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Alt 23.03.2013, 18:11   #1
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Standard Gebrochene Flügel (Teil 3)

Teil 3
Keuchend und bis auf die Haut durchnässt, trat Bernhard Folkerts schwer atmend aus dem Wald auf die Straße. Keine zwanzig Meter weiter, sah er das erste Haus. Warmes, gelbes Licht strahlte aus einem Erkerfenster auf den Gehsteig.

Endlich ein Telefon.
Endlich Rettung.
Endlich Wärme.

Bernhard schleppte sich mühsam darauf zu. Seine Beine fühlten sich an, als wate er durch tiefsten Morast. Als er am Vorgartentor angekommen war, schaute er die Straße hinunter und bemerkte weiter unten, an der gegenüberliegenden Seite eine Bushaltestelle, an deren seitlichem Windschutz ein Plakat angebracht war. Darauf war ein lachender, blonder Junge zu sehen, der dem Betrachter seine Hand entgegenhielt. Auf der Spitze des Zeigefingers krabbelte ein Marienkäfer. Augenblicklich war ihm, als träfe ihn der sprichwörtliche Blitz.
Dennis!
Wie ein Fanal leuchtete dieser Name in der jetzt nicht mehr so grabesgleichen Dunkelheit seines Gedächtnisses. Die Erinnerung kam wie ein Tsunami – unaufhaltsam und gewaltig. Mit einem Mal wurden Bernhards Knie butterweich. Reflexartig griff er nach einem Pfosten der niedrigen Vorgartenmauer, um nicht umzufallen, und ließ sich auf die geklinkerte Gartenbegrenzung sinken. Es war, als hätte eine unsichtbare Hand die Starttaste seiner Erinnerungsmaschine gedrückt, die seit seinem Erwachen auf Standby geschaltet war. Im Bruchteil einer Sekunde war ihm wieder bewusst, um was es ging und wem er sein momentanes Elend zu verdanken hatte. Die verdrängten Bilder kamen wie Schläge in die Magengrube.

Es war gegen 18 Uhr 30, als ihn endlich der Anruf der Entführer erreichte. Jedes Wort lief wie in einem Nachrichten-Ticker über seinen inneren Monitor:
„Du hältst dich wohl für besonders schlau, du Idiot. Damit hast du die Lage deines Sohnes nur verschlimmert. Wenn du Dennis lebend wieder sehen willst, bringst du die geklaute Speicherkarte mit und alle Kopien, die du gemacht hast. Heute Abend halb neun, alter Schlachthof im Industriegebiet. Dort fährst du auf den Hof. Ein Fehler von dir und Dennis überlebt nicht. Und wenn du dir für später etwas aufheben solltest, ist dein Bruder dran. Vergiss das niemals. Und denk dran, wenn wir die Bullen auch nur riechen, ist Dennis tot.“

Es war 19 Uhr30 als Bernhard Folkerts seinen Passat Kombi gestartet hatte und in Richtung altes Industriegebiet fuhr. Die Gebäude des vor fast zehn Jahren geschlossenen Schlachthofes, lagen am Ende einer Sackgasse und grenzten an ihrer Rückseite an den Stadtwald. Ein idealer Treffpunkt für ein solches Vorhaben. Um diese Tageszeit würde er etwa fünfzehn Minuten bis zu seinem Ziel benötigen. Er wollte nicht als Letzter dort ankommen. Wenn man nicht weiß, wer und was einen erwartet, so dachte er, ist es besser, wenn man sich in Ruhe ein wenig umschauen kann.
Seine Armbanduhr zeigte 19 Uhr 42 als das verrostete Rolltor des ehemaligen Fleischbetriebes im Lichtkegel seiner Scheinwerfer erschien. Wenige Meter davor stoppte er. Dann stieg er aus, sich nach allen Seiten umschauend, und drückte das rumpelnde und quietschende Rolltor so weit wie nötig auf. Es hatte ihn weniger Anstrengung gekostet, als er befürchtete. Der asphaltierte Hof, der sich zwischen der Einfahrt und den drei in U-Form angelegten Fabrikgebäuden befand, war in seinem hinteren, an die Hallen angrenzenden Teil, stockfinster. Die letzte Straßenlaterne der Sackgasse war etwa achtzig Meter entfernt, sodass nur der vordere Bereich am Tor in ein schwaches, gelbliches Licht getaucht war. Langsam war er auf das Gelände gefahren, links herum einen Kreis beschreibend. Dabei hatte er die Gebäudefronten, die vom Scheinwerferlicht angestrahlt wurden aufmerksam in Augenschein genommen. Aber in den Nischen der Tore und Türen konnte er nicht verdächtiges feststellen. Als der Kreis sich schloss und er wieder Richtung Einfahrt gerollt war, lenkte er den Wagen nahe an das, von der Straße aus gesehen, linke Gebäude heran, sodass zwischen Auto und Hauswand gerade Platz für den rechten Außenspiegel war.
Bernhards Uhr zeigte 19 Uhr 46. Er ließ die Seitenscheibe herunter und lauschte in die Nacht. Die unzähligen Tropfen des Nieselregens glitzerten im fahlen Schein der alten Laterne wie Goldstaub. Alles war ruhig. Von Ferne hörte er das stete Rauschen des nahen Autobahnverkehrs. Er dachte noch einmal über den Anruf der Kidnapper nach. „Du kannst mit deinem Sohn reden, wenn du unsere Bedingungen erfüllst. Keine Bullen, sonst muss er sterben. Zu gegebener Zeit, werden wir ihn frei lassen, wenn du spurst. Solltest du einen Fehler machen, siehst du Dennis nie wieder.“
Bernhard war sich darüber im Klaren, dass er nicht die Spur eines Planes hatte.
Ich mache das ja auch zu ersten Mal, sagte er sich. Wann hat ein normaler Mensch mit einer Entführung zu tun? Vielleicht ließen sie ja mit sich reden, wenn sie ihm glaubten, dass er außer der Originalspeicherkarte keine Kopie besaß.
Und wenn sie Dennis gar nicht mitbrachten? Was ist, wenn sie ihn nur mit ihm telefonieren ließen? Verdammt! Schoss es ihm durch den Kopf. Ich breche ihnen alle Knochen, wenn sie Dennis etwas tun.
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