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Alt 04.04.2018, 18:07   #1
weiblich Ilka-Maria
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Standard Brüder

An einem der glücklichen Tage meiner Kindheit, als die Sonne schien, ich vor dem Frühstück mit dem Hund vor dem Haus tollte, Vater die Eimer mit der frischen Milch aus dem Kuhstall trug und aus dem Haus der Duft von Kaffee wehte, war mein Bruder verschwunden.

Als wir zum Frühstück am Tisch saßen und Vater sein Dankgebet sprach, wie er es dreimal am Tag zu sprechen pflegte, blieb der Platz neben mir leer.

Niemand sagte ein Wort, während wir unser Brot aßen. Vaters Stirn war von Furchen durchzogen, und aus Mutters Augen sprachen Kummer und Bitternis.

Wenn ich aus der Schule kam, half ich Vater, so gut ich konnte. Mit allen Kräften versuchte ich, meinen Bruder zu ersetzen, und Vater dankte es mir mit einem anerkennenden Brummen, obwohl ich mehr Lehrling als eine Hilfe war. „Er schuftet sich zu Tode“, hörte ich meine Mutter sagen.

Abends weinte ich mich in den Schlaf. Weshalb hatte mein Bruder mich verlassen? Ich dachte an die Kühe, die wir von der Weide zum Stall trieben, an die Kröten, die wir auf der Bachwiese fingen und dem Nachbar durch das offene Fenster auf den gedeckten Mittagstisch setzten, an die geklauten Fahrradklingeln, die wir in einem Schuhkarton aufbewahrten, und an allerlei Schabernack, der uns regelmäßig den Pfarrer ins Haus trieb.

Wir waren zwei schlimme Schlingel, und noch heute bewundere ich die Gelassenheit meiner Eltern, mit der sie den Ärger ertrugen, um den wir nie in Verlegenheit gerieten.

Ich vermisste meinen Bruder und begriff nicht, weshalb er freiwillig unser Paradies verlassen hatte. Ich war zu jung, um zu verstehen. Hier und da schnappte ich Bemerkungen auf, die ich nicht deuten konnte, die sich aber in meinem Gedächtnis verankerten.

„Er hatte recht. Hier ist keine Zukunft mehr.“

„Es ist das Erbe unserer Väter.

„Ich weiß nicht, wie lange wir den Hof noch halten können.“

„Die Zinsen fressen uns auf.

„Was wird aus dem Kleinen?“

Der Kleine war ich, inzwischen sechzehn Jahre alt. Mein Vater kam zu mir, um mir zu sagen, dass er den Hof zu verkaufen gedachte. Gemeint war nicht der Hof, sondern das Land, auf dem die Gebäude standen, die Heuwiese, das Getreidefeld, der Ziehochse, zwei Milchkühe, zwei Schweine, sechs Hennen und ein Hahn. Die Gebäude selbst waren nichts wert.

„Wir ziehen in die Stadt, dort habe ich eine Arbeit gefunden.“

Ich nahm die Graugetigerte in den Arm.

„Und Minky?

„Die muss hierbleiben.“

„Aber Rolfie ..-“

Der Hund strich mir eifersüchtig um die Beine, ohne Minky aus den Augen zu lassen.

„Der auch.“

Der Tag des Abschieds rückte näher. Ich lag abends auf dem Bett, auf dem Minky neben mir schnurrte, und hoffte auf das Wunder, dem ich böse war, weil ich wusste, dass es niemals eintreten würde.

Am Tag des Auszugs halfen uns die Nachbarn, den Möbelwagen zu beladen. Wir hatten nicht viel, so dass wir bald damit fertig waren. Um uns herum standen die Bulldozer bereit, um unser Wohnhaus und den Stall dem Erdboden gleichzumachen. Zeit ist Geld.

Ich begrub mein Gesicht ein letztes Mal in Minkys Fell, bevor ich sie einem Nachbarsjungen in den Arm legte. Er streichelte sie und nickte mir zu.

„Steig ein!“ Die Stimme meines Vaters war rau geworden.

Niemand beachtete die Limousine, die abseits hielt und der ein junger Mann entstieg. In dunklem Anzug und mit seidenglänzender Krawatte wirkte er auf die Dorfbewohner distinguiert und gebieterisch.

Er kam auf mich zu und fuhr mir mit der Hand durch die Haare. „Na, Kleiner, du hast dich ja ordentlich gemausert!“

Dann wandte er sich dem Möbelspediteur zu. „Pack das Zeug wieder runter!“

Und den Fahrern der Bulldozer rief er zu: „Zieht ab. Den Rest des Tages habt ihr frei.“

Er wandte sich meiner Mutter zu, nahm ihr tränenüberströmtes Gesicht in die Hände und küsste sie auf die Stirn. „Nicht weinen, Muttchen, mach mir lieber einen Kaffee.“

Zu Vater sagte er nichts. Er nahm in bei der Schulter, und sie gingen wie zwei alte Kumpel zusammen ins Haus.

Das ist lange her.

Ich habe das Haus und den Stall drei Mal angestrichen, mehrfach die Innenräume renovieren lassen und alle Kaufangebote ausgeschlagen. Auf dem Hof gackern noch immer die Hühner, und spätestens um vier Uhr früh kräht der Hahn. Den Ochsen und die Kühe halte ich nicht mehr, der Schweinekoben ist verwaist, Heuwiese und Getreidefeld sind verpachtet.

Sonntags besuche ich die Grabstätte meiner Eltern auf dem Kirchenfriedhof und stelle ihnen frische Blumen hin, die ich morgens in unserem Garten gepflückt habe. Dann sage ich Vater, wie unverwüstlich seine Margeriten sind. Und Mutter sage ich, dass sie sich um meinen Bruder keine Sorgen machen müsse, es gehe ihm gut.

Es war auf einer Geschäftsreise in Kanada, wo er tödlich verunglückte, und ich weiß bis heute nicht, wo man ihn begrub.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2018, 21:46   #2
männlich Ex-JavaScript
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Dabei seit: 04/2010
Beiträge: 652


Eine zauberhafte Geschichte. Eine bekannte Geschichte. Der große Bruder. Ich bin selber einer und ich weiß, wie wichtig das Wirken auf die kleinen Geschwister sind. Ich fand die Stelle wunderbar, als der Bruder wieder in das Dorf zurückkehrte, mit Limousine und von der weinenden Mutter empfangen wurde! Herzerwärmend.

Warum aber hast du es aus der Sicht eines kleinen Bruders und nicht die einer Schwester geschrieben? Magst du darüber mehr erzählen? Hat es biografische Gründe? Mich hat deine kleine Erzählung berührt. LG
Ex-JavaScript ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 04.04.2018, 21:49   #3
weiblich Ilka-Maria
Forumsleitung
 
Benutzerbild von Ilka-Maria
 
Dabei seit: 07/2009
Ort: Arrival City
Beiträge: 31.076


Zitat:
Zitat von Amir Beitrag anzeigen
Warum aber hast du es aus der Sicht eines kleinen Bruders und nicht die einer Schwester geschrieben?
Weil sich kleine Jungs männliche Vorbilder und kleine Mädchen weibliche Vorbilder suchen. Das liegt nun mal in ihrer Natur. Ein kleines Mädchen hätte in dem größeren Bruder wahrscheinlich weniger das Vorbild als vielmehr einen Beschützer gesehen. Das ist ein ganz anderes Rollenspiel.
Ilka-Maria ist offline   Mit Zitat antworten
Alt 11.04.2018, 19:33   #4
weiblich Ex-Letreo71
abgemeldet
 
Dabei seit: 01/2014
Ort: Niedersachsen
Beiträge: 4.032


Oh ha, Ilka, das geht unter die Haut. Ein starker Text, der auch mich sehr berührt hat.

Sehr gern gelesen.

Lieben Gruß

Letreo
Ex-Letreo71 ist offline   Mit Zitat antworten
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