hat er noch nicht vor der Kirche gelegen.“
Schwester Regina musterte die Frau bei diesen Worten schweigend. Irrte sie sich, oder waren ihre Augen feucht?
„Ich muss zur Arbeit, Schwester Oberin. Ich danke Euch von ganzem Herzen. Ist es möglich, das Kind mal zu besuchen?“
„Natürlich, zu unseren Besuchszeiten und wenn Sie sich vorher angemeldet haben.“ Jetzt war Schwester Regina völlig überzeugt davon, die Mutter vor sich zu haben.
Die junge Frau warf noch einen Blick auf das Kind, das sich keineswegs beruhigt hatte und weiter aus Leibeskräften schrie. Dann bekreuzigte sie es.
„Behüt' dich Gott, kleiner Matze! Bleib gesund und werde glücklich!“ Dann versagte ihr die Stimme, sie wandte sich ab und lief davon. Schwester Regina sah ihr nach und wiegte das schreiende Kind in ihrem Arm leicht hin und her, um es ein wenig zu beruhigen.
„Sicher schreit er vor Hunger, ich werde ihm gleich die Babynahrung zubereiten “, dachte sie, „er hat wahrscheinlich noch überhaupt nichts bekommen.“
Sie hielt das schreiende Kind fest in ihren Armen und trug es zum Hauptgebäude hinüber.

- Fortsetzung folgt -
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Alt 30.10.2017, 09:36   #2
weiblich Ilka-Maria
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Liebe Siebermöwe,

das ist gut strukturiert und flüssig erzählt. Die Geschichte mit einer frostigen Märznacht zu beginnen, ist eine gute Entscheidung (gewollt oder Bauchgefühl?), denn die Kälte unterstreicht die Atmosphäre um das Kloster herum und die Situation der in Not geratenen Mutter. Trostloser geht es kaum.

Ersichtlich ist nicht, ob auch dieser erste Teil - wie bei deiner Vorarbeit - als Prolog gedacht ist. Wenn ja, ist zu überlegen, ob weniger und knappere Dialoge besser wären. In erster Linie geht es darum, den Leser in die Geschichte einzuführen und sein Interesse zu wecken. Das hat hier vor allem die atmosphärische Dichte der klösterlichen Umgebung geschafft. Auch wirkt die Nonne mit ihren knappen Worten, aber mit ihren Reaktionen und Zweifeln stärker charakterisiert als die Mutter, die sich mit jedem Wort verrät und damit rechnen muss, eine christliche Standpauke über mütterliche Pflichten und Liebe zum Kind um die Ohren geschlagen zu bekommen. Die Charakterisierung der Nonne - in sich ruhend, offenen Ohres, streng in Glauben und Lebensführung - ist auch völlig ausreichend für einen Prolog, denn der Leser will wissen, in welche Hände das Baby gerät.

Vom Stil her ist an deiner Geschichte nichts auszusetzen, sie geht runter wie Butter. Trotzdem würde ich an deiner Stelle noch einmal die Verben und Adjektive überprüfen. Verzichtbare Füllsel schleichen sich immer wieder gerne ein (auch noch erleichtern ...), bringen dem Text jedoch nichts. Ist "über eine halbe Stunde" wesentlich, oder hätte die halbe Stunde auch genügt? Wesentlich genauer wird die Nennung der Zeit meines Erachtens durch das "über" nicht, denn für den weiteren Verlauf spielt es keine Rolle, ob es doch eher vierzig Minuten sind. Das sind Kleinigkeiten, aber je weniger Überflüssiges ein Text enthält, desto geschmeidiger wird er.

Bei den Verben bin ich z.B. über "zappeln" gestolpert. Das kann man zwar schreiben, aber wäre "strampeln" für ein Baby nicht der bessere Ausdruck? Welche Assoziationen verbindest du mit diesen beiden Verben?

Das sind aber nur Tipps. Insgesamt merke ich deinem Text durchaus an, dass du auf die Formulierung große Aufmerksamkeit gelegt hast.

Noch ein Tipp: Die Perspektive dieses ersten Teils ist personal, nämlich aus der Sicht der Nonne. Jetzt kannst du noch überlegen, in welcher Perspektive du fortfahren möchtest. Wenn es ein Prolog ist, kannst du bei der eigentlichen Geschichte die Perspektive noch wechseln.

LG
Ilka
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Alt 30.10.2017, 15:50   #3
weiblich DieSilbermöwe
 
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Liebe Ilka,

danke für deinen Kommentar! Es freut mich, dass ich das Trostlose dieses Morgens gut rübergebracht habe, denn das und die Kälte waren Absicht. Ich hatte gerechnet: Bei "Matzes Mutter" war sie im Herbst ca. Im vierten Monat, also passte März für die Geburt. Ein Fehler ist mir unterlaufen, weil ja ursprünglich ihre Freundin Elsbeth das Kind ins Waisenhaus bringen sollte und sie ist blond, Matzes Mutter ist ja rothaarig wie er. Aber sie hätte auch eine blonde Perücke tragen können, damit es nicht auffällt oder ein Kopftuch, unter dem das rote Haar hervor lugt.

Die personale Perspektive aus Sicht der Nonne war bewusst gewählt, denn hier bei ihr fängt Matzes neuer Lebensabschnitt an. Ich finde diesen Stil für solchen Wandel in der Geschichte richtig gut.

Ja, eigentlich ist es auch ein Prolog. Irgendwoher muss die Nonne ja wissen, dass er Matze heißt, deswegen war das notwendig.

Übrigens waren die ersten Sätze mit der Beschreibung der Umgebung die weitaus schwierigsten. Man glaubt gar nicht, wie schwer das ist, so zu schreiben, dass der Leser es vor sich sieht. Freut mich, dass man merkt, dass ich mir damit Mühe gegeben habe.

Noch eine Ergänzung: Matzes Mutter ist hier auch absichtlich schwächer charakterisiert. Sie wird in Matzes Leben keine Rolle mehr spielen. Deswegen erschien mir das so passend.

LG DieSilbermöwe

Geändert von DieSilbermöwe (30.10.2017 um 19:08 Uhr) Grund: Ergänzung
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Alt 30.10.2017, 19:10   #4
weiblich Ilka-Maria
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Zitat:
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Noch eine Ergänzung: Matzes Mutter ist hier auch absichtlich schwächer charakterisiert. Sie wird in Matzes Leben keine Rolle mehr spielen und ist darauf angewiesen, dass andere ihr Kind großziehen. Da kann man nicht "stark" auftreten. Oder hattest du gemeint, das noch stärker heraus zu arbeiten?
Nein, so wie du es gemacht hast, ist es völlig richtig. Warum den Leser mit Details überschütten, die danach keine Rolle mehr spielen? Das würde ihn nur verärgern. Deshalb ist beim Schreiben ständig die Frage zu stellen: Braucht meine Geschichte diese Details/diese Szene/diese Figur etc.?

Etwas anderes wäre es, wenn in Matze ein Charakterzug seiner Mutter zum Vorschein käme, der für die Geschichte wesentlich ist. Aber auch dann bedürfte es keiner großen Vorgeschichte um die Mutter herum, das könnte eher allmählich durch Rückblenden aufgedeckt werden (z.B.: Matze trifft auf Menschen (oder auf den einen Menschen), die seine Mutter kannten und ihm über sie und ihr Schicksal berichteten). Ob du als Autorin das willst oder die Mutter lieber am Anfang abhakst, musst du dir halt sehr früh überlegen.
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Alt 30.10.2017, 19:17   #5
weiblich DieSilbermöwe
 
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Das Zitat, das du herausgegriffen hast, hatte ich, ehe ich deinen Beitrag gesehen habe, nochmal geändert, falls das jetzt für Verwirrung sorgt . Ich denke auch, dass über die Mutter alles gesagt ist. Ich habe sie für die Geschichte eigentlich abgehakt, denn die Handlung soll ja in eine ganz andere Richtung gehen.
DieSilbermöwe ist offline   Mit Zitat antworten
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Lesezeichen für Matze, das Waisenkind, Kapitel 1

Stichworte
findelkind, kloster, waisenkind



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